148. Kapitel – Die Fahrradkette

Ein verregnetes, kaltes Osterwochenende hat Anatols Laune auf den Nullpunkt sinken lassen.

Zeternd und schimpfend ist er in der Küche verschwunden, nachdem ich die alljährliche Ostereiersuche im Park wegen Dauerregens abgesagt und mich dann auch noch ins Büro verabschiedet hatte, um dort endlich mehrere liegengebliebene Akten zu ordnen und wegzuräumen.

Gegen 17 Uhr – pünktlich zum Tee – erscheine ich wieder zu Hause, in der Hoffnung, eine gemütliche Teestunde mit den Sauriern zu verbringen.

Anatol sitzt indessen griesgrämig am Schreibtisch – in die Monatsabrechnung vertieft. Elie hat sich mit seinem Buch – „Kapitän Bontekoes Schiffsjungen“ – in sein Nestchen verkrochen und schmökert. „Ist gerade ganz spannend!“ ruft er. „Ich will keinen Tee – muss weiterlesen!“

Ich setze das Teewasser auf und stelle die Tassen auf den Tisch. „Gibt es denn keinen Kuchen …?“ frage ich Anatol, meine Enttäuschung kaum verbergend.

„Nein, es gibt keinen Kuchen!“ pampt mich der Saurier an. „Ich habe auch noch anderes zu tun, als Kuchen zu backen und den Haushalt zu führen! Deine Monatsabrechnung ist diesmal eine einzige Katastrophe. Für die werde ich noch bis heute abend brauchen! Ist es denn zu fassen – Du hast diesen Monat nicht eine, auch nicht zwei, sondern gleich drei – in Worten: DREI! – neue Jeans gekauft! Wie geht das eigentlich mit Deinem angeblichen Minimalismus zusammen?“

Wutschnaubend vertieft sich das Untier wieder in Kassenzettel, Quittungen und Kontoauszüge – und unterstreicht seine Rage durch penetrantes Rascheln in dem Papierberg.

Ein wenig beschämt sehe ich an mir herunter und betrachte meine wunderschöne neue Jeans. Sie sieht nicht nur großartig aus, sie passt auch vorzüglich. Nichts engt ein, nichts kneift. Eine Offenbarung, nachdem ich meine geliebten alten Jeans nur noch unter Qualen und massiver Kraftaufwendung hatte anziehen und zumachen können – von Wagnissen wie sich damit hinzusetzen ganz zu schweigen.

Ich setze zur Gegenwehr an. „Du bist schuld, Anatol! Wenn Du nicht ständig diese fettigen Bratkartoffeln … “ hier werde ich werde unterbrochen: der Saurier stößt einen Wutschrei aus.

„Ja ist es denn zu fassen?“ poltert er los. „Du hast schon wieder eine neue Fahrradkette aufziehen lassen!? Die letzte war doch erst im Oktober! Das ist einfach nicht möglich – drei Fahrradketten in nicht mal anderthalb Jahren!“

Anatol hat den Kassenzettel des Fahrradladens entdeckt.

Ich hatte mich selbst gewundert, dass die Fahrradkette schon wieder hatte gewechselt werden müssen. Am Samstag war ich mit dem Fahrrad in der Stadt gewesen und hatte es bei dieser Gelegenheit bei der Radwerkstatt vorbeigebracht. Seit einiger Zeit war mir nämlich aufgefallen, dass in manchen Gängen die Kette (oder der Zahnkranz? das war schwer auszumachen…) etwas durchrutschte. Um keinen größeren Schaden zu erleiden hatte ich das Rad lieber dem Spezialisten gezeigt und ihm das Problem beschrieben.

Der Reparateur war kategorisch gewesen: laut Verschleißlehre sei die Kette abgenutzt und müsse ausgetauscht werden. Seufzend hatte ich der Reparatur zugestimmt und war 15 Minuten später mit einem neu beketteten, geölten und perfekt aufgepumpten Rad fröhlich pfeifend direkt zum Jeansladen weitergefahren.

Die dabei produzierten Kassenzettel hatte das Untier nun in meinem Portemonnaie entdeckt – gehört doch die monatliche Abrechnung zu seinen Aufgaben.

„Wenn Du mir jetzt weismachen willst, die Kette sei auch durch meine „fettigen Bratkartoffeln“ abgenutzt worden, werde ich wütend!“ zischt der Butler giftig.

Nun pfeift zum Glück der Wasserkessel – ich eile in die Küche und brühe den Tee auf.

Dann erkläre ich dem Saurier mit Nachdruck, dass sowohl der Jeanskauf als auch die Reparatur der Fahrradkette unabdingbare Investitionen gewesen seien und dass ich darüber nun weiter nicht diskutieren werde. Allerdings schlage ich dem Butler vor, wegen der Fahrradkette im Radforum nachzulesen – dort fände sich vielleicht eine Lösung? In der Tat erfreut mich die Aussicht auf einen halbjährlichen Kettenwechsel nicht. Das Kettenproblem muss gelöst werden.

Anatol lässt die Monatsabrechnung auf dem Schreibtisch liegen und setzt sich zu mir an den Teetisch. Obwohl ich das normalerweise nicht dulde, knipst er das Laptop an und sucht die Webseite des Radforums. Da seine geradezu unterirdische Laune sich nun zumindest etwas hebt, lasse ich ihn diesmal gewähren.

Nachdem eine kurze Suche nach „Kettenwechsel“ und „Kettenabnutzung“ nicht erfolgreich ist, entschließt sich Anatol, ein neues Thema zu erstellen und die Frage des ständigen Kettenverschleißes direkt an die Spezialisten zu richten. Da ich bereits im Radforum Mitglied bin, kann Anatol problemlos unter meinem Pseudonym posten.

Dann genießen wir endlich in Frieden unseren Tee.

Als ich noch einmal zum Teeaufbrühen in die Küche gehe, wirft Anatol einen Blick in das Radforum. Ob wohl schon jemand auf seine Frage geantwortet hat? Aufgeregt rutscht der Saurier auf seinem Stuhl herum. „Da steht was!“ ruft er in die Küche. „Es hat jemand geantwortet!“

Gespannt gieße ich das kochende Wasser in die Teekanne, als ein markerschütternder Wutschrei aus dem Wohnzimmer ertönt. Ich lasse beinahe den Wasserkessel fallen und verschütte das restliche heisse Wasser – glücklicherweise nur über die Küchenanrichte. Fluchend suche ich nach einem Lappen. Es ist glimpflich ausgegangen – ich hätte mich selbst oder einen der Saurier, hätte er auf der Anrichte gestanden, böse verbrühen können. Ich wische die Überschwemmung auf und kehre mitsamt der Teekanne zu einem tobenden Anatol ins Teezimmer zurück.

„Bist Du von allen guten Geistern verlassen, Anatol? Was soll das Gebrüll?“

Anatol antwortet nicht. Voller Wut tippt er auf die Tastatur ein. Da ich nichts Gutes ahne, drücke ich ungerührt den „Aus“-Knopf. Mit einem melodiösen Summen verabschiedet sich der Laptop in den Ruhezustand.

Ein lauter Fluch des Sauriers ist die Antwort. „Jetzt ist mein Beitrag weg! Dabei muss ich darauf reagieren, was der da geschrieben hat! Das glaubst Du nicht!“ Anatol springt aufs Laptop und versucht, das Gerät wieder zum Laufen zu bringen. Ich nehme den Computer an mich und stelle ihn auf den Schrank.

„Schluss jetzt damit. Hat jemand unser Fahrrad wieder als alten Schrott bezeichnet? Das kennst Du doch schon. Darüber braucht man sich nicht aufzuregen.“

„Nein! Das war es nicht. Der hat geschrieben, meine Frage sei wieder mal typisch Frau und unverständlich! Männer könnten kurz und knapp das Problem beschreiben, bei Frauen müsse man das erahnen! Den nehm ich mir vor! Erstens ist das total frauenfeindlich! Und zweitens bin ich keine Frau! Ich kann technische Zusammenhänge erklären!“

Mit einer spitzen Bemerkung mache ich Anatol auf den leichten Widerspruch des eben Gesagten aufmerksam. Anatol wird puterrot und murmelt etwas von „nicht so gemeint!“.

Dann kommt die Wut wieder durch: „Dem erzähl ich was!“

Da Anatol unter meinem Pseudonym geschrieben hatte, mussten die Forenmitglieder fälschlicherweise glauben, hier schreibe eine Frau. Dass dies kein Grund für Macho-Bemerkungen ist, versteht sich von selbst. Leider ist das Miteinander im Internet nicht immer so, wie man es gern hätte.

Ich erkläre Anatol, dass – wie er ja bereits aus dem Woodworkerforum wisse – der Umgangston in manchen Foren sehr rauh sei. Dass das Beste immer noch sei, darauf nicht einzugehen. Schließlich stünde man über derlei Gerede.

Indessen hat es weitere Kommentare gegeben, darunter auch sehr hilfreiche für unser Problem. Ein freundlicher und kompetenter Fahrradkenner schreibt, dass Radlerinnen oft geduldiger und genauer die aufgetretenen Probleme schildern. Hier atmet Anatol auf!

Als Quintessenz ergibt sich, dass wir nun häufiger die Kette werden schmieren und pflegen müssen, und zwar mit Trockenschmierstoff – nicht mit dünnem Nähmaschinenöl.

Da sich die Saurier ihre perfekt manikürten Plüschpfoten nicht mit Kettenfett beschmutzen wollen, wird dies wohl meine Aufgabe sein.

147. Kapitel – Müllsheriff Anatol

Kratz kratz kratz macht mein Teelöffel im Joghurtbecher. Genüßlich schabe ich die letzten Reste meines geliebten Sojajoghurts aus dem kleinen Plastikgefäß heraus, stopfe das Aluminiumdeckelchen hinein und werfe es – zack – in die an der Küchentürenklinke hängende Plastikmülltüte. Dort verschwindet es mit einem Rascheln zwischen den dort bereits wartenden Müllgenossen: weiteren Plastikbecherchen, Mandarinenschalen, Katzenfutterresten und ähnlichen feinen Dingen. In Frankreich gibt es keine Mülltrennung für Bioabfall.

Anatol hat mich bisher vom Herd aus, wo er das Curry für den morgigen Tag zubereitet, stumm beobachtet. Nun schüttelt er mißbilligend den Kopf. „Damit ist jetzt Schluß!“ zetert er los.

Erschrocken lasse ich meinen Teelöffel, den ich soeben in die Spülmaschine hatte einräumen wollen, auf den Fliesenboden fallen. Klirrend springt er durch die Küche und kommt unter der Spülmaschine zum Liegen.

„Soll ich jetzt etwa auch kein Joghurt mehr essen?“ frage ich entsetzt – und ein wenig wütend. „Noch weniger kann ich nicht essen!“ Ich versuche gerade – erfolglos – drei sehr anhängliche Kilos, die das Tragen meiner Lieblingsjeans zur Tortur werden lassen, loszuwerden. Aber nun auch kein Joghurt mehr?

„Nein, das meine ich nicht.“ seufzt Anatol. „Ich meine den Müll. Gestern habe ich in der TAZ gelesen, dass im pazifischen Ozean eine Fläche aus Plastikmüll herumschwimmt, die so groß wie Europa ist! Ein Kontinent aus Müll! Stell Dir das mal vor!“

Elie hüpft vom Regal herunter und kommt in die Küche. „Ja, das haben wir auch in der Schule gelernt. Das Schlimmste daran ist, dass die Tiere unseren Müll fressen und daran sterben. Oder sich in den Plastikresten verheddern und sich verletzen. Ich kann das nicht ertragen, nur daran zu denken!“

Ich schlucke. Von dem Plastikkontinent hatte ich auch schon gelesen, hatte diesen jedoch nach anfänglicher Entrüstung erfolgreich verdrängen können. Nun holt Anatol den Müllberg wieder aus den Tiefen meines beschämten Unterbewusstseins hervor.

Es ist klar, dass zumindest die kleinen Schritte, die wir gehen können, um die Plastikmisere abzumildern, getan werden müssen.

„Was schlägst Du denn vor, Anatol? Kein Joghurt mehr? Keine Mülltüten mehr? Jede Apfelschale einzeln unten in die Mülltonne? Wir fliegen dann bald achtkantig hier raus, das weisst du, nicht?“

„Ich habe schon darüber nachgedacht. Du sollst Dein Joghurt ja haben! Aber von heute an mache ich das Joghurt selbst. Dann sparen wir zumindest diese Plastkjoghurtbecher ein. Für die Mülltüten habe ich noch keine Lösung. Ich arbeite daran. Die Klarsichtfolie wird reduziert – und Plastikflaschen ebenfalls. Es muss sich einfach etwas ändern!“

Ich bin beeindruckt. Joghurt selber machen! Wie soll das denn gehen? Dazu braucht man eine Joghurtmaschine – aber neue Elektrogeräte werden nicht mehr angeschafft. Kategorisch widerspreche ich!

„Papperlappapp!“ kontert Anatol. „Ich mache Joghurt ohne jede Maschine! Du wirst schon sehen.“

Der Saurier öffnet eine Seite im Browser, die er sich offenbar als Lesezeichen bereits eingerichtet hat. Experiment Selbstversorgung heisst es da, und „Sojajoghurt selber machen“.

Das Rezept ist einfach: ein kleines Joghurt wird in 45°C warme Sojamilch eingerührt und dann mehrere Stunden warm gestellt. Bei uns geschieht das auf der warmen Heizung.

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Nach 7 Stunden ist das Milch-Joghurt-Gemisch zu einer gallertartigen Masse geworden, die Anatol schnurstracks in den Kühlschrank stellt.

Probieren darf ich das Joghurt erst heute Abend. Ich bin sehr gespannt. Dann fällt mir etwas ein.

„Anatol, wenn wir aus der Sojamilch jetzt unser Joghurt herstellen, dann brauchen wir ja mehr Sojamilch als vorher, nicht wahr?“

Der Saurier nickt. „Das ist ja logisch. Anstelle von 1l Sojamilch pro Woche werden wir so etwa 2l brauchen. Aber die kostet ja nicht viel.“

Nein, sie ist nicht teuer, unsere Sojamilch. Aber sie kommt im Tetrapack.

Anatol sieht mich grimmig an. „Warum musst Du jetzt sowas sagen?“ zetert er. Dann denkt er kurz nach.

„Ich werde eben auch die Sojamilch selber machen. Wie, weiss ich noch nicht. Aber das muss doch zu schaffen sein …“

Dann vertieft er sich ins Internet. Ich bin sicher, er findet eine Lösung!

Ich koste jetzt unser erstes selbstgemachtes Joghurt. Es schmeckt großartig!

146. Kapitel – Pelle der Luchs zieht um

Ein trister, wolkenverhangener Januarsonntag ist verstrichen. Anatol und ich haben uns am späten Nachmittag entschlossen, eine kleine Sonntagsspazierfahrt zu unternehmen und auf dem Rückweg zum 5 o’clock Tea im Café Brant einzukehren.

Elie ist heute bei Mirko – dort versucht er sich davon abzulenken, dass seine geliebte Anna dieses Wochenende Besuch von Angelo hat. Der Überflieger wird Anna vermutlich von seinem Semester in Harvard und seinen Forschungsarbeiten erzählen – damit kann Elie nicht mithalten. Ob die Berichte aus Harvard Anna allerdings wirklich fesseln werden, da sind Anatol und ich uns nicht sicher. Elie fürchtet hingegen die Konkurrenz des Cracks.

Nach einer kurzen Radtour durch die Dämmerung erreichen wir das Café Brant. Alle Tische sind besetzt – geschäftig laufen die Kellner mit ihren Tabletts durch den Saal, servieren Kaffee, Kuchen und verfrühte Apéritifs.

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Da – ein Tisch wird frei. Anatol springt unbemerkt unter Tischen und Stühlen durch das Café und hüpft auf den Tisch. Dann zieht er sich flugs meinen Schal, den er sich vorher geschnappt hatte, über und verschwindet vollständig darunter – der Tisch ist reserviert! Wie oft habe ich dem Untier verboten, dies zu tun – und ihm erklärt, dass derlei Taten von sehr schlechtem Benehmen zeugen! Genutzt hat es nichts… Ich seufze. Dann setze ich mich an den Tisch, insgeheim froh über das eigenmächtige Handeln des Sauriers.

„So etwas gehört sich nicht!“ zische ich dem Übeltäter zu. „Papperlapapp!“ flüstert dieser. „Willst Du noch ewig auf einen Tisch warten? Ich möchte nicht erst in einer Stunde Tee trinken!“

Während ich versuche, dem Kellner klarzumachen, dass ich zwar auf niemand weiteren warte, aber dennoch zwei Tassen für den Darjeeling haben möchte, wühlt der Saurier in meiner Tasche herum. Triumphierend streckt er mir mein Tablet entgegen. „Das habe ich extra eingepackt! Schließlich ist die Geschichte von Pelle, unserem Luchs, immer noch nicht zuende geschrieben. Das kannst Du jetzt tun. Ich trinke derweil den Tee und beobachte Leute. Vielleicht seh ich mir das Café auch mal näher an …!“

Es stimmt: unser Luchs-Abenteuer war unterbrochen worden und wartet immer noch auf seine Auflösung … Ich knipse das Tablett an und beginne zu tippen.

Der Kellner bringt unseren Tee – wir bekommen sogar die erbetenen zwei Tassen. Nun sehe ich, dass Anatol gar nicht mehr unter meinem Schal versteckt auf dem Sessel sitzt, sondern sich heimlich entfernt hat! Etwa drei Tische weiter sehe ich ihn, wie er zwischen den Beinen der Gäste hindurchschlüpft, dem einen oder anderen frech am Hosenbein zupft und sich dann feixend hinter einer buschigen Grünpflanze versteckt. Ich stöhne. Was, wenn das Untier entdeckt wird?

Das Beste ist immer noch, dem Saurier keine Aufmerksamkeit zu schenken. Er wird – so hoffe ich – seine Frechheiten beenden, sobald ich mich in meine Luchs-Geschichte vertieft habe. Ein anderes Publikum als mich hat das Tier ja nicht – will es doch von niemandem bemerkt werden.

Nun vertiefe ich mich in die Geschichte von Pelle, dem Luchs weiterlesen

145. Kapitel – Omas Bratkartoffelpfanne

Wie Anatol fast einen Küchenbrand legt und eine alte Erinnerung an meine Großeltern zum Leben erweckt …

Nachdem Anatol sich dem mit gehöriger Verspätung eingetroffenen Weihnachtsgeschenk in der Abgeschiedenheit seiner Küche hatte widmen wollen, war ich in die Stadt gefahren.

Manchmal muss man den Saurier allein werkeln lassen – er kann sonst unangenehm werden und regelrechte verbale Hiebe austeilen.

Nach einem Besuch bei einer Freundin, einem gemeinsamen Stadtbummel und dem obligatorischen Crêpe mit Zucker und Zimt fahre ich zurück nach Hause.

Es ist Abend geworden. Die über die Straße gespannten Laternen beginnen, ihr fahles Licht über das Viertel zu werfen. Kein einziger Sonnenstrahl ist heute durch die dichte graue Wolkendecke gefallen – fast erscheint das Aufleuchten der Straßenlampen wie ein verspäteter Sonnenaufgang.

Ich stelle mein Rad im Fahrradschuppen ab, sehe in den glücklicherweise leer gebliebenen Briefkasten und steige gedankenverloren die Treppe hinauf.

Im dritten Stock fällt mir ein starker Rauchgeruch auf – die Nachbarn haben offenbar etwas anbrennen lassen. Während ich noch meinem innerlichen Bedauern über das verkorkste Abendessen der guten Leute nachhänge, erreiche ich unsere Etagentür – und erstarre.

Aus dem Türrahmen dringen dunkle Rauchschwaden ins Treppenhaus. Die Tür ist von Dunst umsäumt – fast unwirklich erscheint das Bild! Träume ich?

Nun dringen Stimmen – und Husten – durch die Tür. Schlagartig erwache ich aus meinen Träumereien – es brennt!

Saurier und Katzen befinden sich in dem Appartment – was ist zu tun? Reflexartig – und brandwehrtechnisch vollkommen regelwidrig ! – öffne ich die Tür. Ich bin augenblicklich von dichtem Qualm umgeben.

„Anatol! Elie!!“ rufe ich verzweifelt.

In diesem Moment setzt ein ohrenbetäubendes Schrillen ein: der Feuermelder ist angesprungen.

Ich stürze in die Küche, wo sich die Rauchquelle zu befinden scheint. Wie durch dichte Nebelschwaden sehe ich nun schemenhaft den Saurier, am Herd stehend und seelenruhig in einer Pfanne mit vollständig verkohltem Inhalt herumstochernd.

Flammen entdecke ich nirgends.

„Elie, mach endlich das Fenster auf!“ brüllt der Saurier, der mich durch den Qualm noch gar nicht gesehen hat – sogar den Rauchmelder übertönend. „Sonst haben wir hier gleich die Feuerwehr!“

Ich stürze ans Küchenfenster und reisse es auf. Dann greife ich nach der Trittleiter, steige hinauf und drücke auf den Knopf, der den gellenden Alarm des Rauchmelder beendet.

Mit einem Satz bin ich am Herd und herrsche den Butler an: „Was geht hier vor? Willst Du das Haus abfackeln?“

Empört sieht Anatol mich an. „Abfackeln? Das Haus? Natürlich nicht! Ich brenne gerade unsere neue Pfanne ein.“

Dann wendet er sich wieder hingebungsvoll den kohlrabenschwarzen Resten in der Pfanne zu und knurrt kopfschüttelnd „Null Ahnung von Bratpfannen – pfffffff…“

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Der Qualm hat mittlerweile den Raum durch das weit geöffnete Fenster verlassen.

Eine Gefahr für die Bewohner des Hauses habe zu keinem Zeitpunkt bestanden, behauptet der Saurier – ich bin hier allerdings anderer Ansicht und bringe dies auch lautstark zum Ausdruck.

Was die Räucherangelegenheit solle, frage ich den Butler nun wütend!

Etwas kleinlaut meint Anatol, es habe eigentlich eine Überraschung sein sollen. Ich schnaube grimmig. Eine schöne Überraschung!

Nun folgen Erklärungen des Sauriers. Er habe vor ein paar Tagen im Internet eine wunderschöne, handgeschmiedete Eisenpfanne gefunden. Nur mit einer solchen sei es möglich, Bratkartoffeln, die diesen Namen auch verdienten, zu braten. In den neumodischen beschichteten Pfannen könne man keine Bratkartoffeln zubereiten. Zumindest keine guten!

Daher habe er die Pfanne gekauft und sich zusenden lassen. Heute sei das ersehnte Stück endlich angekommen! Eine Eisenpfanne der Firma Turk, aus einem einzigen Stück Eisen von Hand geschmiedet – wie bereits vor hunderten von Jahren!

Verliebt sieht der Saurier auf sein Goldstück, die neue Pfanne, in der brikettähnliche Hinterlassenschaften rauchen.

„Ich hoffe mal, dass DAS DA nicht die von Dir erwähnten besten Bratkartoffeln sind!“ bemerke ich ironisch.

DAS DA sind die zum Einbrennen der Pfanne notwendigen Kartoffelschalen. Sie werden mit Salz und Öl so lange geschmort, bis sie ganz schwarz sind. So wird die Pfanne eingebraten. Das wird schon seit Jahrhunderten so gemacht – was Dir offensichtlich vollkommen unbekannt ist!“ klärt mich das Tier auf. „Die Schalen werden, sobald sie abgekühlt sind, weggeworfen. Und dann brate ich Dir in der Eisenpfanne die besten Bratkartoffeln, die Du je gegessen hast. Die von Deiner Großmutter ausgenommen. Die waren genau so gut.“

Ich stutze. Omas Bratkartoffeln … oh ja, die waren großartig …

Mit einem Schlag ist die Erinnerung da: an die uralte schwarze Pfanne, die in Omas Küchenanrichte aufbewahrt wurde, wenn sie nicht gerade im unermüdlichen Einsatz auf dem hochbetagten Gasherd war, um die köstlichsten Gerichte hervorzubringen, die ich je gegessen habe…

Ich ergreife die neue Pfanne, entferne die kohlschwarzen Kartoffelschalen und sehe das Stück schmiedeeiserner Handwerkskunst näher an. War es möglich? Es war tatsächlich die gleiche Pfanne, das gleiche Modell, wie jenes, das von meiner Großmutter Jahrzehnte lang verwendet worden war.

Bewegt setze ich mich auf unsere Trittleiter. „Anatol, das ist wirklich Omas Pfanne … ich freue mich sehr darüber. Aber nie wieder machst Du solche Einbrennaktionen alleine!“

Anatol verspricht dies hoch und heilig.

Dann verkündet er, Elie habe jedes Stadium des Einbratens mit dem Photoapparat festgehalten. Hier die Bilder:

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Die Pfanne ist ausgepackt.

 

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Anatol studiert die Gebrauchsanleitung.

 

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Nachdem er die Pfanne mit Waschmittel (so schreibt es die Anleitung des Herstellers vor) gut gereinigt und abgetrocknet hat, erhitzt Anatol etwas Sonnenblumenöl darin.

 

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Nun gibt Anatol die Kartoffelschalen hinzu, und eine Handvoll Salz.

 

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Die Kartoffelschalen und das Salz werden in dem Öl so lange gebraten, bis sie ganz dunkel sind. Dabei entsteht sehr viel Rauch! Anatol hat einen Pfannendeckel bereitgelegt, falls das Öl Feuer fangen sollte. Brennendes Öl darf man NIEMALS mit Wasser zu löschen versuchen – eine Explosion wäre die Folge. Die Pfanne muss, falls der Inhalt Feuer fangen sollte, sofort mit dem Deckel zugedeckt werden.

 

Sobald die Schalen dunkel genug sind, nimmt Anatol die Pfanne vom Feuer. Sie darf nun abkühlen. Den Inhalt der Pfanne wirft Anatol weg – jetzt sieht die Pfanne so aus:

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Anatol reinigt die zugegebenermaßen reichlich verkohlte Pfanne nur mit heissem Wasser und einer Spülbürste (ohne Spülmittel!) und trocknet sie gut ab:

Die Pfanne ist einsatzbereit.

Anatol setzt sie wieder auf die Kochplatte, stellt diese auf mittlere Hitze, gibt etwas Öl in die Pfanne und schneidet die Kartoffeln in Würfel:

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Als das Öl heiss ist, wirft Anatol die Kartoffelstückchen in die Pfanne, dass es nur so zischt! Eine spritzfreie Angelegenheit ist dies nicht – aber Anatol ist ja für die Säuberung der Küche zuständig. Zum Glück!

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Ich bin nun gespannt. Meine Erfahrung mit unbeschichteten Pfannen ist diese: alles darin Zubereitete backt augenblicklich wie mit Sekundenkleber angeleimt in der Pfanne fest und lässt sich nur mit brachialer Gewalt und unter Zuhilfenahme von Schaber, Spachtel oder gar Meißel herauskratzen. Der dabei zustandegekommene angebratene Brei ist zumeist kein kulinarischer Genuss.

Nicht so bei der von Anatol eingebrannten neuen Pfanne. Die Kartoffelstücke lassen sich mit dem Spatel in der Pfanne verschieben und wenden, als wäre diese weltraumbeschichtet.

Anatol kratzt sich am Kopf. „Ich bin etwas verblüfft. Ich hatte damit gerechnet, dass die Pfanne gut ist… aber dass darin schon beim ersten Braten gar nichts anbackt – das hatte ich nicht gedacht. Ist die Pfanne vielleicht doch beschichtet?“

Die unebene, eiserne Oberfläche der Pfanne spricht eine klare Sprache: hier ist nichts beschichtet. Die Pfanne ist perfekt eingebrannt.

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Die Bratkartoffeln sind fertig. Anatol serviert sie in einem kleinen Schälchen, damit sie nicht so schnell kalt werden.

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Dann knurrt er mich giftig an: „Das sind meine! Ich muss sie erst mal probieren.“ Der verklärte Blick des Sauriers kurze Zeit später spricht Bände!

Ich darf nun meinerseits die deliziösen Bratkartoffeln kosten.

Für einen kurzen Moment bin ich wieder in der alten Gütersloher Wohnung meiner Großeltern. Ich sitze an dem winzigen Küchentisch vor dem Fenster, an dem man nur Platz findet, wenn man noch nicht ganz drei Jahre alt ist und nicht mit den Erwachsenen ißt … an diesem Tisch schält Oma Kartoffeln und lässt mich alles, was sie schon für mich zubereitet hat, schnabulieren. An eben diesem Tisch sitze ich auch gemeinsam mit Oma, als plötzlich das Licht ausgeht. Wir sitzen im Dunkeln – ich habe Angst… aber Oma hat schnell eine Kerze und Streichhölzer zur Hand – Kartoffeln kann man schließlich auch bei Kerzenschein schälen! Mutig wage ich mich an Opas Hand in den Hausflur, zum Sicherungskasten … hier gelingt es Opa heldenhaft, die Sicherungen an Ort und Stelle zu bringen – wir haben wieder Licht. Es ist das letzte Mal, dass ich meinen Opa sehen werde.

Anatols neue Pfanne hat die Erinnerung lebendig werden lassen. Sie wird mich immer begleiten.

 

144. Kapitel – Prost Neujahr !

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Photo Martin Schlobach – CC BY-NC 3.0 DE

 

Anatol, Elie und ich wünschen allen unseren Lesern ein glückliches, erfülltes neues Jahr voller Inspiration und Lebenslust !

Nach einer längeren Advents- und Weihnachtspause sind wir zurück. Anatol hat bereits mehrfach – nicht ohne vorwurfsvollen Unterton – angemerkt, dass man einen Blog nicht so lange ruhen lassen dürfe. Dass niemand mehr hier lesen wolle, wenn es keine neuen Geschichten gäbe! Und dass er und Elie schlicht und einfach in Vergessenheit geraten würden, wenn ich mich nicht endlich dazu bequemen würde, etwas zu schreiben!

Was für eine schreckliche Vorstellung: dem Vergessen anheimgefallene Haussaurier… für so etwas will ich natürlich nicht verantwortlich sein.

Ich nehme also heute, am letzten Tag des Jahres 2015, meine Feder – äh nein, meine Tastatur! – zur Hand, um ein paar Zeilen aufs virtuelle Papier zu bringen.

Was gibt es von den Sauriern zu berichten? Nachdem wir ruhige, angenehm zurückgezogene Weihnachtstage verlebt haben, umgibt sich Anatol in den letzten Tagen mit einer Aura der Geheimniskrämerei. Sobald er am Vormittag die Haustür klappen hört, rennt er die Treppe hinunter – offenbar, um den Briefträger abzupassen.

Was kann das heissen? Auf ein verspätetes Weihnachtsgeschenk wird der Saurier wohl nicht warten – oder etwa doch?

Elie, den ich hierzu befrage, zuckt mit den Schultern. Er kann sich auf das seltsame Gebaren des Butlers ebenfalls keinen Reim machen.

Allerdings sei ihm dieses auch herzlich gleichgültig. Seit vor wenigen Tagen der berüchtigte Angelo, Elies Nebenbuhler, von seinem Harvard-Auslandssemester zurückgekehrt ist, hat Elie nichts anderes im Kopf, als darüber nachzusinnen, wie er Angelo bei Anna, seiner Angebeteten ausstechen könne … Dies gestaltet sich jedoch schwierig: Angelo ist – oder scheint zumindest – höchstbegabt. Es wird gemunkelt, dass er sich bereits jetzt auf die zu erwartende Verleihung des Nobelpreises (welcher ist noch unklar – warum nicht gleich mehrere?) vorbereite…

Während ich noch darüber rätsele, wie der Überflieger Angelo erst nicht nur zum Klassenbesten, dann zum Mobber und schließlich zum Harvardabsolventen und Nobelpreisanwärter werden konnte, springt Anatol mit Getöse die Treppe herauf – immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

Atemlos stößt er die Etagentür auf, ein großes Paket unter dem Arm. „Sie ist da!“ ruft er jubilierend.

Dann verschwindet er wortlos in der Küche, klappt die Tür zu und ordnet mit Stentorstimme an:

„Ich will nicht gestört werden!“

… zur Fortsetzung!

142. Kapitel – Wer hat Angst vor Kater Paul? Eine Parabel

Seit Jahren, fast Jahrzehnten gehört er zu unserem Viertel: der stattliche schwarze Kater Paul. Ursprünglich von den Nachbarn schräg gegenüber angeschafft – sie leben schon lange nicht mehr hier – hat er nun seine Bleibe am Mehlspeicher unserer Bäckerei gefunden, den er seither sehr erfolgreich gegen Ungeziefer jeglicher Art verteidigt: Pauls Spezialität ist die Mäusejagd.

In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass Paul oft auf seiner Decke in der Sonne liegt. Er ist seltener in der Dämmerung auf Mäusefang zu sehen – dennoch bringt er immer noch eine beachtliche Anzahl Mäuse zu Strecke, wie mir die Bäckersfrau erzählt.

Der Bäcker hingegen findet, Paul sei faul geworden: er schlafe bald mehr als dass er jage. Er werde ihm daher die Decke wegnehmen – wenn er es weniger bequem habe, werde er schon öfter jagen gehen. Als ich lautstark protestiere, wiegelt der Bäcker ab: das sei selbstverständlich nur ein Scherz gewesen.

Ein paar Tage später ist die Decke indessen verschwunden.

Auf meine Anweisung hin legen Anatol und Elie unauffällig ein weiches Kissen neben den Speicher – in der Hoffnung, dass Paul es finden und auch nutzen werde. Ein Schälchen Katzenmilch lassen die beiden auch da, denn diese liebt der alte Kater.

Am Mittag kommen die Butler aufgewühlt nach Hause. „Paul soll weg!“ rufen sie mir entsetzt bereits auf der Treppe entgegen. „Die Bäckersfrau hat es gesagt, als wir eben dort Bonbons gekauft haben! Ihr Mann sei nicht umzustimmen. Paul sei ja auch gar nicht ihr Kater, eigentlich…“

Elie weint. „Können wir Paul nicht aufnehmen?“

Ich seufze und schüttle den Kopf. Die Katzendichte in unserer Wohnung hat jedes vernünftige Maß längst überschritten, und Auslauf in einem eigenen Garten können wir dem alten Paul auch nicht bieten.

Ich verspreche den Sauriern, gleich nach der Mittagspause zur Bäckerei zu gehen und alles zu versuchen, um Paul ein weiteres Leben im Viertel zu ermöglichen. Ein gutes Gefühl habe ich aber nicht.

Das Gespräch mit dem Bäcker gestaltet sich in der Tat unschön. Der sonst so zuvorkommende Händler macht mir unmissverständlich klar, dass es für Paul in seinem Mehlspeicher keine weitere Zukunft gebe.

„Ich brauche einen dynamischen Mäusefänger, keinen Schläfer von vorgestern!“ erklärt er unumwunden. Als ich bemerke, dass Paul – obwohl mindestens 15 Jahre alt – immer noch eine hohe Mäusefang-Quote aufweise, beendet der Bäcker das Gespräch mit einer kategorischen Handbewegung. „Die Entscheidung ist gefällt. Paul kommt auf den Reiterhof am Park. Dort bekommt er – so wollte es meine Frau – das Gnadenbrot und darf im Stroh bei den Pferden schlafen.“

Auf meinen fassungslosen Blick hin setzt der Bäcker nach, andernorts hätte man sich nicht so viel Sorgen um das weitere Wohl des Katers gemacht und ihn schlicht weggejagt. Ich verlasse wortlos die Bäckerei. Unser Brot werden wir in Zukunft nicht mehr hier kaufen.

Als ich in unsere Straße einbiege, sehe ich Paul – gut versteckt unter einem Busch – zusammengeringelt auf unserem Kissen liegen. Er ist alt geworden, etwas struppig sein Fell. Dennoch ist er immer noch ein großartiger Mäusefänger, und ein gern gesehener Bewohner des kleinen Stadtteils. Ohne ihn wird das Viertel ein anderes sein.

Seufzend steige ich die Treppe hoch in unseren vierten Stock. Zu Hause wähle ich als erstes die Nummer des Reiterhofs und bringe in Erfahrung, wie die hauseigenen Katzen dort untergebracht sind – und ob Paul dort überhaupt willkommen ist.

Die Antwort fällt überrascht positiv aus. Es gebe ein Katzenhaus am Reiterhof: die Katzen würden dort nicht nur gefüttert, sondern auch bei Bedarf vom Tierarzt versorgt. Natürlich würden sie nicht im Stroh bei den Pferden schlafen, sondern hätten ihre eigene Katzenunterkunft mit Bettchen und Decken. An Paul sei man sehr interessiert, da ein guter Mäusefänger im Reiterhof dringend benötigt werde. Das einzige, was man Paul nicht bieten könne, sei ein echtes Familienleben – aber das habe er offenbar bisher auch nicht gehabt…

Dass Paul in jedem Haus unseres Viertels sein Zuhause mit ausgiebigen Streicheleinheiten gehabt hatte, erzähle ich der jungen Dame vom Reiterhof nicht. Ich lege auf – wohlwissend, dass der Hof nicht die schlechteste Lösung für Paul ist. Dennoch macht es mich innerlich rasend, dass nach all den Jahren treuer und guter Dienste der alte Kater nun abgeschoben wird, anstatt seinen Lebensabend in Frieden in seinem Zuhause verbringen zu können.

Der Tag von Pauls Umsiedlung kommt schnell. Als hätte der alte Kater es geahnt, sitzt er an diesem Morgen stolz vor der Bäckerei – so als wolle er sich von jedem in Viertel verabschieden. Er steigt freiwillig in das Auto, das ihn zum Reiterhof bringt. Das Kissen, das wir Paul an den Speicher gelegt hatten, geben wir ihm für sein neues Zuhause mit.

Wir nehmen uns vor, Paul dort bald zu besuchen – und uns zu versichern, dass es ihm an nichts fehlt.

Bereits am selben Abend zieht Pauls Nachfolger in den Mehlspeicher ein. Ein junger, roter Kater – offenbar aus einem Vermehrerhaushalt. Nun gut, dafür kann das Tier, welches uns die Bäckerin als „Tino“ vorstellt, nichts.

Tino ist äußerst umtriebig, fängt aber außer einigen Nacktschnecken nichts.

Nachdem der Mehlvorrat im Speicher von Mäusen vernichtet und die Hygienebehörde mehrfach erschienen ist, wird die Bäckerei geschlossen.

An einem Sonntag rufe ich den Reiterhof an, um mich nach Kater Paul zu erkundigen. Ich habe, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte, nicht übers Herz gebracht, Paul zu besuchen. Das junge Mädchen sagt mir, Paul läge wie so oft auf seinem Kissen, draußen in der Sonne. Mäuse gebe es im Reiterhof keine mehr, seit Paul da sei. Ich lasse ihm Streicheleinheiten ausrichten und lege auf.

In der Woche darauf berichtet mir der freundliche Herr, der den Schreibwarenladen führt, Paul komme regelmäßig zu Besuch in unser Viertel – meist am frühen Abend, wenn ich noch bei der Arbeit sei. Deshalb hätte ich Paul wohl nicht gesehen. Er wechsle dann gern ein paar Worte mit Paul und streichle den alten Kater über das struppige Fell.

Aber wie früher sei es nicht mehr.

141. Kapitel – Flüchtlinge willkommen!

Es ist 13 Uhr 30 – ich erwarte meine Saurier in Kürze zum Mittagessen. Im Treppenhaus höre ich Stimmen: das müssen die beiden sein.

Aber halt: anstelle von fröhlichem Schwatzen und Lachen scheint mir, als hörte ich ein leises Weinen – und es wird lauter. Ich öffne die Etagentür und sehe ein Häuflein Elend am Treppenabsatz im dritten Stock.

Es ist Elie – daneben Anatol, der ihn streichelt und verzweifelt zu mir hochschaut.

Schnell laufe ich die Treppe in den dritten Stock hinunter und hebe Elie hoch. Auf meine Frage, ob Angelo ihn wohl wieder geärgert habe, schüttelt er energisch den Kopf. „Nein es war nicht Angelo… Es ist ganz allein meine Schuld!“ Ein weiterer Erklärungsversuch geht in einem Weinkrampf unter – Elie kann nicht weitersprechen.

Ich bringe den verzweifelten Saurier in unsere Wohnung und setze ihn in sein Körbchen. Anatol trägt Elies Schulranzen – halbgeöffnet und etwas schludrig gepackt lässt dieser ein bedrucktes Papier, offenbar einen Aufruf zu irgendeiner Aktion, halb hervorgucken. Ich ziehe den Zettel heraus, überfliege ihn und bin sprachlos.

Keine Zwangsbelegung unserer Turnhalle!“ steht dort in großen, unfreundlichen Lettern. Dann folgt ein Text, der darlegt, man habe zwar nichts gegen Flüchtlinge aus den Krisengebieten – es sei jedoch undenkbar, diese in der schuleigenen Turnhalle unterzubringen. Der Turnunterricht müsse dort weiterhin ungestört abgehalten werden können.

Unterzeichnet ist die Brandschrift von einer nicht namentlich bezeichneten Lehrergruppe und mehreren Schulklassen, darunter auch die 5b – Elies Schulklasse.

Bestürzt sehe ich die Saurier an. „Habt Ihr das wirklich unterschrieben? Dazu habe ich kein Einverständnis gegeben – dass man Euch in der Schule so einen Mist unterzeichnen lässt!“ Ich nehme mir insgeheim vor, ein sehr ernstes Wort mit der Klassenlehrerin zu sprechen.

Anatol schüttelt den Kopf. „Als das bei uns in der Klasse rumging, habe ich nicht unterschrieben. Ein paar andere Schüler übrigens auch nicht – deshalb ist die 8b auch nicht bei den unterzeichnenden Klassen genannt.“

Elie heult laut auf. „Ich Idiot habe es unterschrieben! Aber nicht, weil ich dafür bin! Also – ich bin dagegen, dass man dafür ist! Nein, ich bin dafür, dass man dafür … ach – ich weiss nicht!!“ Seine Stimme erstickt fast im Schluchzen.

Dann fasst er sich und gibt leise und reumütig zu: „Ich hab nicht aufgepasst, als Frau Berger dieses blöde Schreiben erklärt hat. Ich habe immerzu nur an Anna gedacht … sie hat sich gestern mit Angelo getroffen, und heute hat sie mir noch keine einzige Nachricht über Dinotalk geschickt! Ich war so traurig und hab immer mein Handy gecheckt … und da hab ich nur was von „Petition für unsere Turnhalle“ mitgekriegt, und die habe ich wie alle einfach unterschrieben. Irgendwie hab ich gedacht, die soll wohl renoviert werden – was weiss ich …“

Dann fügt er hinzu: „Wenn Anna das erfährt, spricht sie nie wieder mit mir. Sie ist doch in der Amnesty Gruppe, die die Flüchtlinge berät …“ Dann beginnt er wieder zu weinen.

Ich schüttle den Kopf. „Elie, deine Unterschrift hat überhaupt keine Bedeutung. Gleich nach dem Mittagessen rufe ich in der Schule an und lasse sie entfernen. Wie kann Eure Lehrerin Euch so etwas unterzeichnen lassen – ohne mich vorher zu fragen! Das Handy wird ab jetzt morgens konfisziert; das nimmst Du nicht mehr in die Schule mit. Und wie bist Du überhaupt darauf gekommen, was Du da unterschrieben hast? Gelesen hast Du die Petition hinterher sicher nicht – wie ich Dich kenne…“ Elie ist leider manchmal etwas nachlässig mit Schulpapieren.

Anatol berichtet, was nach der Schule vorgefallen war. Auf dem Schulhof sei nach der letzten Stunde nur noch über die Turnhallenpetition gesprochen worden. Schnell hätten sich Lager gebildet – einige Schüler seien sogar handgreiflich geworden.

Zwar sei niemand offen gegen eine Aufnahme der Flüchtlinge gewesen – aber die eigene Turnhalle zur Verfügung zu stellen, dazu sei nur eine Minderheit der Schüler bereit gewesen. Elie habe sich lauthals dafür ausgesprochen, die Turnhalle für die Flüchtlinge einzurichten – schließlich könne man auch draußen im Park oder auf dem Schulhof turnen!

Hier seien Stimmen laut geworden, die Elie darauf hingewiesen hätten, er habe doch soeben die Petition gegen Flüchtlinge in der Halle unterzeichnet – woraufhin Elie verstummt sei. Nun erst sei ihm offenbar aufgegangen, worunter er da seine Unterschrift gesetzt hatte, was die Anwesenden an den ihm entgleitenden Gesichtszügen auch sofort bemerkt hätten. Unter dem hämischen Gelächter der größeren Schüler sei er weinend weggelaufen. So sei ihm auch nicht aufgefallen, dass noch ein paar andere unaufmerksame Klassenkameraden unauffällig das Weite gesucht hätten …

Elie richtet sich schluchzend in seinem Bettchen auf. „Anna hat gesagt, die Leute, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, seien Nazis! Ich will kein Nazi sein! Was genau machen Nazis ? Passen die alle beim Unterschreiben nicht auf…? Oder was?“ Anatol runzelt die Stirn. „Seit vorhin versuche ich, ihm das auszureden. Es hilft nichts!“

Ich beruhige Elie, er sei ganz sicher kein Nazi. Was es damit auf sich hat, werde ich zu einem geeigneteren Zeitpunkt erläutern.

Dann serviere ich das Mittagessen und überlasse es vorerst Anatol, Elie über die Flüchtlingskrise in Syrien aufzuklären:

„Also in Syrien gibt es ein bösen Diktator. Gegen den kämpfen viele Syrer. Leider sind dann noch Bösere dazugekommen. Woher, weiss ich nicht – sie waren plötzlich da, also in den Nachrichten. Sie heissen IS. Die kämpfen auch dort und versuchen, den Menschen in Syrien und in den umliegenden Ländern eine religiöse Diktatur aufzuzwingen. Weshalb, weiss ich nicht. Ich glaube, keiner weiss das. Man erkennt sie daran, dass sie immer schwarz angezogen sind.“

Elie schnieft. „Die kenne ich. Das ist der schwarze Block! Aber was ist eine ‚religiöse Diktatur‘?“

„Nein“, sagt Anatol. „Der schwarze Block, das sind andere. Glaub ich jedenfalls. Und was eine religiöse Diktatur ist, weiss ich nicht so genau. Jedenfalls ist es Mist. Bring mich nicht durcheinander! Also, diese IS-Leute sind sehr brutal. Sie schlagen den Journalisten und anderen Leuten den Kopf ab. Das hat Mirko erzählt, er weiss es aus dem Internet!“

Elie hält sich die Ohren zu und verkriecht sich tief unter der Bettdecke. „Nein!“ schreit er. „Ich will das nicht hören! Das macht mir Angst!“

„Na ja, Du musst ja verstehen, warum die Leute aus Syrien hier herkommen. Stell dir mal vor, hier würden so schwarz gekleidete Typen kommen und uns umbringen wollen. Vor denen würden wir doch auch fliehen, oder?“ Elie nickt. „So wie vor dem schwarzen Dino. Vor dem habe ich nachts immer Angst, falls meine Beine unter der Bettdecke rausgucken. Die packt ja der schwarze Dino sonst – deshalb passe ich immer auf, dass alles unter der Bettdecke ist!“

„Glaub mir, den schwarzen Dino  kannst Du vergessen, verglichen mit IS“ meint Anatol grimmig. „Das hat Mirko jedenfalls gesagt.“ Mirko scheint gut informiert.

Elie schluckt. „Aber wie fliehen die Leute denn? Haben sie ein Auto? Ich weiss gar nicht, wie wir fliehen sollten … wir haben doch nicht einmal ein Auto… mit dem Fahrrad vielleicht? Und was ist, wenn die Leute auch kein Fahrrad haben? Wie transportieren sie ihre Sachen? Mit der Eisenbahn? Sie können doch nicht alles tragen!“

„Sie können nichts mitnehmen“ sagt Anatol. „Sie müssen alles zurücklassen. Viele habe auch Babies… oder Tiere… die müssen sie ja auch mitnehmen – da kann nicht noch Sachen schleppen.“ Sprachlos und entsetzt sieht Elie uns an. „Was ist mit den Teddybären?“

Anatol und ich beruhigen Elie. „Die Teddybären werden alle gerettet. Ganz bestimmt.“

Elie weint dennoch immer lauter. „Was würde denn aus uns, wenn das hier passieren würde? Wer würde uns helfen? Würde man uns auch in einer Turnhalle unterbringen? Wieso überhaupt in einer Turnhalle – da kann man doch gar nicht wohnen… ich würde lieber in eine richtige Wohnung mit einem Bett! Das ist alles schrecklich! Warum geschieht so etwas überhaupt? Gibt es da keine Polizei, die aufpasst?“

Anatol und ich sehen uns hilflos an. Wir haben keine Antwort darauf.

Ich nehme den Telephonhörer zur Hand und wähle die Nummer der Schule. Dort bitte ich um die Entfernung von Elies Unterschrift von der „Petition“ – und erfahre, dass ich nicht die einzige bin, die deswegen anruft. Der gesamte Aufruf sei im Übrigen von der Schulleitung annulliert worden: dies gibt ein wenig Hoffnung.

Elie ist erleichtert. Nachher wird er Anna berichten können, dass er für die Aufnahme von Menschen ist, die vor der Diktatur und dem IS fliehen und bei uns Zuflucht suchen. Nun kennt er ja auch die Hintergründe.

„Warum nehmen wir bei uns eigentlich keine Flüchtlingsfamilie auf?“ fragt Elie.

Das ist eine gute Frage. Warum nicht? Wenn wir ein Gästezimmer hätten, wäre es möglich. Aber wir haben keines. Die Unterbringungsinitiativen, bei denen man sich melden kann, weisen unsere Wohnung als ungeeignet zur Aufnahme von Schutzsuchenden aus.

Elie und Anatol sind enttäuscht. „Können wir denn nichts tun?“ „Doch“, meine ich. „Ihr könnt Euer Taschengeld für die Flüchtlinge spenden. Ich gebe auch etwas dazu.“

Entsetzen spricht aus den Augen der Saurier. „Unser Taschengeld?!“ flüstern sie.

Dann fasst Anatol sich und läuft zum Sparschwein, das gut gefüttert im Spielzeugregal steht. „Ich finde das eine gute Idee!“ ruft er. „Wir haben doch schon alles, was wir brauchen – da können wir ruhig etwas abgeben.“ Elie nickt – auch wenn das heisst, dass er sich das neue Skateboard nicht wird kaufen können. „Das alte fährt ja noch ganz gut!“ versucht er, sich selbst zu überzeugen. Eine kleine Träne läuft ihm dennoch über die Wange, aber die trocknet schnell, als wir die Überweisung für die Flüchtlingshilfe vorbereiten.

Diese Links wollten Anatol und Elie unbedingt auch veröffentlichen:

http://www.aktion-deutschland-hilft.de/de/wir-ueber-uns/

http://www.fluechtlinge-willkommen.de/

http://www.welt.de/politik/deutschland/article143884918/CDU-Politiker-teilt-sein-Zuhause-mit-Fluechtlingen.html

http://www.proasyl.de/de/ueber-uns/foerderverein/mitmachen/

Klicke, um auf Infopapier-Fluechtlinge_privat_aufnehmen-PROASYL-Nov-2014.pdf zuzugreifen

141. Kapitel – Anatol Effendi kocht Mokka

Von Merve haben Anatol und ich echten türkischen Mokka geschenkt bekommen: eine ganze Packung Kurukahveci der Marke Mehmet Efendi.

Diesen heisst es nun so authentisch wie möglich zuzubereiten – denn sonst kommen wir nicht in den Genuß des vollen Aromas der morgenländischen Köstlichkeit.

Als erstes begeben Anatol und ich uns daher auf die Suche nach dem für die Zubereitung des Mokkas unerläßlichen Cezve, eines winzigen Topfes mit langem Stiel, in dem der Mokka traditionell gekocht wird.

Wir werden enttäuscht: weder der orientalische Supermarkt noch der arabische Basar in Strasbourg führen zur Zeit einen Cezve. Sogar das türkische Geschäft in Kehl muss passen: der Cezve sei zwar bestellt und demnächst wieder im Sortiment, wann das genau sei, könne man aber nicht mit Sicherheit vorhersagen.

Anatol und ich beabsichtigen dennoch, allen Widrigkeiten zum Trotz auch in Ermangelung eines Cezve heute einen Mokka zu kochen.

Unser erster Versuch scheitert kläglich – in der Espressokanne. Der türkische Mokka ist fein wie Puderzucker – durch das Sieb der Espressokanne gleitet er in den unteren Teil der Kanne ab, wird von dort aber nicht mit aufgekocht. Das Ergebnis im oberen Teil der Kanne ist eine zart-braune, fast (aber leider nicht ganz) geschmacklose Flüssigkeit – kein Mokka.

Die Espressokanne müssen wir daher als Zubereitungsmittel für unseren Mokka verwerfen… halt: müssen wir das wirklich? Anatol hat eine Idee.

Aber seht selbst:

Der Mokka von Mehmet Efendi!

Der Mokka von Mehmet Efendi!

Diese Dinge können wie beiseite legen.

Diese Dinge können wir beiseite legen.

Unser Behelfs-Cezve

Unser Behelfs-, nein: MINIMALISTEN-Cezve

Ab damit auf die Kochplatte

Ab damit auf die Kochplatte.

Etwas Mokka ins kalte Wasser

Etwas Mokka ins kalte Wasser…

Umrühren

Umrühren…

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Der Mokka muss etwas aufkochen.

Wir rühren gut um, während der Kaffee köchelt

Wir rühren gut um, während der Kaffee köchelt.

Nun etwas Mokka in die Tasse füllen ...

Nun etwas Mokka in die Tasse füllen …

Womit fassen wir den heissen Mokkatopf nur an ...? Zum Glück hat Anatol eine Idee!

Womit fassen wir den heissen Mokkatopf nur an …? Zum Glück hat Anatol eine Idee!

Die Lösung!

Die minimalistisch-pragmatische Lösung!

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Fertig.

Fertig.

Der Mokka ist wohlschmeckend und kann Tote zum Leben erwecken.

Über die genaue Dosierung müssen wir uns noch klar werden.

140. Kapitel – Die Rückkehr

Epilog

Von Waldeck bis Giflitz mit dem Fahrrad, dann in der Eisenbahn über Frankfurt, Mannheim und Karlsruhe bis nach Kehl – so waren wir nach unserem schaurigen Aufenthalt am Edersee wieder zu Hause eingetroffen.

Elie springt die Treppen bis zur Wohnung so schnell hinauf, dass er schon oben angelangt ist, als Anatol und ich noch im zweiten Stock schnaufen.

„Zu Hause ist es am schönsten!“ kräht er durchs ganze Haus. Ich hingegen denke fast ein wenig melancholisch an die verzauberten Momente auf dem Belle-Epoque-Ball. Sind es wirklich alles nur Trugbilder – Ausgeburten der höllischen Phantasie des Wiedergängers – gewesen? So ist es wohl. Betrübt denke ich an den sonnigen Vormittag am Edersee zurück, der so unbeschwert und ganz ohne gespenstische Begebenheiten verstrichen war…

Anatol scheint meine Gedanken zu erraten. „Von Hollow hat uns insgeheim nur genau das gezeigt, was wir sehen wollten. Nichts von alledem war wirklich da – weder das Anwesen, noch die große Buche, noch unser Turmzimmer  – und auch nicht die Menschen auf dem Ball.“ Ich schüttle mich vor Unbehagen. Wie ich hätte dort enden können, wenn meine Saurier nicht so furchtlos und entschlossen gehandelt hätten – ich mag es mir nicht vorstellen.

Wir betreten die Wohnung. Hinter der Tür wartet – erfreulich real – der von den Katzen in unserer Abwesenheit hergerichtete Schweinestall. Streukrümel, Futterreste und Fellbüschel zieren großzügig den Fußboden, das Sofa und unsere anderen Habseligkeiten. Satt, aber sichtlich schlecht gelaunt liegen die Tiere auf meinem Bett und würdigen uns keines Blicks. Es hat ihnen an nichts gefehlt – dennoch muss man sein Missfallen daran zeigen, gleich mehrere Tage nicht die gewohnten Personen um sich gehabt zu haben: dies ist für eine Katze unverzeihlich.

Ganz unaufgefordert machen die Butler sich daran, ein Gemüsecurry aus den im Kühlschrank noch vorhandenen Resten zu köcheln, während ich die von unseren kätzischen Freunden verursachte Sauerei – jedes andere Wort wäre hier gänzlich unpassend – beseitige. Nach einer Stunde ist alles blitzblank und der Curryduft dringt aus der Küche … ein Glücksgefühl durchflutet mich.

„Warum sind wir eigentlich weggefahren?“ fragt Elie. „Zu Hause geht es uns doch am Besten. Hier versucht niemand, uns in irgendwelche Tümpel reinzuziehen! Und damit es bei uns noch schöner wird, haben Anatol und ich gerade beschlossen, ab morgen den Keller und unsere Gerümpelkammer auszuräumen. Alles muss raus! Nicht, dass sich in dem alten Krempel noch irgendwelche Geister einnisten!“

Der nächste Morgen beginnt früh. Anatol ist bereits um 5 Uhr auf – ich höre ihn in der Gerümpelkammer rumoren. Ich wühle mich aus dem Bett heraus, reibe mir die Augen und will mich in die Küche begeben – aber schon stehe ich, nur mit meinem Sommerpyjama bekleidet, auf der Treppe. Die Wohnungstür steht sperrangelweit auf, Anatol wirft Krempel in Größenordnungen auf den Gang, während Elie die Katzen am Entweichen ins Treppenhaus hindert.

Ich vermute, dass die Aufräumorgie eine Art „Gespenstertrauma-Bewältigungsstrategie“ für die Saurier sein muss: in ordentlichen Haushalten lassen sich bestimmt keine Wiedergänger nieder.

Ich gehe ich in die Küche und brühe mir einen starken Kaffee auf. Am Ende des Tages haben die Saurier ganze Kubikmeter Gerümpel aus Kammer und Keller geholt, in den gemieteten Lieferwagen getragen und zu Emmaüs gebracht.

Wir sind nun völlig gespensterfrei.

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139. Kapitel – Der Gasthof am Edersee VI

Eine Reiseerzählung – Teil 6: Die Flucht

„Blick auf den morgendlichen Edersee vom Waldecker Ufer aus“
Photo: Jan Kuchenbecker
Lizenz: CC-by-sa 3.0/de

Zurück zu Teil V

Bang sahen wir – Elie und ich, Anatol, der ich diese Zeilen schreibe – in die Augen der Tigerkatze. Sie war unsere einzige Hoffnung, aus unserem Gefängnis zu entkommen – hatte sie uns doch in die Bibliothek hineingeführt und uns, wenn auch ohne Worte, erklärt, mit welch mächtigen Gegenspieler wir es hier zu tun hatten.

Die Katze erklomm in Windeseile eines der Bücherregale. Fast unter der Decke der Bibliothek angekommen sah sie sich nach uns um. Wir sollten ihr nachkommen – wir kletterten daher so schnell es uns möglich war, ein Regalbrett nach dem anderen, hinan … bis wir in schwindelerregender Höhe das letzte Regalfach erreicht hatten. Nun sah ich, warum die Katze uns hierhin geführt hatte: über dem Regal führte eine winzige Luke nach außen – was bedeutet: an die Außenwand des Anwesens. Ich steckte meinen Kopf aus der Luke und wurde von Schwindel erfasst: hier ging es meterweit an einer glatten Wand in die Tiefe. Ein Abstieg war hier unmöglich.

Über der Luke indessen erspähte ich außen an der Wand eine in das Gemäuer eingelassene eiserne Halterung. Mit dem Mute der Verzweiflung ergriff ich sie und zog mich hoch. Innerlich jubilierend sah ich etwas weiter oben noch eine Halterung, gleichsam eine winzige metallene Trittleiter – an dieser zog ich mich Stück für Stück nach oben, bis ich auf einem balkonartigen Fenstervorsprung im vierten Stock angekommen war. Das Fenster war nur angelehnt – ich konnte also in das Zimmer (es erwies sich als das große Bad unter unserem Turmzimmer) hineinspringen: ich war in Sicherheit. Nein, fiel mir ein: in Sicherheit war ich erst, wenn ich das grauenhafte Spukschloss lebendig hinter mir gelassen hätte – und davon war ich weit entfernt.
Ich lief nach oben in unser Turmzimmer: alle unsere Sachen lagen dort unberührt noch am Platz. Von Hollow hatte hier offenbar nichts verändert – vielleicht war er auch nicht mehr im Turmzimmer gewesen. Der lange Schlüssel steckte im Türschloss: ich entschied, dass es den Versuch wert wäre, ihn an der Tapetentür auszuprobieren. Elie an der metallenen Räuberleiter bis in den vierten Stock klettern zu lassen erschien mir ein zu hohes Risiko – und für die Katze wäre es ganz und gar unmöglich gewesen.

Nach einem vorsichtigen Blick auf die Wendeltreppe – ich legte keinen Wert darauf, von Hollow zu begegnen! – eilte ich hinunter bis an die Tapetentür. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und versuchte, ihn zu drehen – er passte nicht. Vor Verzweiflung hätte ich am liebsten geschrieen – aber das hätte uns verraten. Voller Wut riss ich daher am Schlüssel herum – da platzte das ganze rostige Schloss, welches den kleinen Riegel hielt, ab – und die Tür sprang auf.

Elie und die Katze waren indessen von dem hohen Regal heruntergeklettert und warteten hinter der Tür. Elie wirkte gefasst, wenn auch voller Angst.

Ohne eine weitere Geste sprang die Katze die Treppe hinunter und lief durch die große Tür in den Schlosshof. Wir stürzten ihr hinterher – aber wir kamen zu spät: flugs war die Katze in die alte Buche geklettert und saß nun, sich putzend, auf ihrem Lieblingsast. Von uns nahm sie keine Notiz.

„Elie, die Katze kann uns nicht weiter helfen. Das sagt sie uns gerade. Sie hat uns bis hierher alles gezeigt, was wir brauchen, um uns aus diesem Spuk zu befreien – von jetzt an sind wir auf uns gestellt.“

Elie schluchzte leise auf. „Wir müssen doch Susanne retten! Wie tun wir das bloß?“
Ich erinnerte mich an den Reim, der in dem Märchen vom Müller und seiner Tochter gestanden hatte. Wie lautete er noch?

In Fluten muss sie untergehn
nimmermehr an Lande stehn
Wenn nicht des Buchenwaldes Meisters
verblühte Blumenpracht sie streifet.

Dies war allerdings äußerst unklar. Wer war der „Meister des Buchenwaldes“? Ein Waldgeist vielleicht? Wo fanden wir ihn? Und was sollte man sich unter einer „verblühten Blumenpracht“ vorstellen? Ratlos sahen wir uns an.

Nun kam die Katze doch von ihrer Buche herunter geklettert und gurrte uns zu. Sie sprang vom untersten Ast der Buche in das am Fuße des Baums relativ dicht wachsende Gesträuch und begann, an den Blättern des Strauchs zu knabbern.

Nun sprang Elie aufgeregt auf und ab. „Ich glaub mir fällt was ein! Wir haben das bei Frau Maier in Biologie gelernt, dass der Waldmeister – also die Pflanze, aus der das leckere Eis ist – in Buchenwäldern wächst! Es gibt sogar einen Waldmeister-Buchenwald! Der Reim sagt, wir sollen Waldmeister sammeln!“

Dann fügt er beklommen hinzu: „Aber jetzt im August blüht der Waldmeister nicht mehr. Die Blüte ist Ende Mai, spätestens im Juni vorbei. Hat uns Frau Maier extra gesagt …“

Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Verblühte Blumenpracht – das ist der abgeblühte Waldmeister! Wir müssen eine Waldmeisterpflanze finden, die nicht mehr blüht, und Susanne damit übers Gesicht streichen!“

WaldmeisterAufgeregt gurrend und schnurrend lief nun die Tigerkatze in Richtung Wald – an dem alten Gemäuer vorbei, welches wir bei unserer Ankunft als erstes gesehen hatten und dann in das Dickicht des Waldes. Wir folgten ihr, so gut wir nur konnten. Schließlich standen wir vor einem Meer leicht aromatisch duftender halbhoher Pflanzen – es gab keinen Zweifel: dies war Waldmeister.

Elie und ich pflückten je zwei Handvoll Waldmeisterstengel mit Blättern und dem abgeblühten Blütenstand. Dann rannten wir, so schnell uns unsere Beine trugen, zum Gasthof zurück.

Es war indessen Abend geworden. Langsam breitete die sich Dämmerung über den Schlosshof, dessen bizarre Schatten uns nun mit Grauen erfüllten. Würden wir Susanne wiederfinden? Und wo? Elie meinte, wir sollten uns zur selben Zeit in den Ballsaal begeben, zu der  am gestrigen Tag das Fest stattgefunden habe. Feste wie das von gestern dauerten bisweilen mehrere Tage – darauf müssten wir hoffen.

Dann kletterten wir die steile Klippe hinab bis zum Seeufer und bereiteten unser Fahrrad für eine Flucht – sollte es denn zu einer solchen kommen – vor. Ach, wenn wir doch aus diesem Spukhaus unversehrt und alle miteinander entweichen könnten!

Tatsächlich drangen, als wir uns etwas später wieder dem Schloss näherten, aus dem Ballsaal Musik und Gelächter. Vorsichtig betraten wir den Saal, der heute genau so festlich ausgestattet war wie gestern…

Wo ist Susanne? Bang lassen wir unserer Blicke durch den Saal schweifen – immer auf der Hut vor dem unheimlichen von Hollow, hinter dem wir den Wiedergänger vermuten.
Da! Auf der Tanzfläche erblicken wir Susanne, mit einem der jungen Herren tanzend. Wie nur kommen wir unbemerkt an sie heran – mit unserem Strauß Waldmeister in Händen? Während wir noch überlegen, entfernen sich die beiden Tänzer von der Tanzfläche – der junge Mann scheint auf eine Tür an der anderen Seite des Saals zuzusteuern, seine Tänzerin an der Hand führend …

Es ist nun keine weitere Sekunde zu verlieren. In höchster Aufregung durchqueren wir den Ballsaal und erreichen unser Tänzerpaar, kurz bevor die beiden durch die Tür nach draußen schlüpfen können. In diesem Augenblick hat uns von Hollow, der aber am anderen Ende des Saals sich befindet, entdeckt – voller Wut eilt er ebenfalls auf uns zu!

Elie ruft: „Susanne, geh nicht mit ihm mit! Susanne!!“ Anstatt ihr mit dem Waldmeisterkraut sanft übers Gesicht zu streichen, schlagen, ja peitschen wir mit den Zweigen auf sie ein. Susanne wendet sich von ihrem Tänzer ab, reibt sich das Gesicht … verwundert sieht sie uns an…“

Wie aus einem Traum erwache ich… Vor mir sehe ich den betörenden jungen Mann, der mich offenbar zum Tanz aufgefordert hatte … aus der Ferne höre ich meinen Namen rufen, immer wieder … Der junge Mann wirft mir einen wehmütigen Blick zu, dann scheint er durch die Wand hindurchzutreten – und ist verschwunden.

Nun sehe ich Anatol und Elie vor mir, Zweige in der Hand … was soll das…? Anatol ruft: „Wir müssen hier weg! Lauf!!“ und nun sehe ich einen offenbar in Rage geradezu schäumenden von Hollow auf uns zulaufen. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich keine klare Erinnerung an die letzten 24 Stunden habe und sich mir alles dreht. Drogen – man muss mich unter Drogen gesetzt haben!

Die Saurier ziehen mich mehr aus dem Saal heraus als ich selbst zu laufen vermag – die hintere Tür führt direkt zur Klippe. Der Abgrund scheint mir heute noch steiler und bedrohlicher als sonst – und plötzlich wird mir klar, warum von Hollow uns auf übereilte Abschiede gewisser Gäste hingewiesen hatte, die zu keinem guten Ende gekommen waren…

Die Treppenstufen bröckeln unter unseren Schritten weg, wir rutschen die Treppe mehr herunter als wir sie hinuntersteigen. Als wir auf der Straße angelangt sind, sehen wir von Hollow oben an der Klippe vor Wut brüllend und mit ausgebreiteten Armen wie eine riesige Fledermaus sich hinunter in die Tiefe stürzen! Einen derartigen Fall kann er nicht überleben – mein erster Reflex ist es, zum Treppenabsatz zurückzukehren und mich um den Verletzten zu kümmern.

Anatol schreit mit überschnappender Stimme: „Er ist nicht verletzt, er kommt uns holen! Lauf!!“ Wir rennen wie um unser Leben bis zum Ufer. Dort sehe ich das Fahrrad auf ein kleines Tretboot geschnallt – unser Fluchtfahrzeug? Ich verstehe nicht, was hier los ist, laufe aber durch das flache Wasser bis zum Tretboot, die Saurier im Arm haltend. Dann springe ich ins Boot, steige auf das Rad, welches wunderbarerweise mit der Kurbelmechanik des Bootes verbunden ist und trete, so fest ich kann, in die Pedalen.

In diesem Moment taucht eine dunkle Gestalt aus den Fluten vor dem Boot auf: von Hollow! Die Saurier schreien vor Angst laut auf – ich radle, was das Zeug hält. Der Geist – etwas anderes kann die Erscheinung im Wasser nicht sein! – schickt sich an, das Boot in die Tiefe zu ziehen! Mit aller Kraft versuche ich, dem teuflischen Geschöpf zu entkommen, aber der Bug des Bootes ist bereits von dem Geist unter die Wasseroberfläche gezogen.

Nun besinnen sich die Saurier ihres Waldmeisters – sie zupfen Blätter von den Zweigen und werfen sie ins Wasser um unser Gefährt. Das Gespenst heult laut auf – und verschwindet in den Tiefen des Sees.

Nach Atem ringend und vor Angst zitternd gleiten wir in unserem Gefährt über den nächtlichen See. Die Flucht über das Wasser ist riskant, die Waldwege und die unbefestigte Straße am Ufer war den Sauriern indessen noch gefahrvoller erschienen. Daher hatten sie sich entschlossen, ein Boot als Fluchtfahrzeug klarzumachen.

Nach und nach erzählen sie mir atemlos, was sie in den über 24 Stunden, in denen ich bewusstlos gewesen war, erlebt hatten. Aber war ich wirklich ohne Bewusstsein gewesen? Klare Erinnerungen habe ich keine. Ein vager Eindruck von angeregten Unterhaltungen in angenehmer Gesellschaft, Champagner und Tango bleibt – nicht anders jedoch als an einen verblassenden Traum…

Als wir im Morgengrauen in Waldeck am Steg des Gasthof „Seeblick“ anlegen, fallen uns die Augen zu.

Bevor wir auf den am Strandufer für die Gäste bereitgestellten Liegestühlen einschlafen, um Kraft für den Rückweg nach Hause zu sammeln, sehen wir auf dem hölzernen Landesteg eine kleine braungetigerte Katze stehen, die uns freundlich zublinzelt.

Edmee

Edmée

Ende

138. Kapitel – Der Gasthof am Edersee V

Eine Reiseerzählung – Teil 5: Der Plan

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Die Tapetentür stand nun weit offen. Beklommen ließen wir unsere Blicke durch den dahinter liegenden Raum schweifen. Enttäuschung bemächtigte sich unserer: in dem Zimmer waren ausschließlich Bücher untergebracht: Folianten und Schriftstücke der letzten Jahrhunderte lagerten hier. Wir mussten uns in der Bibliothek des „Alten Schlosses“ befinden.
Elie stöhnte. „Bücher! Nur Bücher … ich hatte gehofft, hier vielleicht das Verlies zu finden, in dem Susanne eingesperrt ist – denn das ist sie doch sicher: eingekerkert! Sonst würde sie doch zu uns zurück kommen – oder will sie vielleicht gar nicht mehr zu uns …?“ Ein ersticktes Schluchzen folgte.

Die Tigerkatze sprang grazil wie eine Ballett-Tänzerin in eines der oberen Regalfächer und rieb sich an den Einbänden der dort stehenden Bücher. Ich warf einen näheren Blick auf die Werke: es handelte sich um die Chroniken der Region Edersee – sie umfassten die Jahre 1908 bis 1914.

Unschlüssig ergriff ich einen der Bände und schlug ihn auf. Die Katze begann zu schnurren – offensichtlich hatte ich etwas gefunden, von dem sie wollte, dass ich es sah.

Die Chronik – sie war zu umfangreich, als dass ich sie hier in Gänze wiedergeben könnte – referierte den Bau der Edeltalsperre, beginnend mit den Planungen, der Errichtung der Staumauer, den ersten Stauungen und der Flutung von mehreren Ortschaften der Ederseeregion.

Hier unterbricht Elie mich. „Die alten Dörfer wurden überflutet? Aber was geschah denn mit den Menschen, die dort wohnten? Und mit den Tieren…?“ Ich blättere in der Chronik und finde den folgenden, nüchternen Satz:

Die Dörfer Asel, Bringhausen und Berich wurden abgetragen und versanken in den Fluten. Die Bewohner wurden teilweise in Gebiete oberhalb ihrer Dörfer und nach Neu-Berich bei Bad Arolsen umgesiedelt.

Dann lese ich mit Schaudern:

Bei Niedrigwasser kommen die überfluteten Reste der alten Dörfer wieder zum Vorschein: Mauerreste der alten Bericher Klosterkirche sowie die Ederbrücke von Asel, die sonst unter dem Wasserspiegel liegt. Bei besonders niedrigem Wasserstand kann man die Überreste der alten Bericher Hütte und die mit Betondecken versehenen Gräber des alten Friedhofs erkennen.

Elie flüstert: „Die alten Häuser sind also dort unten auf dem Seegrund …? Und wenn dort doch noch die Leute von damals in ihren Häusern – oder Gräbern – sind …?“ Vom Grauen geschüttelt verstummte Elie. Das Buch entglitt mir: mit einem schweren Poltern fiel es zu Boden. Ich wagte nicht, es aufzuheben – so als könnten dem Buch tatsächlich grausige Geistererscheinungen entspringen.

Ein Knarren ertönte, dann vernahmen wir ein leises Klicken. Die Tapetentür war hinter uns zugefallen! Mit einem Satz war ich an der Tür und versuchte, sie zu öffnen: es gelang mir nicht! Die Tür besaß auch auf der Innenseite keine Klinke, und der Schlüssel steckte aussen – dort steckte er doch noch? Zitternd spähte ich durch das Schlüsselloch, in dem kein Schlüssel mehr zu erkennen war… Durch die Öffnung sah ich indessen unseren Wirt, Herrn von Hollow, sich langsam entfernen, den langen, altmodisch verschnörkelten Schlüssel in der Hand.

Es gab keinen Zweifel: unser Gastgeber hatte uns absichtlich in der Bibliothek eingeschlossen. Wir waren gefangen.

Elie ließ sich auf den Steinboden der Bibliothek gleiten. Weinend flüsterte er „Das ist das Ende. Wir werden hier sterben!“ Die Katze rieb ihren Kopf an Elies Bein. Dann sprang sie auf das hinter uns befindliche Bücherbrett und begann, ihre Krallen an einem besonders ansprechend-rauhen Bucheinband zu schärfen. Dabei verhakte sie sich mit der einen Pfote in den Stoffeinband, zog das Buch wie zufällig aus der Reihe heraus und warf es uns geradewegs vor die Füße. Das Buch klappte in der Mitte auf und blieb offen liegen.

Elie und ich lasen nun voller Entsetzen, was dort stand:

Es war einmal ein reicher Müller, der besaß ein Mühlwerk am Fluss. Tagaus, tagein arbeitete er in seiner Mühle, ließ das Mühlrad sich fröhlich drehen und mahlte das Getreide, das die Bauern ihm brachten, zu feinstem Mehl.

So verging Jahr um Jahr. Der Müller mahlte, die Bauern bauten ihren Roggen und Weizen an und die Tochter des Müllers, die Edmée hiess, wuchs in der Mühle zu einer liebreizenden jungen Frau heran.

Eines Tages aber erließ der Kaiser ein Gesetz, nach welchem der Fluss zu einem Stausee aufgestaut werden sollte, um die nahe gelegenen Städte und Dörfer mit Wasser zu versorgen. Die Mühle, das Mühlrad und alle Besitztümer des Müllers sollten unter den Wassermassen begraben werden. Der Kaiser bot dem Müller eine hohe Entschädigung, nämlich 1000 Goldtaler, für den Verlust seiner Mühle an. Aber der Müller hing sehr an seinem Gehöft und weigerte sich, die Goldtaler anzunehmen. Er wollte seine Mühle behalten.

Die Müllerstochter sah, wie alle Nachbarn das Geld des Kaisers annahmen, ihr Hab und Gut packten und sich weiter entfernt wieder ansiedelten. Sie schalt ihren Vater, die Entschädigung ausgeschlagen zu haben. „Vater, wie sollen wir leben, wenn die Staumauer gebaut ist? Unser Haus, die Mühle – alles was wir haben – wird überflutet werden!“
Der Müller blieb unbeugsam bei seinem Entschluss, die Mühle zu behalten.

Indessen wurde die Staumauer gebaut und mehrere Jahre zogen ins Land. Der Müller war verbittert, da keiner seiner alten Nachbarn mehr mit ihm sprach. Sie wohnten nun weit weg und kamen nie mehr zur Mühle. Nur selten verirrte sich einer der Bauern in die alte Mühle.

Berich vor der Flutung

Berich vor der Flutung

Der Tag kam, an dem die Staumauer fertiggestellt wurde. Unnachgiebig und eisenhart setzte sich der Müller an sein Mühlwerk und wartete. Wenn die Fluten kamen, würde er mit seiner Mühle untergehen – die Mühle war ihm mehr wert als sein eigenes Leben.

Keiner der Nachbarn wagte es, den Müller von seiner Entscheidung abzubringen, denn der Müller war ein harter Mann, der keinen Widerspruch duldete.

Als die Flut kam, war die Müllerstochter die einzige, die versuchte, ihren Vater aus dem Wasser zu retten.

Weder sie noch ihr Vater wurde je lebend wiedergesehen.

Seither gibt es jedoch die Legende eines Wiedergängers, welcher bei Niedrigwasser aus den Fluten zurückkehre und die Gesellschaft von Menschen suche. Da er auf dem Grunde des Sees sehr einsam ist, nimmt er junge Frauen, deren Gesellschaft ihm angenehm ist, mit sich in die Fluten. Auch Ertrunkene, deren Leiche verschwunden bleibt, sollen bei ihm ein neues Zuhause finden… Es gibt nur eine Möglichkeit, die Menschen, die er als Spielgefährten erwählt hat, aus seinen Fängen zurückzuholen:

Wiedergänger am Seengrund
verzaubern magst Du manch Maiden Mund –
In Fluten muss sie untergehn
nimmermehr an Lande stehn
Wenn nicht des Buchenwaldes Meisters
verblühte Blumenpracht sie streifet.

Nur wenn man dies genau befolgt, kann man den Fluch, der über dem Opfer des Wiedergängers liegt, brechen. Ansonsten fällt man selbst dem Wiedergänger anheim. Es wird auch erzählt, dass die schöne Tochter des Müllers seither versucht, die Unseligen, die in die Fänge des Wiedergänger geraten sind, zu befreien…

Und da sie schon gestorben sind, so geistern sie noch heute.

Ich blickte auf und sah Elie an. Wir mussten aus der Bibliothek, in der wir gefangen waren, herauskommen und dann den Vers befolgen, der das Gegenmittel für den Zauber beschrieb. Sonst war Susanne – und auch wir – verloren.

zur Fortsetzung

137. Kapitel – Der Gasthof am Edersee IV

Eine Reiseerzählung – Teil 4: Das Fest

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Der folgende Morgen ist kühl und sonnig. Als ich erwache, liegt die Tigerkatze zusammengerollt am Fußende des Betts und schläft. Offenbar hat die gestrige Drohung  unseres Wirts bei ihr keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Die Saurier sind schon auf – im Zimmer kann ich sie nirgends entdecken. Sie müssen sich früh aus dem Staub gemacht haben, als ich noch tief und fest schlief. Ich gehe in das kleine Bad, das sich an unser Zimmer anschließt. Zu meinem Entsetzen finde ich dort nur eine mit Wasser gefüllte Emaillekanne und eine Waschschüssel – aber kein fließendes Wasser, geschweige denn eine Dusche! Mit Mühe unterdrücke ich einen Entsetzensschrei. Wie soll ich mir die Haare waschen? Nach dem gestrigen Gewaltmarsch durchs Unterholz bin ich nicht mehr präsentabel – und das möchte ich schleunigst ändern.

Auf Zehenspitzen schleiche ich aus dem Zimmer auf den Gang – dabei falle ich beinahe über das vor der Tür auf mich wartende Frühstückstablett mit frischen Brötchen, hausgemachter Erdbeermarmelade und einer Kanne Darjeeling. Es ist genau das Frühstück, welches ich mir in eben diesem Moment erträumt hatte – unser Gastgeber scheint meine Wünsche zu erahnen, noch bevor ich sie äußern kann.

Ich stelle das Tablett auf die Kirschholzkommode und nehme mir vor, das Frühstück erst einzunehmen, wenn ich eine halbwegs moderne Waschgelegenheit gefunden habe. Auf der Etage unter unserem Zimmer entdecke ich – dem Himmel sei Dank! – ein geräumiges, helles Bad mitsamt einer altmodischen Badewanne mitten im Raum, die auch über eine Dusche verfügt. Ich atme auf. Die Ferien sind gerettet.

„Ich weiss nicht, wie Du Deine Reise durch die Wüste ertragen hast – eine ganze Woche ohne Dusche!“ Anatol kommt eben die Treppe hochgesprungen und weiss sofort, was ich als erstes gesucht habe nach dem Aufstehen. “Das große Bad nebenan ist wirklich komfortabel, wir haben es heute früh schon ausprobiert. Elie wollte unbedingt ein heisses Bad nehmen!“

Ich gieße mir eine Tasse Tee ein und beisse in mein Marmeladenbrötchen. Die Ferien am Edersee beginnen, mir zu gefallen! Wir sitzen im sonnendurchfluteten Turmzimmer, Tee und Brötchen vor uns – ein herrlicher Tag erwartet uns. „Anatol, wir sollten gleich das Rad aus diesem Schuppen holen und es nach unten auf die Straße bringen. Dann kommen wir schneller zum See und können auch eine richtige Tour am Seeufer machen.“

Anatol druckst etwas herum, dann rückt er mit der Sprache heraus. „Wir waren heute früh schon da und wollten das Rad holen… aber der Schlüssel war nicht mehr da. Elie hat sich durch einen Spalt in der Bretterwand in den Verschlag hineingewunden – das Rad stand noch drin, aber die Reifen waren platt. Ob die auf der Fahrt durch den Wald gestern kaputtgegangen sind? Vielleicht haben sich Dornen in die Reifen gebohrt? Wie dem auch sei: Elie konnte die Tür von innen aufmachen, da auf der Innenseite so ein Drehknopf angebracht ist. Wir haben das Rad jetzt – platt wie es ist – nach draußen geschoben und hinter einem Busch an der Klippe versteckt, damit es niemanden stört. Der Herr von Hollow mag es nicht, wenn Fahrräder im Schlosshof rumstehen, habe ich das Gefühl.“

Ich runzle die Stirn. Dass beide Reifen gleichzeitig platt sind, ist ungewöhnlich. Nun gut, so etwas kommt vor. Sicher kann man die Reifen flicken lassen – oder aber Flickzeug kaufen. Notfalls müssen wir den Schaden eben selbst reparieren, auch wenn ich das in meinen Ferien lieber vermeiden würde.

Gestärkt und bester Laune verlassen wir den Gasthof gegen 9 Uhr morgens. Herrn von Hollow – oder andere Bedienstete des Gasthofs – haben wir heute noch gar nicht gesehen, auch wenn uns jemand das Frühstück zubereitet und gebracht haben muss…
Sicher ist man mit den Vorbereitungen für das heutige Fest vollauf beschäftigt. Wir beschließen daher, heute früh niemanden mit unseren Fragen zu belästigen und die Gegend auf eigene Faust zu erkunden.

Unser Fahrrad wartet hinter den Büschen an der Klippe auf uns. Beide Reifen sind platt – Beschädigungen wie von Dornen oder Scherben kann ich jedoch nicht erkennen. Die Reifen wirken vollkommen unversehrt. Schnell pumpen wir das Rad auf – dies ist mit der Luftpumpe, die Anatol glücklicherweise noch beim Fahrradladen in Kehl erstanden hatte, kurz bevor wir losgefahren waren, schnell erledigt.

Unsere Entscheidung, das Rad über die steile Treppe nach unten auf die Straße zu transportieren erweist sich als äusserst riskant. Die Treppenstufen sind so uneben und bröckelig und der Abstieg so jäh, dass wir mehrfach kurz vor dem Absturz stehen. Auf den letzten Metern geht die Treppe fast senkrecht in die Tiefe – wir können das Rad nicht weiter halten. Schließlich bleibt uns nichts anderes übrig, als  es den Abhang hinunter bis auf die Straße rutschen zu lassen.

Scheppernd kommt das Rad am Treppenabsatz mit wild sich drehendem Hinterrad zum Liegen. Wenig später sind wir ebenfalls unten und begutachten unseren geschundenen Liebling: das Rad ist verschmutzt und hat ein paar oberflächliche Kratzer davongetragen, ansonsten erscheint es heil und ohne weiteres fahrtüchtig. Wir steigen auf und folgen der Straße in Richtung Seeufer – bald sind wir am Strand, wo wir uns unter den hohen, alten Bäumen ein schattiges Plätzchen suchen.

Ein ruhiger Vormittag am See verstreicht. Wir schwimmen, lassen flache Steine übers Wasser springen und werfen den blauen Nivea-Ball in den See, bis Elie vom Apportieren so müde ist, dass er sich mit seinem Ball unter dem Handtuch verkriecht und einschläft. Dann nicken auch wir ein.

Als ich erwache, steht die Sonne hoch am Himmel. Siedend heiss fällt mir ein, dass wir ob unserer Vollpension das Mittagessen im Gasthof serviert bekommen – wie spät ist es eigentlich? Anatols Handy zeigt 13 Uhr. Wir packen die Badesachen zusammen, legen den schlafenden Elie in den Korb und gehen zu Fuß zum Gasthof zurück. Das Fahrrad lassen wir angeschlossen in der Nähe des Bootsverleihs am Seeufer. Dort stört es nicht. Die Reifen sind weiter fest aufgepumpt – jemand muss des Nachts die Luft herausgelassen haben, anders lässt es sich nicht erklären. Ein befremdlicher Scherz!

Zurück am Gasthof betreten wir als erstes den großen Rittersaal, in dem wir gestern Nacht unser Souper zu uns genommen haben. Ein Tisch am Fenster ist bereits gedeckt – für drei Personen. Hat Herr von Hollow die beiden Saurier als „echte“ Gäste gehandelt? Dies wäre ja wünschenswert.

Wir setzen uns. Eine Vorspeise in Form eines Gazpacho im Glas ist schon serviert – sie schmeckt köstlich.

Nun eilt unser Gastgeber aus einem der hinteren Räume auf uns zu. „Wie ich sehe, haben Sie Ihren Tisch bereits entdeckt. Ich hoffe, Sie finden alles zu Ihrer Zufriedenheit. Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich heute noch gar nicht um Sie gekümmert habe – die Vorbereitungen für das heutige Fest nehmen mich ganz in Beschlag, so dass ich mich meinen Gästen nicht so widmen kann, wie es sich eigentlich gehörte.“

Ich danke unserem Wirt und versichere ihm, dass alles ganz nach Wunsch sei. Wir seien sogar bereits am See zum Baden und Spazieren gewesen und hätten darüber fast das Mittagessen vergessen. Den Vorfall mit dem Rad erwähne ich nicht. Sicher kann Herr von Hollow nichts dafür – einer seiner Bediensteten, von denen wir indessen noch keinen einzigen zu Gesicht bekommen haben, muss sich mit uns nur einen groben Spaß erlaubt haben.

Den Nachmittag verbringen wir lesend und zum großen Teil dösend im Schatten der großen Buche im Schlosshof. Unser Gastgeber hat uns Zugang zur Küche gewährt, wo wir uns einen alkoholfreien Obstcocktail nach dem anderen mischen und dann genüsslich in unseren Liegestühlen schlürfen.

Um 17 Uhr begebe ich mich in unser Turmzimmer, um mich für das Fest umzukleiden und frisch zu machen. Fast bin ich ein wenig aufgeregt. Wann ich das letzte Mal an einem Kostümfest – oder kann man hier geradewegs von einem Maskenball sprechen? – teilgenommen habe, weiss ich nicht einmal mehr…

Art Nouveau KleidGegen 19 Uhr betrete ich in meinem weissen Chiffonkleid, welches in der Tat eher an die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert als an die Mode vor dem Ersten Weltkrieg, den Ballsaal des „Alten Schlosses“. Um meiner Erscheinung etwas mehr zu einem „art nouveau Stil“ zu verhelfen, habe ich mir Bänder und Blumen in die Haare gewunden – und hoffe, so nicht zu sehr aus dem Rahmen zu fallen.

Der Ballsaal entstammt ersichtlich dem Jugendstil und ist prachtvoll ausgestattet – ich hatte ihn bisher noch gar nicht gesehen und führe das darauf zurück, dass Herr von Hollow ihn als „Überraschung“ für seine Gäste unzugänglich gehalten haben musste.

Aufwendige Orchideengestecke auf den Tischen und an den Wänden verleihen dem Saal einen lieblichen, aber schweren Duft. Das pudrige, balsamische Parfum, das die Blumen verströmen, wird durch die gedeckte Beleuchtung, die nur von kleinen, über den Tischen hängenden Lampions ausgeht, gleichsam verstärkt. Wie unser Gastgeber es verstanden hat, die Atmosphäre des fin de siècle mit ihrer Morbidität und Dekadenz geradezu perfekt einzufangen, ist mir ein Rätsel.

Der Saal ist ersichtlich für einen Ball arrangiert. Die Tische, die jeweils für zwei oder für vier Personen gedeckt sind, befinden sich an den Wänden, was den größten Teil des Saals für den Tanz freiläßt. Servierer in altmodischer Livree eilen mit Tabletts durch den Saal und bieten den Gästen Champagner in Tulpengläsern mit goldenen Arabesken an … was mag die Ausrichtung dieses Fests gekostet haben?

Aus diesen Gedanken reißen mich drei junge Herren, die groß und dunkelhaarig in ihren Belle-Epoque-Anzügen geradewegs der „Suche nach der verlorenen Zeit“ zu entspringen scheinen.

„Mademoiselle, würden Sie uns die Freude machen, diesen Abend mit Ihrer charmanten Gegenwart zu adeln? Jede Minute, die wir ohne Sie verstreichen lassen, erscheint uns geradezu als sträfliche Missachtung Ihrer bezaubernden Person. Sie möchten doch sicher nicht, dass wir uns den Rest des Abends in desolater Verfassung nach Ihnen verzehren..?“

Mit einem unwiderstehlichen Lächeln sieht der junge Mann mich an und bedeutet mir mit einer einladenden Handbewegung, mich doch an den bereits gedeckten Tisch zu ihnen zu setzen.

„Sollten wir Ihnen mit unserer Konversation nicht das Vergnügen bereiten, das Sie legitimerweise von uns erwarten dürfen, werden wir Sie natürlich sofort den Talenten der anderen Herren überlassen – auch wenn wir dann untröstlich und mit für immer gebrochenem Herzen hier zurückbleiben würden!“ Wir lachen ob dieser wehmütig-heiteren Ansprache und ich entscheide mich, zu bleiben.

Sofort hält mir der junge Herr den Stuhl, damit ich mich setzen kann. Der andere beeilt sich, mir – trotz aller Proteste meinerseits – eine Champagnerschale mit perlendem Crémant zu füllen, während der dritte junge Mann mir formvollendet verschiedene Vorspeisen präsentiert.

Bald sind wir in eine lebhafte, mokante Unterhaltung verwickelt, bei der ich mich wie selten amüsiere. Ich vergesse, dass ich mich auf einem Maskenfest befinde – so echt erscheint die Kostümierung und das Verhalten der jungen Herren, dass ich mich wirklich in die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts versetzt glaube …“

An dieser Stelle endet der Bericht. Susanne hat seit diesen letzten Sätzen nichts mehr geschrieben und auch mit Elie und mir nicht mehr gesprochen.

Dies schreibe ich, Anatol, am 22. August des Jahres 2015 in brennender Sorge und größter Furcht vor dem, was uns hier erwartet.

Aber ich muss ausholen. Was ist passiert, seit Susanne die letzten – ach, ich hoffe nicht ihre letzten! – Zeilen schrieb?

Das Kostümfest war anfangs durchaus vergnüglich. Elie und ich hatten – welch unverzeihlicher Fehler, den ich mir nicht genug vorwerfen kann – Susanne in der Obhut der drei jungen Herren gelassen, so man in diesem Fall überhaupt von „Obhut“ sprechen kann: „in den Fängen“ wäre wohl der treffendere Ausdruck! Ob es sich zudem wirklich um „junge“ Herren handelt, ist alles andere als sicher.

Elie hatte mit zwei charmanten jungen Damen getändelt; der Champagner war ihm aber bald zu Kopfe gestiegen und ich hatte ihn ins Turmzimmer zum Schlafen gebracht. Danach war ich zum Fest zurückgekehrt – es muss kurz nach Mitternacht gewesen sein.

Die gehobene, heitere Stimmung war nun einer dunkleren Note gewichen. Ein Streichquartett spielte melancholisch-düsteren Tango, spärlich bekleidete Damen rauchten Zigaretten an langen Spitzen, viele waren verlarvt… Wie in Trance tanzten Paare, aneinandergeklammert, Tango …

Susanne saß noch am Tisch mit den drei Herren, die nun offen schäkerten! Ich bedeutete ihr, dass es Zeit sei, zu gehen, aber sie nahm mich nicht wahr. Wie ich auch rief, bat – flehte: sie bemerkte mich nicht. Ich war nicht existent, für niemanden auf der Feier. Verzweifelt lief ich die Turmtreppe hinauf, zum tief schlafenden Elie. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass ich in dieser Nacht kein Auge zutat.

Als ich in höchster Not und Pein meine Verzweiflung aus dem Turmfenster ins Dunkel hinausschrie, ohne Hoffnung auf Antwort, sah ich im Geäst der Buche die flammenden Augen der Tigerkatze. Sie saß nicht weit vom Fenster auf einem Ast und starrte mich an. War auch sie uns feindlich gesonnen? Hatte sich denn alles gegen mich verschworen?

Je länger die Katze mich ansah, desto mehr erschien es mir, als versuchte sie, mir etwas zu sagen. Indessen konnte ich in meiner Angst nicht klar denken – und nicht verstehen, was sie mir vermitteln wollte. Je mehr ich mich anstrengte, desto weniger begriff ich.

Der Morgen brach an, und ich fühlte mich wie ausgelaugt. Die Katze lag jetzt auf unserem Bett und schlief. Ich schloß daraus, dass ich auch schlafen solle … sofort war ich eingenickt und kam erst am späten Vormittag wieder zu mir.

Ich war allein: weder Elie noch die Tigerkatze waren zugegen. Ich verfluchte meinen Entschluß, mich dem Schlafe hinzugeben! Ohne eine Sekunde zu zögern, stürzte ich die Treppen hinunter bis in den Saal, wo gestern das Fest stattgefunden hatte.

Der Saal war leer – von der gestrigen Feier gab es keine Spur. Kein Tisch, keine Blumen – der Raum war wie leergefegt.

Das Grauen bemächtigte sich meiner – wo waren wir hier nur hingeraten, in was für ein Haus!

Da – Stimmen drangen an mein Ohr. Ich lief zum Fenster und sah hinaus in den Schlosshof: dort sah ich Elie mit der Tigerkatze spielen. „Dem Himmel sein Dank“ schoss es mir durch den Kopf. „Zumindest Elie!“ „Elie!“ schluchzte ich. „Elie – ich bin hier!“

Elie drehte sich zu mir um. „Ja, das sehe ich. Warum weinst Du…? Wo ist Susanne?“ Der arme Elie hatte das Ausmaß des Schreckens noch gar nicht begriffen. Ich beschloss, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Es war sowieso nicht möglich, diese vor ihm zu verheimlichen.

Als ich fertig war, standen Elie der Tränen in den Augen. „Was tun wir jetzt?“ flüsterte er. „Wir müssen unbedingt Susanne wiederfinden!“

Die Tigerkatze rieb sich plötzlich an Elie’s Bein. Ich bückte mich zu ihr nieder, um sie zu streicheln, aber da lief sie fort – ins Schloss hinein. Auf dem Türabsatz drehte sie sich zu uns um und blinzelte uns zu. Dann sprang sie die große steinerne Wendeltreppe hinauf, höher und höher. Atemlos folgten wir ihr.

Zwischen dem dritten und vierten Geschoss blieb sie mitten auf der Treppe stehen – hier war eine kleine Tür in die Wand eingelassen. Diese war uns bisher nicht aufgefallen, da sie keine Klinke besaß, sondern nur ein Schlüsselloch.

Die Katze begann, mit beiden Pfoten auf den Stufen zu scharren. Dann blickte sie zu uns auf. Ich besah mir die Treppenstufe näher – und  bemerkte, dass am Übergang der Treppe zur Wand ein Klinkerstein nicht richtig verputzt war. Elie zischte: „Der Stein da, kann man den etwa herausnehmen?“ Der Klinker stand in der Tat einige Millimeter aus der Wand heraus. Ich zog und ruckelte an dem Backstein, und da – ich hielt den Stein in der Hand. Hinter ihm eröffnete sich eine winzige Kammer, die wie ein kleines Geheimfach erschien: in dieser lag ein großer, altmodischer Schlüssel.

Die Katze saß nun entspannt auf der Treppe und putzte sich geruhsam die Vorderpfoten. Ich schloß hieraus, dass wir bisher ihre Weisungen so befolgten, wie sie das wollte … Dann steckte ich den Schlüssel in das Schlüsselloch. Der Schlüssel drehte sich quietschend und knirschend im Schloss – langsam und mit einem hässlichen Knarren öffnete sich die Tür.

Fortsetzung folgt!

136. Kapitel – Der Gasthof am Edersee III

Eine Reiseerzählung – Teil 3: Das alte Schloss

Foto: Axel Hindemith / Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de

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Zurück zu Teil II

Stirnrunzelnd sehe ich Anatol an. „Die Bezeichnung ‚verkehrstechnisch nicht gut angebunden‘ ist für diesen Gasthof ein Euphemismus!“ schimpfe ich. „Wie soll es nun weitergehen? Ich jedenfalls sehe hier keinen Fahrradweg!“

Elie bemerkt, man könne etwas tiefer im Wald eine Art Fährte erahnen. Bei näherem Besehen stellt sich diese als ein vom Unterholz nicht gänzlich überwachsener Pfad heraus, auf den der Pfeil tatsächlich zu zeigen scheint.

Ich frage mich, wann die letzten Besucher diesen Pfad wohl genutzt haben müssen? Anatol meint, der Gasthof sei sicher noch aus anderen Richtungen zu erreichen – dies könne unmöglich der einzige Weg zum „Alten Schloß“ sein.

Leise fluchend schiebe ich das Fahrrad durchs Dickicht. Der Pfad erlaubt es an manchen Stellen tatsächlich, zu fahren – dann wieder ist das Unterholz zu dicht und wir müssen absteigen. Hier und da sind weitere Pfeilschilder „Zum alten Schloß“ angebracht, allerdings ohne eine Angabe der noch vor uns liegenden Strecke.

Die Dämmerung beginnt, sich über den Wald zu legen. Ich schreie mein Unbehagen lauthals heraus. „Wo zum Teufel sind wir hier?! Anatol, was hast Du uns eingebrockt mit dieser Reise!“

Der Saurier sitzt beschämt im Fahrradkorb und studiert die von ihm kürzlich noch so belächelte Karte. Dann lässt er die Karte sinken und gibt zu: „Ich habe keine Ahnung, wo es hier langgeht. Es tut mir so leid!“ Dann treten ihm die Tränen in die Augen.

Verzweiflung steigt in mir hoch. Wir sind kilometerweit von jeder Straße und Siedlung entfernt, das Dickicht hält uns fest umschlossen. Das Fahrrad ist kaum noch voranzubringen, der Rucksack wird schwerer und schwerer. Überflüssig zu erwähnen, dass es keinerlei Funkverbindung gibt. Die einzige positive Nachricht ist, dass es mit 25°C noch sommerlich warm ist – erfrieren werden wir also nicht.

Plötzlich ruft Elie: „Guckt mal da! Schimmert da nicht ein Licht durch die Bäume? Das ist doch bestimmt der Gasthof… oder?“

Photo Axel Hindemith

Photo Axel Hindemith

In der Tat scheint sich mehrere hundert Meter entfernt eine Art Gehöft zu befinden. Wie erlöst eilen wir auf das Gebäude zu. Schließlich stehen wir vor einem uralten Gemäuer – allein die Grundmauern und eine einzige Wand, auf der oben ein paar wegbröckelnde Zinnen stehen, sind noch vorhanden. Dies muss das „Alte Schloß“ sein. Hier lebt niemand.

Wo war das Licht, das Elie gesehen hatte? Nun erst fällt uns auf, dass etwas abseits von dem Gemäuer sich ein stattliches Anwesen mit hell erleuchtetem Eingang und hohen Sprossenfenstern befindet. Mir ist schleierhaft, dass wir es erst jetzt bemerken – der Wald im Katzenstein muss ungewöhnlich dicht sein.

Ein älterer Herr, der offenbar bis jetzt auf einer Bank vor dem Anwesen gesessen und die nun abendlich angenehmen Temperaturen bei einer Pfeife genossen hatte, kommt auf uns zu.

„Seien Sie willkommen in meinem Haus, junge Dame!“ Zuvorkommend nimmt er mir den mittlerweile unerträglich schwer gewordenen Rucksack ab. Darauf, dass ich strenggenommen keine „junge“ Dame mehr bin, weise ich den Herrn nicht hin.

„Sie haben den beschwerlichsten Weg gewählt, um zu uns zu kommen, junges Fräulein. Seit Jahrzehnten ist dort niemand mehr entlanggegangen. Unsere Besucher kommen für gewöhnlich aus dieser Richtung.“ Er zeigt auf einen gepflasterten Weg vor dem Haus, der zu einer Klippe führt, welche mindestens 30 Meter steil in die Tiefe abfällt. Eine offenbar ins Gestein eingemeißelte Treppe windet sich bis zum Fuße der Klippe hinunter. Am unteren Treppenabsatz erkennen wir eine schmale Straße, welche Reisende in kurzer Zeit bis nach Waldeck in die eine und nach Nieder-Werbe in die andere Richtung bringen dürfte. Von der Straße aus scheint der Gasthof gar nicht sichtbar zu sein – und offenbar legt man darauf auch keinen Wert: ein Hinweisschild auf die Gaststätte ist unten an der Straße nicht zu sehen.

Auf der Klippe hat man einen atemberaubenden Blick über den gesamten Edersee: das Panorama ist überwältigend. Für einen Augenblick stehe ich wie verzaubert am Abgrund und bewundere den Ausblick.  Eine Bemerkung des älteren Herrn (ob es sich bei ihm wohl um Herrn von Hollow, an den wir das Geld überwiesen haben, handelt?) reisst mich aus meinen Träumereien.

„Mit dem Fahrrad – und auch ganz allgemein – ist die Treppe natürlich ein schwer zu überwindendes Hindernis. Übrigens gilt dies nicht nur für die Ankunft, sondern auch für die Abreise aus unserem Haus. Schon manche unserer Gäste sind bei der Abfahrt auf dieser Treppe zu Schaden gekommen. Sie sollten es bei Ihrer Abreise nicht zu eilig haben, junge Dame.“

Während ich mich noch frage, ob dies als freundlich gemeinte Warnung oder aber als Drohung aufzufassen sei, fährt der ältere Herr fort: „Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Heinrich von Hollow. Das Anwesen „Zum alten Schloß“ ist seit Jahrhunderten im Besitz der Familie von Hollow. Ich bemühe mich, meinen Gästen das Leben auf Gut Hollow so angenehm wie möglich zu machen – so angenehm, dass sie am liebsten gar nicht mehr abreisen würden!“

Ich stelle mich ebenfalls vor und versichere unserem Gastgeber, dass der Aufenthalt mir bereits jetzt sehr gut gefalle. Dann frage ich Herrn von Hollow, ob mein Zimmer denn schon fertig sei? Ich sei nach der langen Reise recht müde und würde mich vor dem Abendessen gern umkleiden und auch ein wenig ausruhen.

„Wie unaufmerksam von mir! Aber natürlich, Ihr Zimmer wartet bereits auf Sie. Kommen Sie, hier entlang… Ihr Fahrrad stellen wir in den alten Pferdestall; ich würde Ihnen raten, es während des Aufenthaltes gar nicht mehr zu nutzen – die steile Treppe werden wir es kaum heruntertragen können, befürchte ich – Sie würden sich in Gefahr begeben, dabei verletzt zu werden oder auf der Treppe zu stürzen.“

Ich nicke. Insgeheim behalte ich mir jedoch vor, das Fahrrad mit Hilfe der Saurier gleich morgen früh doch über die Treppe auf die unten gelegene Straße zu bugsieren und dann an der Straße an einen Baum anzuschließen. So wären wir mobiler und am Seeufer nicht darauf angewiesen, gar noch ein Fahrrad mieten zu müssen.

Dies sage ich aber Herrn von Hollow nicht, da ich nicht will, dass er sich verpflichtet fühlt, mir dabei behilflich zu sein.

„Wollten Sie nicht zwei Haustiere mitbringen?“ fragt unser Gastgeber. „Uns sind selbstverständlich auch Ihre vierbeinigen Begleiter willkommen.“

„Sie sitzen im Fahrradkorb“ kläre ich Herrn von Hollow auf. Wie auf Kommando stecken die beiden Butler ihre Köpfe aus dem Korb – so brav wie selten guckend.

„Basilisken!“ ruft Herr von Hollow bewundernd aus. „Zwei Kinder der Dunkelheit – faszinierend!“

„Was meint der denn?“ flüstert Elie verzagt. „Keine Bange,“ meine ich. „Ich glaube, der gute Mann ist ein wenig überspannt – vielleicht wird man so, wenn man lang auf einem so abgelegenen Anwesen lebt?“

Herr von Hollow ist vorgegangen; er zeigt uns erst den Stall, den er  gewissenhaft verschließt, nachdem er mein Rad dort sicher untergebracht hat. Ich merke mir genau, an welchen Haken er den Schlüssel hängt, damit ich später nicht danach fragen muss.

Dann bringt Herr von Hollow uns in unser Zimmer – dies ist das sogenannte Turmzimmer, hoch über dem Anwesen und nur über eine winzige Wendeltreppe zu erreichen, die bis fast in den Himmel führt, wie uns beim Aufstieg erscheint.

Das Turmzimmer ist sehr ansprechend eingerichtet. Unter dem Fenster, in das die Äste der alten Buche, die im Schlosshof steht, fast hineinragen, steht ein gemütliches, altmodisches Kastenbett, an der Wand rechts neben dem Bett eine antike Kirschholzkommode. Links scheint eine kleine Tür zum Badezimmer zu führen. Ein hübscher Knüpfteppich taucht das Zimmer in angenehme Rottöne.

Mitten auf dem Bett liegt zusammengeringelt und wohlig schnurrend eine kleine, braungetigerte Katze.

Als ich die Hand ausstrecke, um die Katze zu streicheln, stößt Herr von Hollow einen unterdrückten Wutschrei aus. „Ist das verwünschte Untier doch wieder hereingekommen!“

Die Katze springt leichtfüssig auf die Fensterbank. Von dort aus ist sie mit einem Satz in der großen Buche. Als sie sich kurz zu uns umdreht, bevor sie im Geäst des Baumes verschwindet, blinzelt sie mir freundlich zu – dann ist sie nicht mehr zu sehen.

Ich drehe mich zu Herrn von Hollow um und versichere ihm, dass die Katze bei mir jederzeit willkommen sei. Auch meine beiden „Basilisken“ seien durchaus Katzenfreunde. Ich bäte ihn darum, die Katze nicht mehr zu verjagen.

Von Hollow geht darauf nicht ein. Plötzlich kurz angebunden teilt er uns mit, dass das Souper in einer dreiviertel Stunde unten auf uns warten würde. Alles weitere würde er uns dann erklären, so auch die „Kleiderordnung“ für das morgige Fest. Dann lässt er uns allein.

„Kleiderordnung?“ frage ich konsterniert. „Was soll denn das?“

Anatol druckst ein wenig herum, dann rückt er mit der Sprache heraus. „Auf der Webseite stand etwas von einem großen Kostümfest morgen Abend. Dafür solle man entsprechend gekleidet sein. Das Fest wird im Stil der Jahrhundertwende ausgestattet sein – man soll Mode der Jahre 1900 bis 1914 tragen. Ich habe Dein weisses Chiffonkleid und die Onyxkette eingepackt. Damit solltest Du gut angezogen sein, auch wenn es eigentlich eher den zwanziger Jahren zuzuordnen ist. Aber das ist sicher nicht so schlimm. Herren erscheinen im Ausgeh-Anzug der Epoche. Für Elie und mich habe ich daher je eine weisse Fliege vorgesehen.“

Ich bin sprachlos. Das Biest hat die Unterkunft am „Alten Schloß“ offenbar nur gebucht, weil es an einem historischen Kostümfest teilnehmen wollte – und uns deshalb über Stock und Stein durch den Wald gejagt. „Ferien am See“ sind anscheinend vollkommen nebensächlich für die Wahl des Orts gewesen!

Verschämt gibt Elie zu, dass er auch auf die Kostümparty wollte. Schließlich habe ich gesagt „Ihr dürft Euch die Ferien aussuchen, die Ihr wollt!“ – jetzt könne ich mich nicht beschweren.

Seufzend gebe ich den Sauriern Recht. Ich muss mir wohl das Kostümfest der Jahrhundertwende antun … nun, es gibt Schlimmeres.

Das Souper im sogenannten Rittersaal verläuft ohne Vorkommnisse – Herr von Hollow bedient uns mit Rücksicht auf die vorgerückte Stunde (es ist bald Mitternacht) höchstpersönlich. Die leichte Verstimmung wegen der Tigerkatze scheint vergessen. Stattdessen lobt Herr von Hollow die Ausflugsziele am See, die wir morgen aufsuchen wollen, in den höchsten Tönen. „Wenn Sie die Treppe zur Straße hinabsteigen und dann kurz links und gleich wieder geradeaus gehen, sind Sie nur 50 Meter vom Seeufer entfernt. Etwa 200 Meter weiter westlich gibt es einen Bootsverleih. Ich wünsche Ihnen morgen einen schönen Tag! Und vergessen Sie nicht unser Fest – es beginnt schon um 18 Uhr.“

Als wir die Treppe zum Turmzimmer müde erklimmen, ist es weit nach Mitternacht. In der alten Buche sitzt mit funkelnden Augen die Tigerkatze.

Bald fallen wir in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

… zur Fortsetzung!

135. Kapitel – Der Gasthof am Edersee II

Eine Reiseerzählung – Teil 2: Die Reise

Foto: Axel Hindemith / Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de

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Der Kellner des Restaurants „Seeblick“ scheint nicht gut auf Agamenmixe zu sprechen zu sein. Er lässt sich, nachdem ich meine Bestellung aufgegeben habe, nicht mehr sehen. Stattdessen kommt eine Dame mittleren Alters, offenbar die Chefin des Restaurants, und serviert mir die begehrten Bratkartoffeln und den Salat.

Betont unbeteiligt fragt sie mich, während sie mir das Besteck hinlegt, wo denn mein Feriendomizil liege? Ob ich nicht vielleicht erwägen möchte, hier im „Seeblick“ – welches auch über schöne Gästezimmer verfüge – zu bleiben? Ganz unerwartet sei morgens nämlich noch ein Zimmer freigeworden.

Ich danke der Dame für den freundlichen Vorschlag, erkläre ihr aber, dass unsere Unterkunft bereits gebucht und bezahlt sei, und zwar im „Alten Schloss“, wohin ich mich im Übrigen gleich nach dem Mittagessen zu begeben gedächte. Ob die Zimmer dort schon Nachmittags für die ankommenden Gäste zur Verfügung stünden?

Mein Domizil scheint keine Gnade vor den Augen der Restaurantchefin zu finden. „Hat er doch wieder angefangen!“ murmelt sie für sich – sichtlich verstimmt. Mir wirft sie nur ein knappes „Familiengeschichten – Sie verstehen!“ zu und geht. Als ich an der Theke zahle – weder Kellner noch Chefin scheinen mehr an meinen Tisch kommen zu wollen – flüstert mir die Bedienung zu: „Ich würde nicht zum alten Schloß gehen! Wenn Sie möchten, halte ich Ihnen das Zimmer bei uns frei. Bitte überdenken Sie Ihre Entscheidung!“

Freundlich dankend lehne ich ab. Die Konkurrenz unter den Gasthöfen scheint groß zu sein, wenn derart um Gäste gekämpft wird! Kopfschüttelnd besteige ich das Rad und fahre los, die alte Wanderkarte aus den 70er Jahren über den Lenker ausgebreitet. Den Weg hatte uns niemand erklären wollen – ich hatte allerdings auch darauf verzichtet, die Frage noch einmal ausdrücklich zu stellen.

Die Karte verzeichnet – auch nach 40 Jahren noch zuverlässig! – den „Sechs Buchen“ genannten bewaldeten Gipfel, in dessen Nähe angeblich unser Gasthof liegen soll. Ein „Altes Schloss“ suchen wir indessen vergeblich auf dem vergilbten Papier.
Anatol kratzt sich am Kopf. „Die genaue Adresse des Gasthofs lautet: ‚Am Katzenstein unter den sechs Buchen, bei Schloß Waldeck‘. Das muss doch auf der Karte irgendwie einzugrenzen sein!“

Das Gegenteil ist der Fall. Ich zeige Anatol die Karte – die sogenannte „genaue Adresse“ bezeichnet ein ausgedehntes Areal, welches unter anderem das Naturschutzgebiet „Katzenstein“ einschließt. Dieses beschreibt uns Elie nach einem Blick in sein Tablet, das tatsächlich hier Internetanschluss hat, folgendermaßen: „Der Katzenstein gehört zu den floristisch reichsten Waldnaturschutzgebieten in Hessen. Er liegt nördlich des Edersees ca. einen Kilometer westlich von Waldeck. Es handelt sich um einen lang gestreckten Bergrücken mit einer breit abgeflachten Kuppe, der nahezu vollständig bewaldet ist.

Ich beginne zu bereuen, das Zimmer im „Seeblick“ nicht angenommen zu haben. Wie sollen wir unseren Gasthof auf dem „langgestreckten Bergrücken“ finden? Eine Telefonnummer hatte Anatol bei der Reservierung nicht bekommen, ebensowenig eine Emailadresse. Fast glaube ich, einem schlechten Scherz aufgesessen zu sein – wogegen allerdings spricht, dass der Gasthof im „Seeblick“ offenbar bekannt und als Konkurrenz gefürchtet ist.

Verdrossen und müde trete ich in die Pedale. Der vor uns liegende Waldweg führt direkt über den Katzenstein. Ich verkünde mit Nachdruck, dass es nun genau zwei Möglichkeiten gäbe: entweder der Gasthof „Zum alten Schloß“ liegt an unserem Waldweg im Katzenstein und wir fänden ihn daher in Kürze – oder aber es geht umgehend zum „Seeblick“ zurück, wo wir das uns angebotene Zimmer nehmen würden. Das bereits überwiesene Geld für den Gasthof „Zum alten Schloß“ werde in letzterem Fall vom Taschengeld der Saurier abgezogen.

Protestgeschrei ertönt! Ich bleibe indessen hart. Seit über 10 Stunden bin ich auf den Beinen, ein Gasthof ist nicht in Sicht – meine Geduld neigt sich dem Ende zu.

„Achtung! Halt!“ ruft Elie plötzlich. „Da ist ein kleiner Holzpfeil am Baum. Mit einer Inschrift!“ In der Tat steckt – mit einem rostigen Nagel angeheftet – an einer alten, etwas abseits vom Weg stehenden Buche ein verwittertes Schildchen in Form eines Pfeils. „Zum alten Schloß“ steht dort, mit einem Messer eingeschnitzt.

Der Pfeil zeigt direkt in den Wald hinein.

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134. Kapitel – Der Gasthof am Edersee I

Eine Reiseerzählung – Teil 1: Die Abfahrt

Edersee_Panorama_Waldeck

Photo Axel Hindemith

Anatol hat meinen Vorschlag, einen Wochenendausflug zu unternehmen, nicht vergessen. Mit Feuereifer sind er und Elie dabei, im Internet ein Reiseziel auszuwählen. Ich habe den beiden Sauriern dafür freie Hand gelassen. Sie sollen sowohl unseren Aufenthaltsort als auch die Unterkunft aussuchen – so kann ich sicher sein, dass später keine Beschwerden auf mich niederprasseln werden.

Bald ist unser Feriendomizil gefunden – ein verwunschener kleiner Gasthof am Edersee, an den ich nach langen Jahren zurückkehren möchte. Mit meinen Eltern und meiner Schwester sowie Hund Trolli (damals nicht einmal ein Jahr alt) war ich 1974 schon einmal am Edersee gewesen. Einen ganzen Nachmittag lang waren wir in einer winzigen Jolle über den See gerudert, waren geschwommen und hatten den Hund Stöckchen aus dem Wasser apportieren lassen.

Verträumt und etwas melancholisch entsinne ich mich der lang vergangenen Momente. Ich freue mich, den Ort der schönen Kindheitserinnerung bald wiederzusehen.

Anatol klappt das Laptop zu. „Ich habe eben die Reservierung aufgegeben. Unser Gasthof heisst „Zum alten Schloß“ und hatte noch einige Zimmer frei – mit Vollpension! So müssen wir uns um nichts kümmern und vor allem nicht kochen. Der Preis ist durchaus annehmbar – 20 Euro pro Nacht für eine Person. Ich habe nur für eine Person reserviert. ‚Tiere’ ….“ – hier räuspert Anatol sich – „…sogenannte ‚Tiere‘ sind im Übrigen ausdrücklich zugelassen.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und frage misstrauisch: „20 Euro pro Nacht mit Vollpension? Das kann doch nur eine üble Absteige sein, Anatol!“

Anatol verteidigt seine Wahl mit dem Hinweis darauf, dass alle anderen Pensionen ausgebucht seien. Ein Doppelzimmer mit Vollpension koste ansonsten in der Ederseeregion um die 40 Euro pro Nacht – wenn es verkehrsmäßig gut angebunden sei.

Der Gasthof „Zum alten Schloß“ sei jedoch mit dem Auto gar nicht zu erreichen. So erkläre sich der günstige Preis. Von Waldeck aus müsse man mit dem Fahrrad über Feld- und Waldwege in Richtung „Katzenstein – Sechs Buchen“ fahren; an einem der Waldwege fände sich der Gasthof – nicht weit vom See entfernt.

Elie hüpft aufgeregt hin und her. „Das klingt nach einem richtigen Abenteuer!“

Ich bin skeptisch. „Anatol, wie kommen wir da hin? Mit dem Fahrrad werden wir es wohl kaum bis zum Edersee schaffen…! Ich möchte nun auch die Webseite des Gasthofs sehen, auf der Du die Vollpension gebucht hast.“

Stolz erklärt Anatol, unsere Reise würde uns mit einer speziellen Buslinie, die auch das Fahrrad mitnähme, bis nach Giflitz führen. Von dort aus müssten wir allerdings mit dem Fahrrad bis nach Waldeck und dann zu unserem Gasthof fahren. Dies seien aber nur knapp12 km.

Seufzend willige ich ein. Zu diesem Zeitpunkt weiss ich noch nicht, dass unsere Busreise um 6 Uhr 30 beginnen und ganze 8 Stunden dauern wird, während derer wir fünf mal werden umsteigen dürfen.

Verwundert durchsucht Anatol den Cache des Laptops. „Ich verstehe das nicht … ich finde die Webseite, auf der ich eben gebucht habe, nicht mehr … aber die Adresse habe ich notiert. Gasthof „Zum alten Schloß“, am Katzenstein unter den sechs Buchen, bei Schloß Waldeck, Hessen. Überwiesen habe ich das Geld ja auch schon.“

Die Überweisung in Höhe von 60 Euro – drei Übernachtungen – geht an die „Dark Eder GmbH, Geschäftsführer Heinrich v. Hollow“. Zumindest ein Konto scheint also zu existieren.

Unser Rucksack ist schnell gepackt. Im letzten Moment fällt mir ein, dass ich noch eine alte Landkarte der Gegend um den Edersee besitze. Diese packe ich in die kleine vordere Tasche meines Rucksacks. Abschätzig sieht Anatol auf die Karte. „Die ist doch total veraltet!“ meint er verächtlich.

Ich schüttle den Kopf. „Die Waldwege werden wohl dort eingezeichnet sein. So etwas ändert sich nicht.“

IMG_3947Am nächsten Morgen verlassen wir um halb sechs Uhr das Haus – den Rucksack auf dem Gepäckträger, die Saurier verschlafen, aber aufgeregt vorn im Fahrradkorb.  Unsere Reise beginnt.

Die Katzen bleiben für die kommenden Tage in der Obhut einer Freundin.

Unsere Busfahrt führt uns bei schönstem Sommerwetter über Offenburg, Karlsruhe, Mannheim, Frankfurt und Marburg bis nach Giflitz. Als wir den Bus in Giflitz – nach fünfmaligem Umsteigen – mit unserem Fahrrad verlassen und weitere 12 km über Waldwege bis zum Gasthof vor uns haben, verfluche ich Anatol, der die Reise geplant hat. Mein Rücken schmerzt, die Beine sind von der langen Fahrt eingeschlafen. Schimpfend setze ich mich aufs Rad. Die beiden Butler schlummern derweil friedlich im Fahrradkorb.

IMG_3948Von Giflitz aus nehme ich die Wildunger Straße und folge dann den Schildern, die mich nach Waldeck führen. Eine Dreiviertelstunde später treffe ich entkräftet dort ein, und beschließe, einzukehren – auch wenn es bis zu unserem Gasthof nun nicht mehr weit ist. Das Gasthaus „Seeblick“ lädt mit seiner beschatteten Terrasse und dem Ausblick über den See noch jetzt am frühen Nachmittag zu einem „gutbürgerlichen Mittagessen“. Glücklich setze ich mich an einen  der Tische.

Nun erwachen die Saurier. Nichtsahnend streckt Elie den Kopf aus dem Korb, gerade als der freundliche Kellner mich fragt, was ich bestellen möchte. Schockiert ob des unerwarteten Anblicks stößt der Kellner einen spitzen Schrei aus – und fragt dann mit zitternder Stimme, was das denn für eine Echse sei? Elie ist indessen erschrocken im Korb untergetaucht.

Etwas entnervt kläre ich den unseligen Servierer auf – die „Echse“ sei eine Kreuzung zwischen einer südamerikanischen Agame und einem Hapalops. Es handele sich dabei um ein kleines, pelziges und völlig harmloses Tier, dem man ähnlich einem Papageien sogar einige Worte beibringen könne. Ich besäße gleich zwei dieser niedlichen Geschöpfe – diese hielten gerade im Korb ihren Mittagsschlaf und gehorchten aufs Wort. Diese Version über Anatols und Elie „Abstammung“ hatten wir uns nach längerer Beratung während der Busfahrt zurechtgelegt.

Dem Kellner steht der Mund offen. Ungläubig sieht er mich an. „Und diese Tiere bleiben  ganz bestimmt in dem Korb…? Sind die denn gar nicht angeleint?“ fragt er unsicher. Ich bejahe dies und werfe einen drohenden Blick in Richtung Korb. „Beissen die nicht…?“

Ich schwindle etwas, als ich dem Kellner versichere, dass die Agamenkreuzung ausschließlich Salatblätter zu sich nehme und noch nie gebissen habe.

Um den braven Servierer auf andere Gedanken zu bringen, bestelle ich flugs Bratkartoffeln mit Salat und frage ihn dann nach dem Weg zum Gasthof „Zum alten Schloß“, da ich dort ein Zimmer reserviert habe.

Eilig verspricht der Servierer, die Bratkartoffeln sofort zu bringen – auf meine Frage nach dem Weg zum „Alten Schloß“ geht er indessen nicht ein. Ich nehme mir vor, ihn später darauf anzusprechen. Vom Restaurant „Seeblick“ gehen verschiedene Wege in unterschiedlichste Richtungen ab – und ich möchte mich nicht verfahren.

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133. Kapitel – Ein Ausflug nach Kehl

Mittagessen bei Dreher

Anatol ist langweilig. Seit heute früh quengelt er vor sich hin. „Was unternehmen wir heute?“ fragt er gerade zum fünften Mal.

„Siehst Du!“ triumphiert Elie. „So ist das, wenn man nichts geplant hat! Über kurz oder lang wird es öde! Wie gut, dass ich nachher mit Anna einen Ausflug mache.“ Neidisch schielt Anatol auf den gepackten Rucksack, den Elie schon an die Tür gestellt hat. Dann weint er los. „Und was machen wir jetzt? Du hast was von ‚großer Freiheit‘ erzählt – aber jetzt ist es einfach nur langweilig!“

Ein untauglicher Versuch, Anatol zu erklären, dass „Freiheit“ eben auch heißt, dass man nicht immer beschäftigt ist, endet im Verzweiflungsgeheul Anatols. Auch der Hinweis darauf, dass der Keller noch darauf wartet, ausgeräumt zu werden, kann ihn nicht beruhigen.

Ich entschließe mich zum Äußersten. „Dann fahren wir heute nach Kehl zu Dreher. Dabei können wir nach der Tastatur für das Tablet gucken und bei dm ein paar Sachen kaufen. Mittags essen wir bei Dreher Salat und Pflaumenkuchen.“

Auch wenn dieser Plan laut Anatol „nicht der Hit“ ist, vermag er zumindest dem lauten Geheul des Sauriers Einhalt zu bieten. Um 10 Uhr 30 begeben wir uns daher auf die Reise nach Kehl – fröhlich pfeifend auf dem Fahrrad, bei gerade noch erträglichen 26°C.

Um 11 Uhr sind wir – ob der Hitze in Auflösung begriffen – beim Computerladen in Kehl. Der freundliche Verkäufer erklärt uns, dass die von uns begehrte Tastatur für unser Tablet in weiß – wenn sie denn überhaupt noch existiert – bestellt werden müsste. Um letzteres bitten wir. Der Verkäufer verspricht, alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Tastatur zu beschaffen – versprechen könne er aber nichts. Derlei „Zubehör“ veralte schnell und könne dann kaum noch aufgetrieben werden. Dies wundert mich, scheint die Tastatur doch ein regelrechter Standardartikel zu sein. Jedoch war uns bereits in Strasbourg im Apple Store gesagt worden, dass die deutsche Tastatur, die wir benötigen, nicht bestellbar sei.

Beklommen verlassen wir das Ladenlokal. Es wäre ärgerlich, wenn es die Tastatur nicht mehr gäbe. Der Verkäufer verspricht uns, gleich anzurufen, sobald er das ersehnte Gerät fände.

IMG_0072Es ist zwar erst 11 Uhr 30, die Hitze ist aber schon jetzt geradezu unerträglich geworden. Wir entschließen uns, gleich bei Dreher, unserem liebsten Ausflugsziel, einzukehren und dort die schlimmste Mittagshitze abzuwarten. Der Saurier will sofort eine Cola – das kann ich ihm einfach nicht abgewöhnen. Dazu gibt es einen leckeren Salat.

Verstohlen nippt der Butler an seiner Cola. Er möchte lieber nicht gesehen werden und versteckt sich daher im Rucksack. Von dort aus beobachtet er das Lokal. Sofort hat er mit seinen scharfen Stegosaurieraugen den Pflaumenkuchen erspäht. „Du, hier gibt es den tollen Kuchen! Den will ich als Nachtisch!“ kräht er aus dem Rucksack heraus.

Die liebenswürdige Bedienung dreht sich um und sieht mich verwundert an. „Ich bring Ihnen den Kuchen gleich – Sie brauchen nicht zu schreien…“ Ich laufe dunkelrot an, murmele eine Entschuldigung und versetze dem Rucksack einen etwas festeren Schlag. „Au!“ schreit es aus dem Rucksack. Ich sehe, wie die beiden Serviererinnen miteinander tuschelnd zu mir herüberschielen. Ostentativ hole ich mein Handy hervor, schwenke es und erkläre mit fester Stimme, so dass es auch die Kellnerinnen hören „Da muss mir schon wieder jemand den Klingelton verstellt haben!“

Dann zische ich wütend in den Rucksack: „Noch einmal so ein Aufstand, und es gibt keinen Pflaumenkuchen!“ Bockig und mit verdicktem Kopf (ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Saurier schmollt) sitzt Anatol im Rucksack. Als der Pflaumenkuchen serviert wird, lehnt er ihn ab. „Ich bin Dir ja sowieso egal“ erklärt er mit erstickter Stimme. „Dann will ich auch keinen Kuchen.“

Das hatte gerade noch gefehlt. Ein heulender Anatol im Rucksack, dazu der schöne, eben servierte Pflaumenkuchen – und keine Möglichkeit, diskret das Lokal zu verlassen. Mein Zuspruch, dass ich nichts dafür könne, wenn Tiere jeglicher Art in Bäckereien und Restaurants keinen Zutritt hätten und dass nicht ich es sei, die den Saurier zur Rucksackhaft verpflichtete, hat einen Schwall von Vorwürfen zur Folge.

„Dann denk Dir irgendwas aus, damit ich hier rauskann! Ich will nicht weiter eingesperrt sein. Das schlägt aufs Gemüt!“ – „Da gibt es nichts auszudenken, Anatol. In eine Bäckerei darf man keine Haustiere mitbringen, weder Hunde noch Katzen noch Dinosaurier. So ist das nun mal. Manche Menschen haben vor Tieren Angst oder ekeln sich sogar davor. Daran kann ich nichts ändern, so leid es mir tut.“

IMG_3936„Ja, und ich ekele mich vor manchen Menschen! Trotzdem dürfen sie in die Bäckerei. Das ist ungerecht!“ Schmatzend macht sich der Saurier jetzt glücklicherweise daran, den Pflaumenkuchen zu vertilgen – von neugierigen Blicken abgeschirmt durch unseren Fahrradkorb.

Ich sehe ein, dass die Ferien für Anatol nun doch langweilig werden, und dass die uns bevorstehenden zwei Wochen zur Hölle werden könnten, wenn ich den Butler nicht beschäftige.

Entgeistert höre ich mich sagen „Vielleicht sollten wir einen Ausflug übers Wochenende machen… was meinst Du, Anatol?“

Anatol ist so perplex, dass er mich nur mit großen Augen und offenstehendem Mund anstarrt. Dann klatscht er seine Kuchengabel in die Schlagsahne auf dem Pflaumenkuchen, dass es nur so spritzt, und schreit: „TOLL!“

Über das, was dann folgt, breiten wir den Schleier der Barmherzigkeit.

Bei Dreher können wir uns so bald nicht wieder blicken lassen.

132. Kapitel – Im Reich der schönen Melusine

Die großen Ferien haben begonnen. Einen ganzen Monat lang werden die Saurier und ich tun und lassen können, was wir nur wollen – ein wundervolles Gefühl.

Elie ist nicht dieser Meinung. „Wir haben überhaupt nichts geplant! Weder eine Reise noch irgendetwas anderes Interessantes. Die ganzen Ferien sind leere vier Wochen! Ich finde das so langweilig…“

Anatol und ich hingegen empfinden es als herrlich, nichts – oder fast nichts – vorzuhaben. Jeden Morgen entscheiden zu können, was man tun will (oder auch nicht), ist für uns der Inbegriff von Freiheit.

Dabei sind gewisse Dinge für diese Ferien aber doch bereits fest vorgesehen – darunter die alljährliche, langersehnte Radtour mit unserer Freundin T.

Dies kann indessen Elie gar nicht begeistern. „Bei über 30°C unter der gleißenden Sonne Hunderte von Höhenmetern im Schwarzwald hochzukriechen (denn Ihr tut ja eh nichts anderes als das Rad den Berg hochzuschieben, bei der Hitze!)  – nein, da mache ich nicht mit. Lawrence of Arabia im Glutofen der Sonne ist nichts dagegen! Ich geh rüber zu Anna, ihre Eltern haben das Planschbecken aufgepustet. Da hab ich’s schön!“

Anatol sieht mich zweifelnd an. Elie hat in der Tat nicht ganz Unrecht. Für den morgigen Tag, an dem die Radtour stattfinden soll, sind über 30°C angekündigt – und kein einziges Wölkchen am Himmel. Mit dem im Sommer recht unpraktischen Hauttypen I, der mir nach spätestens 5 Minuten in der Sonne schlimmsten Sonnenbrand verheisst, bin ich für eine Radtour bei diesen Wetterbedingungen, gelinde gesagt, nicht ideal ausgestattet.

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Elie leiht mir seine Sonnencreme. Anna hat ja noch eine!

Elie hat die rettende Idee. „Gestern war ich mit Anna im dm drüben in Kehl. Wir haben ganz viel Sonnencreme gekauft, weil wir am Pool – na ja, am Planschbecken – liegen wollen. Hier, ich leihe Dir meine Creme aus. Sie hat Lichtschutzfaktor 50; mehr haben wir nicht bekommen. Damit solltest Du ausreichend geschützt sein. Und da ich dann keine Sonnencreme habe, wird mir Anna sicher etwas von ihrer abgeben …“

Dass Elie dabei darauf spekuliert, vielleicht sogar von Anna mit deren Sonnencreme den Rücken eingecremt zu bekommen, verschweigt der Bursche geflissentlich – wir wissen es aber und kichern.

Während Elie von seinem Tag mit Anna „am Pool“ träumt, bereiten Anatol und ich unsere Tour vor. Das Fahrrad wird in unserer geliebten Fahrradwerkstatt einer Inspektion unterzogen: die Bremsbeläge werden erneuert, die Gangschaltung eingestellt und das Rücklicht repariert. Das Rad bekommt einen neuen Sattel, auf dem man auch nach 12 Stunden Fahrt noch gerne sitzen mag. Dann noch schnell die Reifen auf den perfekten Druck gebracht – und wir sind abfahrbereit.

In den Fahrradkorb kommen noch eine leichte Jacke, die Wasserflasche (die sich auf der Fahrt jedoch als viel zu klein herausstellen wird) und der Universalschlüssel – falls doch mal eine Schraube locker sein sollte … und dann geht es früh ins Bett, um am nächsten Morgen gut ausgeruht zu sein.

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Bei der Abfahrt in Kehl

Am 5. August um 8 Uhr 30 verlassen wir das Haus bei bedecktem Himmel und sehr angenehmen 18°C in Richtung Kehl, Bahnhof. Dort treffen wir um kurz vor 9 ein und begeben uns als erstes in die Apotheke, da sich beim Treten in die Pedale ein stechender Schmerz im Schienbein bemerkbar gemacht hat. Die besorgte Apothekerin gibt mir auf, während der heutigen Tour sehr viel zu trinken und mehrfach Magnesium zu nehmen. Für das Schienbein empfiehlt sie eine schmerzstillende Creme, die ich sofort auftrage.

Um 9 Uhr 34 sitzen wir im Zug nach Appenweier, wo wir nach kurzer Fahrt ankommen.

Unser lang erwartetes Treffen mit unserer Freundin T. wird gebührend gefeiert: mit Kaffee, Tee und Laugencroissant in einem Café in Appenweier. Schließlich müssen wir uns für die vor uns liegende Fahrt rüsten.

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Stärkung in Appenweier

Wie man auf dem Bild sieht, hat Anatol bereits ordentlich von dem Laugencroissant abgebissen!

Um 11 Uhr begeben wir uns gestärkt und bei strahlendem Sonnenschein auf die von T. wie immer perfekt geplante Melusinen-Tour. Diese soll uns von Appenweier zunächst über Nesselried und Ebersweier nach Schloss Staufenberg führen, welches auf einer Anhöhe von 320m liegt und dessen gefürchteten Anstieg wir vor der schlimmsten Mittagshitze unternehmen wollen, um dann die Mittagszeit in der Kühle der schattigen Schloßterrasse zu verplaudern.

Schnell sind die die Melusinentour anzeigenden Schilder gefunden, und wir radeln frohgemut los durch die Weinberge und Obstplantagen. Noch liegt eine morgendliche Frische in der Luft, aber die Sonne steigt schnell. Bald schon brennt die Gluthitze auf uns herunter – eine dicke Schicht von Elies Sonnencreme schützt mich glücklicherweise, ebenso wie mein Sonnenhut. Schatten bietet unser Weg zunächst gar nicht. Wir sind dem Glutofen gnadenlos ausgeliefert.

Bei Zusenhofen fällt uns auf, dass wir in die falsche Richtung geleitet worden sind – nämlich in Richtung Oberkirch – dass wir also Schloss Staufenberg erst am nachmittag erreichen werden, und den Anstieg daher in der größten Hitze werden bewältigen müssen.

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Am Gasthof „Zur Sonne“ in Oberkirch

Anatol ächzt. „Schaffen wir das überhaupt? Unsere Wasservorräte sind jetzt schon aufgebraucht…“ Unschlüssig sehe ich T. an. Diese ist jedoch sicher, dass wir ohne Schwierigkeiten bis Oberkirch kommen werden, dort einkehren könnten – hier hüpft Anatol vor Freude fast aus seinem Fahrradkorb, liebt er doch das Einkehren über alles – um am frühen Nachmittag gestärkt den Aufstieg zum Schloss in Angriff zu nehmen.

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Hier wäre der Saurier fast baden gegangen!

Eine Stunde später sind wir in Oberkirch, wo wir nach einem kurzen Besuch der Innenstadt, einem in letzter Minute verhinderten Bad des Sauriers im Stadbrunnen und einer Konsultation der ansässigen Touristenberatung im Gasthof „Zur Sonne“ einkehren. Hier werden wir mit Bratkartoffeln bewirtet, dazu gibt es sehr ausgiebig Cola.

Zum Nachtisch erbettelt der Saurier ein mit Espresso übergossenes Vanilleeis – dieses stellt sich später als eine sehr gute Wahl heraus, da es dem Butler einen regelrechten Energieschub verschafft: auf dem folgenden Photo ist das Untier mir schon wieder fast entwichen, um sich ob der großen Hitze in den hinter dem blumenverhängten gusseisernen Geländer befindlichen Bach zu werfen.

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Hier wollte Anatol stiften gehen – ich konnte ihn gerade noch packen.

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Der Bach mit seinen bizarren Figuren hat es Anatol angetan.

Wie man auf dem Photo sieht, kann ich den Saurier gerade noch packen, bevor er – juppheidi – über alle Berge ist. Nachdem ich den Spitzbuben in den sicheren Rucksack gestopft habe, geht die Reise weiter. Heraus darf das Biest erst, als kein Wasser mehr in Sicht ist. Dieses scheint den Saurier geradezu magisch anzuziehen.

Nach dem Mittagessen reiben wir uns erneut dick mit der Sonnencreme ein. Bisher sind keine Rötungen zu verzeichnen, die Hitze wird indessen immer unerträglicher. Die Strecke führt kilometerweit über freies Feld – Schatten suchen wir hier vergeblich.

Bei Bottenau entscheiden wir, den Weg durch die Weinberge und später durch den Wald zu nehmen. Dies bedeutet zwar zunächst einen steileren Aufstieg über Feld- und Waldwege – danach aber eine weitere Fahrt im Schatten. Diese Wahl erscheint uns allen einhellig als die bessere, denn unter der brennenden Sonne werden Temperaturen um 50°C erreicht.

Unser Weg führt uns hier in den rettenden, schattigen Wald, wo wir – erschöpft und überhitzt – eine Rast einlegen:

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Aufstieg in den Weinbergen!

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Der Blick über die Weinberge ist wunderschön.

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Anatol schafft den steilen Anstieg nur mit Mühe.

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Der Wasservorrat ist aufgebraucht.

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Erschöpft sitzen Anatol und ich neben unserem Fahrrad.

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Dennoch sind wir guten Muts, auch den Rest der Tour problemlos zu schaffen!

Unsere Wasservorräte sind nun zuende. Wir müssen sie, so bald es geht, wieder auffüllen. Um schnell zur nächsten Wasserstelle zu kommen, satteln wir die Fahrräder und nehmen unsere Route wieder auf, zunächst auf einem asphaltierten Weg durch den Wald, dann einen steilen Feldweg hinauf zum Gipfelkreuz.

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Anatol lenkt das Rad

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Auf der Suche nach dem Schatz der Sierra Madre

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Wieder Rast in den Weinbergen

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Das Gipfelkreuz

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Man sieht, wie steil es hier bergab geht.

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Von der Anstrengung etwas errötet

Nachdem wir das Gipfelkreuz erreicht und hinter uns gelassen haben, geht es bergab. Wir genießen die Fahrtluft und lassen uns erschöpft ins Tal rollen. Nicht ganz in der Talsohle angekommen treffen wir auf zwei Wanderer, die wir nach dem Weg zum Schloss Staufenberg fragen.

„Da geht es sehr steil hinan!“ warnt uns die Wandersfrau. Der Wandersmann bestätigt dies. „Sie werden schieben müssen.“ „Aber es lohnt sich!“ ruft uns die Wandersfrau nach, während wir winkend weiterfahren, dem Tal entgegen.

Die nächste Steigung wartet hinter der Kurve auf uns. Sie führt in den tiefen Wald hinein,  und ist so steil, dass das Fahrrad auf dem Schotter des Waldwegs wieder nach unten rutscht, wenn man es nicht sehr festhält.

Anatol zetert aus dem Rucksack heraus, der Aufstieg zum Schloss sei eine reine „Phantasterei“ und unmöglich zu schaffen. Man habe es ja gehört, was die Wandersleute gesagt hätten! Es sei zu steil, zu schwer, dazu noch ohne Wasser … dann gehen dem Saurier die Worte aus – ihm ist einfach zu heiss. Ich stopfe ihn ohne Vorwarnung in den Fahrradkorb, wo er zumindest etwas mehr frische Luft abbekommt als im Rucksack.

Plötzlich fängt das Tier doch wieder an, Spektakel zu machen. „Anhalten! Stop! Halt!“ krakeelt es. „Da ist ein Teufel auf dem Stein!! Und da steht etwas dabei! Das will ich lesen!“

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Die Sage vom Teufelsstein

Tatsächlich entdecken wir eine Steintafel, die uns über den sogenannten Teufelsstein aufklärt.

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Anatol auf dem Teufelsstein

Anatol will selbstverständlich sowohl auf dem Sagenstein als auch auf dem „echten“ Teufelsstein abgebildet werden. Denn Anatol behauptet, dass der Held der Geschichte gar nicht St Wendelin, sondern in Wirklichkeit St Anatol sei, der dem Teufel damals den Stein in Butter verwandelt habe, so dass er damit kein Unheil habe anrichten können.

Auf meine Bitte, dass St Anatol doch jetzt gleich unsere leere Wasserflasche in eine volle verwandeln möge, antwortet Anatol mit einem verächtlichen Schnauben. Die Wasserflasche bleibt indessen leer.

Die letzten Meter bis zur Terrasse von Schloss Staufenberg sind fast unüberwindbar steil.

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Die Schlossterrasse

Aber wir schaffen es – zitternd vor Anstrengung lassen wir uns auf die Klappstühle des Schlossrestaurants fallen. Dann lassen wir uns mit Apfelschorle und Eis bewirten.

Der freundliche Kellner sieht unsere geröteten Gesichter und empfiehlt uns, eine lange Pause einzulegen und sehr viel Flüssigkeit zu uns zu nehmen. Bei der großen Sommerhitze habe er den Notarzt leider fast täglich im Einsatz unter den radfahrenden Gästen – und nicht jeder Einsatz gehe positiv aus.IMG_3921

Wir schlucken. Als der Kellner weg ist, beginnt Anatol, Zeter und Mordio zu schreien! Wie wir überhaupt so eine gefährliche Reise hätten unternehmen können – und was, wenn nun der Notarzt nicht schnell genug ankäme?

IMG_3917Ich stopfe dem unmöglichen Biest mit Erdbeereis das Maul, so sitzt es schmatzend auf dem Tisch und hat den Notarzt schnell vergessen.

Danach studieren wir die Geschichte des Schlosses und genießen den leichten Wind, der hier oben geht.

IMG_3919 Am späteren Nachmittag treten wir den Rückweg an.

Dieser führt uns steil abwärts durch die Weinberge. Mehr als einmal sage ich mir, wie gut es war, die Bremsbeläge zu erneuern. Die alten waren fast bei der metallenen Einfassung angelangt …

IMG_3916So kommen wir gegen 18 Uhr in Offenburg an, wo leider unsere Radtour schon zuende ist. Wie jedes mal ist der Tag viel zu schnell vergangen.

Der August und unsere Ferien sind aber noch lang.

Vielleicht schaffen wir ja noch eine Radtour dieses Jahr?

131. Kapitel – Abenteuerferien in Britisch Kolumbien

„Quicquid aetatis retro est, mors tenet“

Anatol und Elie haben mich so lange bearbeitet, bis ich nachgegeben habe. Wir werden das alte Kanada-Tagebuch von Susanne & Judith aus dem Jahre 1985 in seinem Original hier im Blog veröffentlichen. Die Beiträge stammen teils von mir (damals 16 Jahre alt) teils von meiner Schwester Judith (damals 13).

Das Tagebuch beginnt mit einem Photo meines Vaters, der uns mitten in der kanadischen Wildnis das Frühstück zubereitet. Auf diesem Bild ist mein Vater genau so alt wie ich heute… wie konnten 30 Jahre so schnell vergehen?

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Sonnabend, den 13.7.85
Endlich ist es soweit! Heute sind wir nach Kanada geflogen. Pünktlich zur Abfahrt ist der Photoapparat kaupttgegangen. Die Batterien waren alle. Weil wir wie üblich zu spät gekommen sind, bekamen wir einen Platz in der „Executive classe“.

Sonntag, den 14.7.85
Wir wollten heute das Auto kaufen…

Hier schaltet sich Elie ein. „Wieso wolltet Ihr denn in Kanada ein Auto kaufen?“ Die Frage ist berechtigt. Ich erkläre die Autofrage: „In Amerika – und dazu gehört Kanada – kann man ohne Auto nichts unternehmen. Die Entfernungen sind so groß, dass man es sich hier schwer vorstellen kann. Wir brauchten also unbedingt ein Auto. Die Automietpreise waren sehr hoch, so haben wir das Auto lieber gleich gekauft. Bevor wir zurückgeflogen sind, haben wir es einfach wieder verkauft. So macht man das dort.“

Es geht weiter im Tagebuch:

Papa hat sich an der Rezeption erkundigt, ob die Geschäfte sonntags aufhaben. Das Mädchen an der Rezeption (Diane) hat ihren Vater (Fred) angerufen, und der hat mit uns das Auto gekauft. Überhaupt sind alle Leute hier sehr hilfsbereit und freundlich.

IMG_3800Montag, den 15.7.85
Heute sind wir zum Cariboo District aufgebrochen! Fred hatte uns empfohlen, dorthin zu fahren und hat uns seinen Grill mitgegeben (für unseren gibt es hier keinen Sprit). Abends waren wir in Chilliwack (Motel mit Schwimmbad!).

IMG_3782Dienstag, den 16.7.1985
Einkauf in Chilliwack (Badehose für Papa). Dann sind wir weiter in Richtung Norden gefahren. Am Abend haben wir zum ersten Mal das Zelt aufgeschlagen, gleich in der Nähe vom Fraser River.

Mittwoch, den 17.07.1985
Die Gegend ist einfach trostlos. Heute morgen sind wir zum Fraser River gegangen, um Gold zu waschen. Nach kurzer Zeit hatten wir welches gefunden! Der ganze Sand steckte voller Goldstaub. Leider konnten wir es einfach nicht vom Sand trennen. Nach einem Bad im Fraser River sind wir abgefahren. Das Land glich einer Wüste, und die Hitze war unerträglich. Seltsamerweise gab es hier überall Geschenkläden und Gewürzstände.

IMG_3863Die sogenannten Städte bestehen aus aneinandergereihten Eisenbahnwaggons. – Eine besonders kleine Stadt war Spuzzum. Einige Meter vor der „Stadt“ sahen wir das Schild „Entering Spuzzum“ und „Welcome“. Dann sahen wir eine verfallene Hütte, eine Tankstelle und viel Müll. Daraufhin kam das Schild „Thanks for visiting Spuzzum“ und das wars. Die Orte Ashcroft und Cache Creek werden hier besser nicht erwähnt, mit Rücksicht auf die Einwohner. – Endlich waren wir am Cariboo. Schreckliche Enttäuschung: es war Taiga. Verkrüppelte Birken und Tannen.

Donnerstag, den 18.7.1985
Die Nacht am Green Lake war sehr kalt. Das fanden auch die Wölfe, deshalb heulten sie wohl so. Morgens wurde es sehr heiss, weil die Sonne aufs Zelt schien. Da der Campingplatz nur mit Plumpsklo ausgerüstet war und die Nachbarn laute Popmusik erschallen ließen, verließen wir diesen Ort nach einem Bad im See schleunigst.

IMG_3864IMG_3785Wir nahmen die Route nach Kamloops, wo wir einen Provincial-Park fanden, auf dem wir blieben. Leider war der Untergrund aus Schotter, in den wir unsere Heringe nicht reinkriegten. Deshalb haben wir das Zelt im Wald aufgebaut. Wir waren gerade fertig, da kam der Campinggroundfritze und befahl uns, das Zelt wieder auf dem Schotter aufzubauen. Dafür sind wir auch gleich am nächsten Morgen wieder abgefahren.

Anatol hat bis hier stillgehalten. Jetzt rutscht er aufgeregt hin und her und will Einzelheiten wissen. Ich unterbreche meinen damaligen Bericht also und lasse Anatol ein paar Fragen stellen.

„Wieso haben da Wölfe geheult!? Gibt es da einfach so Wölfe draußen? Das ist doch toll! Wieso seid Ihr nicht an diesem See geblieben? Der sieht auf den Photos wunderschön aus! Ich verstehe nicht, dass Ihr jeden Tag weitergefahren seid und warum Deine Erzählung so … enttäuscht klingt!“

Das muss ich in der Tat erklären. Warum erschien uns das lang erträumte Kanada, als wir endlich da waren, so unwirtlich und öde? Die Antwort ist einfach: weil wir uns über Jahre etwas ganz anderes unter „Abenteuerferien in Kanada“ vorgestellt hatten.

Unsere Reise nach Kanada hatten wir uns seit Jahren ausgemalt. Wir hatten uns große Wälder und unberührte Landschaften erdacht – unbewusst mit dem Bild eines gigantischen Göttinger Hainbergs im Kopf. Dass Kanada möglicherweise kein größeres Südniedersachsen war, war uns nicht in den Sinn gekommen. Umso schlimmer war die Enttäuschung, als sich die Wirklichkeit als ganz anders als die Traumvorstellung herausstellte.

Anatol bemerkt spitz: „Na ja, aber wie kann man denn so – pardon – hirnverbrannt sein und sich vorher nicht erkundigen über das Land, in das man fährt?“

Ich seufze. „Wir hatten uns ja „erkundigt“. In Büchern wie „Kleines Haus im großen Wald„, „Arundel„, „Die Nordwestpassage“ usw. Wir hatten alle möglichen Abenteuerromane gelesen, die dort spielen. Ich gebe zu, dass es sich hierbei nicht um die einschlägige Reiseliteratur handelt. Um die hatten wir einen großen Bogen gemacht.“

Anatol schnaubt. „Da sind wohl drei Hornochsen auf Reisen gegangen!“ Ich möchte dazu nichts sagen (meine Mutter hatte sich damals ähnlich geäußert und hatte im Übrigen davon abgesehen, mitzukommen) und fahre fort in meinem Reisebericht.

Freitag, den 19.7.1985
Wir haben noch keinmal Mittag gegessen – wir hatten einfach keine Zeit. Heute sind wir ins Okanagan Tal gefahren. Dort soll es schön sein. Pustekuchen! Es war noch schlimmer als vorher und vor allem heißer. Am Kalamalka-See haben wir übernachtet. Er war warm und sehr dreckig.

Sonnabend, den 20.7.1985
Heute kamen wir an einem tollen See vorbei! Man hätte sicher toll baden können. Um zum Strand zu kommen, mussten wir über Privatgebiet gehen. Sofort wurden wir von Häschern ergriffen und zurückbefördert. – Dann kamen wir durch eine „Stadt“, in der es ein englisches Antiquitätengeschäft gab. Wir hielten sofort an. Das Geschäft gehörte einer netten älteren Dame, die Engländerin war. Sie hatte über Britisch Kolumbien genau dieselbe Ansicht wie wir: keine Bäume, keine Städte, keine Kultur. Hier können wir nicht wohnen. Den Traum vom Grundstück haben wir sowieso schon aufgegeben.

Hier mischt Elie sich ein. „Das kann doch gar nicht stimmen, dass es in Britisch Kolumbien keine Bäume gibt! Du übertreibst doch wieder einmal maßlos!“

Ich gebe zu, dass es natürlich in der von uns besuchten Gegend Britisch Kolumbiens auch Bäume gegeben habe. Vereinzelt! Die Region, in die wir gefahren waren, ist aber – dies sagten uns die Anwohner dort – in den vergangenen Jahrhunderten restlos abgeholzt worden. Daher gibt es dort keine Wälder mehr. Man nennt die Gegend auch „Das Arizona Britisch Kolumbiens“. Um in die großen Wälder zu kommen, hätten wir viel weiter nach Norden fahren müssen – noch weiter als zum Green Lake. Dort hatten nachts indessen die Wölfe geheult, was unseren Vater dazu veranlasst hatte, lieber nicht weiter in die Wälder vorzudringen. Bezeichnenderweise waren wir die Einzigen, die im Zelt campten – alle anderen Camper waren in großen, wolfssicheren Campingwägen untergebracht.

„Aber Wölfe greifen doch keine Menschen auf Campingplätzen in ihrem Zelt an!“ ruft Elie empört. „Wölfe haben dazu viel zu viel Angst vor Menschen!“

Kleinlaut räume ich ein, dass wir das auch gedacht hatten. Wenn allerdings nachts die Wölfe um den Campingplatz schleichen und laut heulen, überlegt man es sich zweimal, ob man – darauf vertrauend, dass der Wolf viel mehr Angst hat als man selbst – das Zelt verlässt, um sich auf das 50m entfernte Plumpsklo zu begeben – oder ob man lieber vor Furcht zitternd weiter im Zelt einhält. Beides sind keine zufriedenstellenden Alternativen. So waren wir lieber nicht am Green Lake geblieben und in etwas großzügiger bevölkerte Landstriche – ohne Wölfe – gefahren.

Anatol will nun noch wissen, was es denn mit dem „Traum vom Grundstück“ auf sich hatte.

„Wolltet Ihr etwa auswandern?“ fragt er erstaunt.

Der Traum vom Grundstück hing mit dem geopolitischen Hintergrund der 80er Jahre zusammen: dem kalten Krieg – und erklärte sich auch aus den persönlichen Kriegserfahrungen meiner Eltern. Auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs baute sich damals das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens auf. Dieses sollte uns vor dem Atomkrieg schützen.

Was den damaligen Strategen als „bombensicher“ erschien, war dem einfachen Bürger indessen suspekt – ist doch ein „Gleichgewicht des Schreckens“ ein nicht gerade vertrauenerweckendes Konzept. Jede Seite des „Gleichgewichts“ hätte die Erde 100fach zerstören können – keine angenehme Aussicht. Manche Menschen richteten sich Atombunker unter dem Keller ein und statteten diese mit tausenden Rollen Toilettenpapier und Brühwürfeln aus. Andere erklärten ihr Haus schlicht zur „atomwaffenfreien Zone“, politisch Aktive gingen auf die Straße und demonstrierten. Meine Eltern sahen es als das Sicherste an, im Notfall die Füße entscheiden zu lassen und einfach „abzuhauen“. Die Frage war: wohin? Dies hatte mein Vater getreu einem alten deutschen Motto so beantwortet: ganz tief hinein in den Wald, wo einen niemand findet. Da der größte Wald in Kanada zu erwarten war, war die Wahl auf dieses Land gefallen. Selbst meine Großmutter hatte den Plan des ansonsten von ihr angehimmelten Sohnes damals als „Phantastereien“ bezeichnet – was uns jedoch von dem Kanada-Projekt nicht abgehalten hatte.

Kopfschüttelnd murmelt Anatol „Wie kann man nur so …“ und verstummt gnädigerweise. Dann lässt er mich fortfahren:

Sonntag, den 21.7.1985
Heute wollen wir zurück an die Küste. Dort ist es immer noch am schönsten. Zum Glück haben wir einen schönen Camping-Platz gefunden.

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Montag, den 22.7.1985
Nach Vancouver! Dort haben wir uns noch Grundstücke angesehen, die aber viel zu teuer waren. Abends haben wir gegrillt und sind dann ins Bett gegangen.

Dienstag, den 23.7.1985
Wir haben heute unseren Campingplatz gewechselt. Jetzt sind wir auf einem Platz direkt am Meer. Susanne hat ein Floß gebaut und ist damit umhergeschippert. Leider ist es wieder kaputtgegangen. Dieser Tag war bisher der schönste.

Wir haben eine Ente gefüttert und eine Ente mit ihren Jungen beobachtet. Ein kleines Entchen ist in eine Muschel getreten. Die Muschel hat sich geschlossen und hat das Füßchen der Ente eingeklemmt. Papa konnte das Entchen fangen und es von der Muschel befreien.

IMG_3873Mittwoch, den 24.7.1985
Heute nachmittag sind wir einkaufen gefahren. Bei der Rückfahrt hätte es beinahe einen Unfall gegeben. Dieses Auto hat nämlich keine Kupplung. Genau an der Stelle der Kupplung sitzt die Bremse. Papa wollte in den Leerlauf schalten und hat versehentlich auf die „Kupplung“ getreten. Da es aber die Bremse war, haben wir bei 60 m/h eine Vollbremsung gemacht. Das Auto hat sich quergestellt und es war ein Glück, dass hinter uns kein Auto war.

Donnerstag, den 25.7.1985
Am Nachmittag haben wir heute sehr nette Leute getroffen, mit denen wir uns lange unterhalten haben. Dabei haben wir alle Sonnenbrand gekriegt. Susanne hat abends angefangen, ein kleines Schiff zu bauen.

IMG_3866Freitag, den 26.7.1985
Wir wollten heute einen Ausflug in den Garibaldi-Park machen und im Garibaldi-See baden. Leider wurde nichts daraus. Wir haben auf einem verkehrten Parkplatz geparkt und sind zwei Stunden lang durch die Wildnis in einer „Hazard-Area“ (Steinschlaggebiet) gewandert. Es ging steil bergauf und war furchtbar anstrengend. Papa hat dann noch in einem Wildwasser gebadet.

Samstag, den 27.7.1985
Heute mittag sind wir an den Strand gegangen. Susanne und ich haben einen tollen Flipper gefunden, mit dem wir um die Klippe geschwommen sind. Bei der Rückkehr kamen wir in eine Strömung, die wir jedoch mit einiger Anstrengung durchschwimmen konnten.

Als wir abends nochmal mit Papa die gleiche Tour machten, war die Strömung ungeheuer stark geworden, da die Ebbe eingesetzt hatte. Sehr lange Zeit paddelten wir immer auf der selben Stelle, ohne auch nur einige Zentimeter vorwärts zu kommen.

Sonntag, den 28.7.1985
In unserer Kasse herrscht seit längerem Ebbe. Wir dürfen jeden Tag 14 Dollar ausgeben. Das reicht meistens nicht. Wie müssen uns auf die einfachsten Grundnahrungsmittel beschränken.
Vormittags war Waschtag: Papa hat Anziehsachen und seine Haare gewaschen.

Montag, den 29.7.1985
Heute war ein sehr ereignisreicher Tag. Wir wollten nach Vancouver fahren, um dort ein antikes Salzfässchen zu suchen …

Hier unterbricht Elie mich. „Gerade vorher hieß es in dem Tagebuch, Ihr hättet kein Geld mehr fürs Essen! Wieso wolltet Ihr dann ein „antikes Salzfässchen“? Das klingt für mich sehr seltsam.“

Was Elie nicht weiss: natürlich gab es noch Geld für das Essen. Es sollte aber nicht für so unnütze Dinge wie Essen ausgegeben werden, sondern für „echte Werte“, also Antiquitäten wie z.B. das Salzfässchen. Um das zu verstehen, muss man bei meinem Vater aufgewachsen sein.

Das ist Elie nicht. Er empört sich: „Wie kann man seine Kinder hungern lassen, aber dann antiken Krempel kaufen!“ Ohne es zu wissen, spricht Elie hiermit aus, was meine Mutter meinem Vater nach den „Abenteuerferien“ an den Kopf geworfen hatte – und wogegen sich mein Vater mit den Worten verwahrt hatte, es habe jeden Tag Nudeln, Reis und Cornflakes gegeben und niemand habe Hunger leiden müssen.

Anatol steht der Mund offen. Er kann es nicht fassen. „So etwas habe ich in meiner immerhin mehrere Jahrhunderte umfassenden Butlertätigkeit noch nie gehört“ kann er nur kopfschüttelnd flüstern.

Ich stelle klar, dass „Hungernlassen“ nicht die ganz korrekte Beschreibung dessen ist, was damals in Kanada stattgefunden hatte. „Ein eingeschränkter Speiseplan unter ersatzloser Streichung des Mittagessens“ kommt der Realität näher.

Konsterniert folgen die Saurier weiter meiner Erzählung:

… um dort nach einem antiken Salzfässchen zu suchen. Mittags waren wir essengehen [Anm. Anatol: Endlich!!]. Was uns dabei in einem chinesischen Restaurant passiert ist, kann man in unserem Originaltagebuch nachlesen [Anm. Susanne: wir haben dort nur Knochen mit Sauce serviert bekommen, es war ein sehr seltsames Restaurant.]

Am Abend fanden wir am Auto wieder ein Knöllchen: So ein Mist!

Dienstag, den 30.7.1985
Heute sind wir nach Vancouver-Island gefahren, wo es sehr schön sein soll. Denkste! Es war furchtbar. Überall standen „Eisenbahnwaggons“ (Wohnungen) und der ganze Wald war abgestorben. [Anm. Susanne: wie wir später erfuhren, war die gesamte Insel kurz vorher einem Waldbrand zum Opfer gefallen; das war der Grund dafür, dass man kilometerweit nur heruntergebrannte Baumstrünke sah.] Wir sind durch die ganze Insel gefahren – es war überall gleich. Schließlich blieben wir auf einem Campingplatz bei Tofino. Das Schönste waren die tollen Wellen am Strand. Abends sind wir um 8 Uhr ins Bett gegangen, weil es draußen so schlimm aussah.

IMG_3867 IMG_3868Mittwoch, den 31.7.1985
Nichts wie weg aus dieser trostlosen Gegend! Wir fuhren schurstracks nach Nanaimo und setzten über nach Horseshoe-Bay. Auf unserem geliebten alten Campingplatz fanden wir einen „Walk-in-Site“.

IMG_3869Donnerstag, den 1.8.1985
In der Nacht hat es geregnet, so dass heute morgen alles vernebelt war. Wir fuhren nach Vancouver, um Antiquitätengeschäfte zu suchen, die wir aber nicht fanden. Man empfahl uns, nach Granville zu fahren, wo wor dann auch zwei Salzfässchen und eine Mokkakanne kauften.

Freitag, den 2.8.1985
Keine besonderen Vorkommnisse zu vermerken.

IMG_3870Samstag, den 3.8.1985
Drei kleine Jungen hatten einen armen Fisch gefangen, den sie begutachteten und ziemlich gemein behandelten. Sie schleppten ihn von einer Stelle zur anderen, wobei meist der Kleinste (von uns „die Puppe“ genannt, weil er so süß aussah) den Fisch trug. Uns tat der Fisch leid. Als die beiden Größeren die Puppe einmal allein gelassen hatten, bewegte sich der Fisch. Die Puppe erschrak sehr und ließ den Fisch fallen. Auf ihren winzigen Beinchen lief sie weg, um Hilfe zu holen. Die Abwesenheit der Puppe nutzten wir, um den Fisch zu holen und zu befreien. Zuerst dachten wir, er sei tot, aber nach kurzer Zeit schwamm er weg. Dann kam die Puppe wieder und wollte ihren größeren Brüdern den Fisch zeigen. Der war aber weg. Als die großen Brüder das sahen, wurden sie fuchsteufelswild. Zum Glück konnte sich die Puppe vor der Wut der Brüder zu den Erwachsenen retten. Weitere Fische wurden in unserem Beisein nicht mehr gefangen!

IMG_3872Montag, den 5.8.1985
Heute waren wir nur am Strand. Von einer Klippe aus konnten wir einen Seehund beobachten!

Dienstag, den 6.8.1985
Wir sind wieder in die Stadt gefahren. Dort fanden wir eine wunderschöne Uhr, eine sogenannte Pendüle. Sie hatte einen Glassturz, der wunderschön war, aber schwierig zu transportieren.Die Nacht war heute sehr unangenehm. Zuerst ist Susanne von einer Hummel gebissen worden, sich in ihrem Schlafsack versteckt hatte. Dann kam ein schreckliches Gewitter. Mir war furchtbar schlecht und ich musste spucken, direkt vor’s Zelt. Papa hat das dann mit Meerwasser weggespült, wobei er selbst ganz naß wurde. Keiner von uns konnte schlafen und wir waren am nächsten Morgen hundemüde.Mittwoch, den 7.8.1985
Ich war heute krank, während Susanne und Papa den größten Teil unserer Sachen eingepackt haben.

IMG_3871Donnerstag, den 8.8.1985
Ich bin  jetzt wieder gesund und wir haben den Rest eingepackt. Um halb 12 sind wir vom Campingplatz abgefahren. Dann waren wir beim Flughafen, bei Fred und jetzt beim Autohändler (Carter), dem wir nämlich das Auto verkaufen wollen. – Wir haben das Auto an Fred verkauft. Fred hat uns einen viel besseren Preis geboten als Carter. Dann sind wir mit Fred durch die Stadt gefahren und haben uns noch einiges angesehen: die Simon-Fraser-Universität, einen Park, Freds Boot, das ganz toll ist, mit allem Komfort.

Freitag, den 9.8.1985
Heute, an unserem letzten Tag hier, haben wir noch Platten gekauft: die Chaconne von Vitali mit Jascha Heifetz, die Violinsonaten von Bach mit Glenn Gould (!) und Jaime Laredo und eine Platte mit Szigeti. Dann sind wir zum letzten Mal Fish and Chips essen gegangen, lecker!
Im Flugzeug bekamen wir leider nur einen Platz in der Sardinenklasse.
In Frankfurt ist der Glassturz kaputtgegangen. Wir waren am Boden zerstört. Am liebsten hätten wir alle geweint. So war unsere Ankunft zu Hause von einem traurigen Ereignis überschattet. Wir haben uns aber entschlossen, einen neuen Glassturz blasen zu lassen.

Hier endet das Kanada-Tagebuch.

Anatol und Elie sehen mich schweigend an. Elie kratzt sich am Kopf, Anatol sucht nach Worten. Schließlich meint er: „Wisst Ihr, dass Ihr in Eurer Familie vollkommen durchgeknallt seid? Schon bis zu einem gewissem Grade liebenswert … – aber unzweifelhaft und definitiv meschugge.“

Ich äußere mich dazu diesmal nicht.

130. Kapitel – Unfreiwilliger Urlaub

Ich bin bis auf weiteres vom Dienst suspendiert.

Am Mittwoch werde ich aus meinem Büro gerufen und zur Personalchefin „gebeten“. Dort eröffnet man mir, eine interne Untersuchung habe unzweifelhaft ergeben, dass der Hackerangriff der vergangenen Woche vom Laptop in meiner Wohnung ausgegangen sei. Wie dies möglich sei, könne man sich nicht erklären, da ich zur Zeit des Angriffs nachweislich nicht zu Hause, sondern im Büro gewesen sei.

Da ich jedoch offenbar unbefugten Personen Zugang zu meinem Laptop gewährt habe – oder aber letzteres nicht ausreichend gesichert habe – sei man gezwungen, mich vorerst aus dem Dienst zu entfernen. Die unfreiwillige Pause werde andauern, bis man die Schuldigen überführt habe. Über weitere arbeitsrechtliche Konsequenzen werde man dann nachdenken. Mein Gehalt sei bis auf weiteres „eingefroren“.

Darauf bittet man mich, meinen Arbeitsplatz umgehend zu räumen.

Wie betäubt begebe ich mich zu meinem Chef und meinen Kollegen, die mir fassungslos einen Karton mit meinen Sachen übergeben.

Dann verlasse ich das Haus.

Auf dem Heimweg schwankt mein Befinden zwischen Verzweiflung und unbändiger Wut. Die Schuldigen – die ich natürlich der Personalchefin nicht nennen kann – sind mir bekannt: es handelt sich um meine Haussaurier, die offenbar ausgedehnte Hacking-Aktivitäten entfaltet haben, während ich bei der Arbeit war.

Als ich die Tür aufschließe, höre ich ein leises Rascheln – das Geräusch, welches entsteht, wenn recht kleine Wesen unter einem Bett oder Schrank verschwinden. Ich entschließe mich, die Übeltäter nicht zu beachten. Nachdem ich Wasser aufgesetzt habe, um mir einen Tee aufzubrühen, setze ich mich auf den Küchenboden und fange an, zu weinen. Meine Arbeit ist weg – wovon sollen wir nun leben?

Eine flauschige Pfote tatzelt mich. Es ist Elie. Er ist unter dem Bett hervorgekrochen und sieht so schuldbewusst aus wie noch nie. Anatol sitzt betreten mitten im Flur.

„Es tut uns so leid…“ flüstert Elie. „Wir wollten doch nur Ferien in Deinem Urlaubsmanager-Tool eintragen, weil Du so überarbeitet bist…“ Er beginnt zu weinen. „Edouard hatte dafür so einen USB-Stick dabei… ja, da muss irgendwie ein fieser Hacking-Virus drauf gewesen sein.“ Elie schluchzt. „Und was machen wir jetzt?“

Ich weiss es nicht. Während mir die Tränen übers Gesicht laufen, lasse ich mich einfach auf den Küchenboden gleiten. Dort bleibe ich regungslos liegen. Ohne meine Arbeit bin ich erledigt.

Anatol scharrt unschlüssig mit den Tatzen auf dem Parkett. Dann knurrt er: „Also ich finde es ungerecht! Wie können die Dich einfach suspendieren, obwohl Du doch für den Virenangriff gar nichts kannst! Nach allem, was Du für die getan hast, und Dich halb totgearbeitet hast!“ Nun hat sich das Tier in Rage geredet: voller Wut zetert es los: „Denen zeig ichs, das wirst Du noch sehen! Die dürfen Dich gar nicht einfach so rausschmeißen, ohne Gehalt und so! Die spinnen doch! Ich ruf jetzt Deinen Chef an und erklär ihm alles. Der wird sich bestimmt für Dich einsetzen!“

Ich verbitte mir jegliche weitere Einmischung in meine beruflichen Angelegenheiten. Dann schleppe ich mich bis ins Schlafzimmer, falle ins Bett und schlafe ein.

Am späten Nachmittag schrillt das Telephon und reisst mich aus einem bleiernen Schlaf. Mein Kopf dröhnt – zu allem Übel hat sich nun noch eine böse Migräne hinzugesellt. Ich hebe ab.

Am Telephon ist mein Chef. Er eröffnet mir als erstes, dass meine Suspendierung aufgehoben sei. Nachdem er und die Kollegen eine erneute Untersuchung gefordert hätten, sei der EDV aufgefallen, dass der angebliche Hackingangriff nur der untaugliche Versuch gewesen sei, von außen auf das Urlaubsmanagement-Tool Zugriff zu nehmen. Der Zugang von außen sei technisch zwar nicht ausgereift, aber seine Nutzung sei auch kein verbotener Eingriff. Dass dabei ein zur Zeit umgehender Informatik-Virus in die firmeneigene EDV eingeschleust worden sei, sei ein unglücklicher Zufall gewesen, der bei jedem befugten Zugriff hätte passieren können. Die Suspendierung sei daher nicht berechtigt gewesen und auch bereits aufgehoben. Dennoch solle ich erst am kommenden Montag wieder zum Dienst erscheinen, da ich nach der Aufregung dringend ein paar Tage Urlaub benötige.

Die Erleichterung, die ich verspüre, kann ich nicht in Worte fassen. Ich schaffe es, mein Migränemedikament aus der Hausapotheke herauszukramen, trinke eine halbe Tasse Tee und lege mich zurück ins Bett.

Als ich am Abend wieder aufwache, höre ich Stimmen im Treppenhaus. Die Saurier sind dabei, den Keller aus- und aufzuräumen: eine Fronarbeit, die eigentlich für die Sommerferien (und für mich…) vorgesehen war. Vom schlechten Gewissen getrieben haben die beiden Missetäter offenbar einiges in Ordnung zu bringen …

Ich schalte das Radio ein und setze mich aufs Sofa. Den heutigen Tag möchte ich so schnell es geht aus meinem Gedächtnis streichen.

Nun kommen die Butler aus dem Keller hochgestürmt. „Wir haben was gefunden!“ kräht Elie. „Ein ganz altes Heft! Guck mal hier – aus Kanada kommt es …“

Ich bin sprachlos. Die Saurier haben das alte Kanada-Tagebuch, das meine Schwester und ich 1985 nach unseren Abenteuerferien in British Columbia verfasst hatten, wiedergefunden! Die Schrift ist vergilbt, die Photos verschossen … aber man kann alles lesen und die Photos sind auch nach so langer Zeit noch schön.

Nun fällt mir auf, dass das Buch 30 Jahre alt ist. Unsere Reise ist eine Ewigkeit her…

Anatol findet das allerdings nicht. Für jemanden, der dem Oberjura entstammt, sind 30 Jahre ein Wimpernschlag.

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129. Kapitel – Hackerangriffe

Mein heutiger Arbeitstag ist zuende, noch bevor er begonnen hat. Um 7 Uhr zuverlässig im Büro knipse ich meinen Computer an – und finde im Gegensatz zu meinem üblichen Schreibtischhintergrund eine große, rote Warnmeldung auf dem Bildschirm:

„Ihr Arbeitsplatz wurde gehackt. Bitte loggen Sie sich nicht ein und melden Sie sich umgehend bei Ihrer EDV.“

Ich runzle die Stirn. Wer soll denn meinen Computer im Büro hacken? Beunruhigt greife ich zum Telephonhörer und rufe die firmeninternen Informatiker an.

Der freundiche EDV-Kollege eröffnet mir, dass ich gleich wieder nach Hause gehen dürfe. Die Arbeiten auf dem Server, der einem massiven Hacker- und VIrenangriff ausgesetzt war, würden den gesamten Tag in Anspruch nehmen. Vermutlich müsse die ganze Abteilung heute aus technischen Gründen „aussetzen“.

Ich bin entsetzt. Was wird aus meinen Eilfällen? Meinen kartellrechtlichen Erörterungen, die für heute erwartet werden? Der Kollege hat darauf nur eine Antwort: „Keine Ahnung. Der Server ist jedenfalls down. Auf dem kannst Du bis auf weiteres nichts mehr machen.“

Der Chef stürmt in mein Büro. „Mein Computer ist weg! Was ist hier los?“

Ich erkläre in knappen Worten die missliche Situation. Ratlos sehen wir uns an.

Kurze Zeit später erscheint die Kollegin von der EDV und verhängt einen sofortigen Arbeitsstopp. Alle Rechner seien bereits heruntergefahren und vom Netz genommen worden. Die Mitarbeiter bekämen heute einen „Zwangs-„Urlaubstag. Am Montag sei der Schaden vermutlich wieder behoben.

Trotz der ärgerlichen Sachlage (ich muss mich eigentlich um gewisse Vorgänge dringend kümmern) fühle ich mich so wie damals in der 3. Klasse, als es ein einziges Mal Hitzefrei gegeben hatte. Nachdem mein anfänglicher Verdruss verflogen ist, gehe ich fröhlich pfeifend nach Hause. Es gibt wahrlich Schlimmeres, als einen Tag nicht zu arbeiten!

Zuhause empfangen mich – überraschenderweise – zwei ungemein servile und bemühte Saurier. Noch bevor ich die Wohnung betrete, werden mir die Schuhe ausgezogen und Jacke und Tasche abgenommen. Die Teekanne steht auf dem Stövchen und ein zweites Frühstück steht bereit.

Was ist hier los? Hatten die Butler etwa mit meiner Rückkehr gerechnet?

„Nein nein!“ beeilt sich Anatol – etwas scheinheilig, wie ich finde – zu erklären. „Edouard ist doch bei Euch in der Kantine, für seinen Sommerjob. Er hat uns angerufen, dass bei Euch Virenalam ist – oder sogar Hackingangriff.“ Übertrieben fidel fügt er hinzu „Aber das ist ja auch ganz egal, was das ist. Die Hauptsache ist, dass Du jetzt frei hast!“

Elie nickt überschwenglich. „Dieses Hacking ist richtig super, finde ich!“ Danach verstummen die Saurier und sehen beklommen zu Boden.

Misstrauisch beäuge ich die Butler. Woher wissen sie so viele Einzelheiten? Die Kantine war von dem Angriff nicht betroffen, das weiss ich von den Kollegen. Edouard kann im Grunde davon nichts mitbekommen haben.

Ich räuspere mich.

Die Saurier beginnen nun, zu stammeln. Anatol zischelt Elie, der so aussieht, als wolle er in Tränen ausbrechen zu, er solle „die Klappe halten“.

Die Untiere verbergen etwas vor mir, das ist eindeutig. Hatten sie vor, heute etwas Verbotenes zu unternehmen, und wurden nun unerwarteterweise von mir unterbrochen?

Laut pfeifend macht sich Anatol an die Küchenarbeit. Elie verschwindet unter seiner Bettdecke. Gähnend teilt er mir noch mit, er sei „ja so müde!“

Hier ist eindeutig etwas im Busche. Ich nehme mir vor, das Gesochs ab jetzt gut zu beobachten. Sie werden sich vermutlich sowieso selbst verraten. Ich kenne meine Pappenheimer.

Für den Nachmittag nehme ich mir eine Fahrradtour nach Kehl vor, und danach einen Besuch in meinem Lieblingsladen.

So gesehen hat der Hackingangriff in der Tat etwas Gutes.

Was ist los ?

Hier schreibt Anatol.

Endlich ist es mir gelungen, ihren Zugang zum Blog zu knacken, so dass ich eine Nachricht an meine zahlreichen, geliebten Fans hinterlassen kann!

Was ist hier im Blog los? Seit Wochen kein Beitrag – obwohl ich bitte, bettle und sogar bereits Streik angedroht habe. Gestern habe ich betont abfällig geäußert, dass ihr wohl die Ideen ausgegangen seien und sie deshalb nicht mehr schreibe! Ich hatte gehofft, ihren Ehrgeiz damit anzustacheln … aber: Fehlanzeige!

Sie scheint seit Monaten auf ihrer Arbeit „überlastet“ zu sein. „Burnout-Risiko“ und ähnliche hochtrabende Sachen höre ich, wenn sie mit Kollegen und Freunden spricht. Neumodischer Firlefanz, wenn Ihr mich fragt! Ihr einziges Problem besteht darin, alles perfekt machen zu wollen – auch wenn das gar nicht geht. Sie hat Arbeit für zwei: deshalb hat sie ihren Arbeitstag um fast vier Stunden ausgedehnt. Sie haut um 7 Uhr ab und ist vor 20 Uhr selten zu Hause.

So kann es einfach nicht weitergehen. Der Blog leidet schließlich darunter!

Was mich am meisten ärgert, ist, dass man sie kaum noch ernähren kann. Morgens hat sie oft keine Zeit fürs Frühstück – immerhin nimmt sie noch ein paar Apfelstückchen an. Im Büro isst sie dann Brötchen. Mittags – das weiss ich von Edouard, der dort in der Kantine jobbt – isst sie Pommes mit Ketch-Up: ich könnte an die Decke gehen vor Wut! Am Nachmittag kauft sie sich Schokoriegel am Büdchen, und Abends will sie nichts anderes als ein Scheibchen trockenes Brot.

Diese Person bringt mich zur Weißglut!

Elie, Edouard und ich arbeiten daran, ihren Computer bei der Arbeit zu hacken. Wir wissen, dass es dort eine betriebsinterne Ferien-Software gibt, in der man seinen Urlaub eingibt, damit der Chef ihn genehmigen kann. Sie hat selbstverständlich seit letztem Sommer überhaupt keinen Urlaub genommen. Das wird sich aber jetzt ändern.

Sobald wir die Zugangsdaten haben, tragen wir nämlich dort 4 Wochen Urlaub ein! Wir knabbern zwar noch etwas an der Firewall, aber da kommen wir durch.

Sobald wir es geschafft haben, melden wir uns.

Liebe Fans, bis bald!

128. Kapitel – Kommunion mit Hindernissen

Ein sonniger, warmer Maimorgen bricht an. Nicht irgendein Morgen – nein: heute, am 10. Mai, ist mein Geburtstag. Auch wenn dieser Tag mich daran erinnert, dass ich älter werde, liebe ich meinen Geburtstag. Oft ist es der erste schöne Tag des Jahres. Selbst wenn es regnet: ich habe gern Geburtstag.

Heute ist aber auch aus anderen Gründen ein wichtiges Datum. Jakob, dem dieser Blog gewidmet ist, feiert heute seine Erstkommunion. Dass wir heute nicht bei ihm sind, macht mich traurig. Die Fahrt bis zu Jakob dauert 8 Stunden. Wer soll in meiner Abwesenheit für die Katzen sorgen – Tonio sein Medikament geben, die Kloppereien zwischen Loup und Riri unterbinden und nächtlichen Streit zwischen Noah und Capucine schlichten…? Anatol hatte trotzdem gestern noch böse mit mir geschimpft – es sei eine Schande, dass ich bei der Erstkommunion meines eigenen Neffen nicht zugegen sei. Eine Rabentante sei ich – mehr sei dazu nicht zu sagen.

Kleinlaut hatte ich mich daraufhin in mein Schlafzimmer verkrochen und vergebens nach einer Möglichkeit gesucht, meine Abwesenheit wieder gut zu machen. Dann war ich traurig eingeschlafen.

Als ich aufwache, klappert es bereits in der Küche. Die Saurier sind leise aufgestanden und bereiten ein Geburtstagsfrühstück vor! Ich bin gerührt.

Eben will ich aufstehen und einen Blick in die Küche werfen – schließlich bin ich neugierig darauf, ob die Butler wohl auch Geschenke für mich haben – da klingelt das Telephon. Dies ist am Sonntag – um nicht einmal 8 Uhr – ungewöhnlich.

Bang hebe ich ab. Die Anruferin ist unsere Nachbarin, Annas Mutter. Sie entschuldigt sich vielmals für die Störung am frühen Morgen und schildert ihr Problem, bei dem sie mich um meine Hilfe bittet … heute sei Annas Erstkommunion, und sie erwarte Besuch von Freunden und Verwandten. Richtig – nun fällt es mir wieder ein: Elie hatte gestern, als wir von Jakobs Kommunion gesprochen hatten, erzählt, dass auch Anna heute ihre erste Kommunion feiern würde.

Eine befreundete Familie komme aus Deutschland, und spreche überhaupt kein Französisch. Der als Dolmetscher vorgesehene Student habe eben abgesagt – er liege mit einer Grippe darnieder. Ob ich wohl so freundlich sein wolle, während des Kommunionsgottesdienstes als Übersetzerin zu fungieren? Selbstverständlich sei auch ich zum nachmittäglichen Kaffee und Kuchen mit der ganzen Familie herzlich eingeladen.

Ohne weiter nachzudenken, sage ich zu. Wie will man eine solche Bitte ablehnen? Annas Eltern haben uns mehr als einmal mit Rat und Tat zur Seite gestanden – nun ist es Zeit, sich zumindest ein wenig erkenntlich zu zeigen.

Um halb 10 soll ich mich also vor der Kirche einfinden und dann während des Kommunionsgottesdienst den deutschen Freunden als Simultandolmetscherin zur Verfügung stehen. Hierbei kann ich die Saurier im Grunde gar nicht gebrauchen –  als ich indessen um kurz nach 9 im Sonntagsgewand aus dem Haus schleichen will, krakeelt es laut „Wir kommen mit!“

Ich stöhne. Anna muss Elie per SMS über die bevorstehende Dolmetscheraktion unterrichtet haben; nun sind die beiden Butler nicht mehr zu Hause zu halten. Entnervt stecke ich die beiden Untiere in meine Handtasche, nicht ohne den augenblicklichen Rausschmiß in Aussicht gestellt haben, sollte man während des Gottesdienstes randalieren oder anderweitig stören. Dann begebe ich mich zur Kirche.

Den beiden älteren Herrschaften, die gar kein Französisch sprechen – Heidrun und Friedhelm aus Buxtehude – ist es überflüssigerweise sichtlich peinlich, dass sie meine Dienste in Anspruch nehmen müssen. Zum Glück lenkt uns Anna hier ab: im wunderschönen weissen Kleidchen sieht sie aus wie eine Prinzessin und erklärt den beiden alten Leuten, wo sie sich hinsetzen müssen, um möglichst viel von der Zeremonie sehen zu können. Danach läuft sie zur Gruppe der anderen Erstkommunikanten, winkt uns noch einmal zu – und ist in der Kirche verschwunden.

Kurze Zeit später sitzen wir im Seitenschiff und haben dort tatsächlich einen schönen Blick auf den Altarraum. Langsam füllt sich die Kirche – um 10 Uhr wird der Kommunionsgottesdienst beginnen.

Da – lautes Fluchen ertönt aus meiner Handtasche. Ich zucke zusammen – und versetze der Tasche einen Schlag. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für derlei Respektlosigkeiten! In der Tasche rumort es weiter, ich zische den Sauriern daher eine böse Ermahnung zu. Nun habe augenblicklich Ruhe einzukehren!

„Anatol hat die Kochplatte nicht ausgemacht!“ flüstert Elie. Ich erstarre. Heiser fügt Anatol hinzu „Und ich glaube, auf der Platte steht auch das Plastiktablett noch drauf …“

Panik bemächtigt sich meiner. Während wir hier bei Annas Erstkommunion sitzen, brennt möglicherweise gerade unsere Wohnung ab … blitzschnell fälle ich eine Entscheidung. Ich fische Elie aus der Tasche und drücke ihn Heidrun in die Hand. „Das ist Elie, er ist ebenfalls Übersetzer. Er wird Ihnen alles perfekt auf Deutsch erklären. Ja, er ist ein Stoffdinosaurier, aber als Dolmetscher dennoch recht gut brauchbar. Bei mir brennt es gerade. Ich komme wieder, sobald alles gelöscht ist!“

Hiermit springe ich auf und haste aus der Kirche. Anatol nehme ich mit, um ihn notfalls als Boten einzusetzen, denn per Handy kann ich während des Gottesdienstes nicht mit Heidrun und Friedhelm kommunizieren.

5 Minuten später erreichen wir keuchend unsere Wohnung. Ein beissender Geruch empfängt uns – die Wohnung ist voller Rauch. Die Katzen sitzen verdrossen auf dem Balkon – zum Glück völlig unverletzt.

Der einzige Schaden, der bisher eingetreten ist, ist ein bis zur Unkenntlichkeit verschmortes Tablett. Ich reisse das Stromkabel der Kochplatten aus der Steckdose, entferne die verkokelten Plastikreste notdürftig und öffne alle Fenster zum Durchlüften.

In der Erkenntnis, dass wir hier mehr Glück als Verstand gehabt haben, überprüfe ich alle weiteren Stromkabel und schalte danach im Sicherungskasten die gesamte Stromzufuhr – bis auf die für den Kühlschrank – ab.

Danach setze ich mich – nervlich am Ende – auf den Küchenhocker. Ist wirklich nirgends mehr ein Brandherd? Voller Angst überprüfe ich alles ein weiteres Mal, dann bin ich mir relativ sicher, dass keine Gefahr mehr droht.

Siedendheiss fallen mit Heidrun, Friedhelm und der Gottesdienst ein. Im Schweinsgalopp – anders ist es nicht zu bezeichnen – hetze ich zur Kirche zurück. Das Sonntagskleid ist für derlei Aktionen nicht gemacht. Rußspuren zieren das Oberteil, und ein deutlicher Qualmgeruch ist ebenfalls nicht zu überriechen… Ich habe die vage Hoffnung, dass zumindest mein Rauchgeruch vom Weihrauch in der Kirche überdeckt werden möge. Die Rußflecken versuche ich mit meinem foulard zu kaschieren, was zum Glück teilweise gelingt.

Zurück an der Kirche stellen wir indessen ein größeres Problem fest als es der Rauchgeruch meiner Kleider darstellt: Die Kirchentür ist zu und lässt sich nicht mehr öffnen.

Verzweifelt rüttle ich an der Klinke – die Tür bleibt verschlossen. Ist es möglich, dass man sie von innen abgeschlossen hat, um Störungen vorzubeugen? Ich kann mir dies eigentlich nicht vorstellen. Wahrscheinlicher ist es, dass die schwere Tür klemmt.

Was auch immer der Grund sein mag – wir verzichten darauf, dem weiter nachzugehen und laufen, den Angstschweiss auf der Stirn, um die Kirche herum. Der Eingang zum Seitenschiff lässt sich ebenfalls nicht öffnen; Anatol erklärt mir jedoch, dass dieser sowieso immer verschlossen sei. Da – etwas weiter sehe ich einen dritten Eingang, deutlich kleiner als die beiden großen Kirchentüren.

„Da geht´s zur Sakristei“ erklärt Anatol. Ich drücke die Klinke herunter – und sende ein Stoßgebet zum Himmel: die Tür öffnet sich – Anatol und ich sind in der Sakristei. Hier muss es einen Zugang zum Kirchenschiff geben! Ob wir diesen wohl unbemerkt nutzen können …?

Hinter uns klappt die Tür zu: wir stehen im Dunklen. Wo ist nur der Lichtschalter? Vorsichtig tappe ich zurück zur Tür, finde dort aber keinen Schalter.

Anatol ist aus meiner Handtasche gesprungen und raunt mir zu „Hier muss es irgendwo Kerzen geben!“ Nun stoße ich einen Wutschrei aus: „DU hast für heute genug gezündelt! Auf keinen Fall rührst Du heute nochmal Streichhölzer oder elektrische Geräte an!“

Ich versuche, das Untier zu packen und zurück in meine Tasche zu befördern, wo es hoffentlich kein weiteres Unheil anrichten kann, stolpere aber in der Dunkelheit über einen vor mir liegenden Gegenstand. Der Länge nach falle ich hin, werde allerdings in meinem Fall durch ein offenbar im Weg stehendes Regal zunächst gebremst – dann kracht das ganze Regal mit ohrenbetäubendem Lärm zu Boden.

In diesem Moment setzt donnernd die Orgel ein.

Vorsichtig rapple ich mich hoch. „Anatol!“ flüstere ich. „Anatol, ist alles ok mit Dir?“

„Ich bin unter irgendetwas Schwerem drunter!“ wimmert der Saurier. Ich versuche, in der Dunkelheit einen Weg zu meinem Butler zu finden, und fühle schließlich eine seiner Tatzen. Der Saurier ist unter mehreren Kartons Hostien begraben.

Glücklicherweise ist er ansonsten unverletzt. Ich räume die Kartons zur Seite und befreie den Butler. Dann versuche ich, mich an der Wand hochzuziehen … ich ertaste ein Stromkabel! Dieses verfolge ich – und finde endlich den Lichtschalter.

Nun offenbart sich das Ausmaß der von uns angerichteten Katastrophe. In der Dunkelheit war ich über eine winzige Trittleiter gestolpert und hatte dann das Regal mit den liturgischen Geräten, Büchern, Gewändern sowie den Hostien und Kelchen umgerissen. Vom Orgeleinsatz übertönt war der Lärm des umfallenden Regals in der Kirche glücklicherweise unbemerkt geblieben.

Es gelingt mir, das Regal wieder aufzustellen. Dann räume ich so ordentlich wie nur möglich alle Gegenstände wieder ein. Am liebsten wäre ich vor Scham in den Boden versunken. Es hilft indessen nichts: wir müssen den angerichteten Schaden ausbügeln. Bald ist alles wieder am Platz – eine Flasche Messwein ist jedoch am Boden zerschellt. Notdürftig wische ich den Fleck auf und sammle die Scherben ein – und stelle fest, dass Anatol und ich voller Rotweinspritzer sind.

Ich möchte nun nur noch von der Erdoberfläche verschwinden. Nachdem wir aufgewischt und das Chaos beseitigt haben, ist mein erster Impuls, nach Hause zu laufen und mich dort unter der Bettdecke zu verstecken.

Nun öffnet sich allerdings die zur Kirche führende Tür und Herr Langenbruch, der Diakon, betrifft den Raum. Anatol und ich erstarren.

„Frau C.! Was machen Sie denn hier? Ich hatte mir gedacht, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht, als ich die seltsamen Geräusche aus der Sakristei hörte. Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde, würde ich sagen, der Leibhaftige ist geradewegs aus der Hölle aufgestiegen und steht nun vor mir!“ Seufzend zeigt er auf Anatol: „Und Ihren Basilisken haben Sie auch noch dabei. Tsssss …“ Kopfschüttelnd setzt sich der Diakon auf die kleine Trittleiter.

Ich sehe an Anatol und mir herunter. Ruß, Rotweinflecken, dazu ein nicht zu verbergender Qualmduft – wir sehen furchtbar aus. Tränen schießen mir in die Augen. Schluchzend erkläre ich Herrn Langenbruch die Sachlage.

Dieser hat glücklicherweise die Lösung für die Misere. „Sie laufen jetzt nach Hause und ziehen sich etwas Neues an. Den Basilisken verstecken Sie bitte in Ihrer Tasche. Ja, ich weiss, das er gutartig ist. Ich räume nun die Sakristei auf – außer einer Flasche ungeweihten Messweins ist ja nichts kaputtgegangen. In einer Viertelstunde erwarte ich Sie am Haupteingang und öffne die Tür. Sie klemmt wirklich schrecklich. Aber Sie wissen ja – unsere Mittel …“

Heimlich nehme ich mir vor, nachher eine großzügige Spende im Klingelbeutel zu lassen. Ich drücke dem guten Diakon die Hand und renne nach Hause – zum wiederholten Mal.

Kurze Zeit später stehe ich – nun präsentabel – am Eingang der Kirche. Herr Langenbruch zwinkert mir zu. „Das Wichtigste bekommen Sie sogar noch mit! Die Kleinen gehen gerade zu ihrer ersten Kommunion.“

In der Tat sehe ich Anna mit ihren Freunden durch den Mittelgang zum Altar gehen. Leise schleiche ich mich ins Seitenschiff zu Heidrun und Friedhelm, die andächtig Elies Übersetzungskünsten lauschen.

Hier wohnen wir gerührt der Kommunion von Anna und ihren Freunden bei. Ohne die Hilfe des lieben Diakons wäre dies wohl nicht möglich gewesen.

Am Ausgang stecke ich verstohlen einen großen Schein in den Klingelbeutel, an dem ich eine kleine Notiz angebracht habe: „Für eine nicht mehr klemmende Kirchentür!“

Der Rest des Tages verläuft wunderbar ereignislos – bei einem himmlischen Nachmittagskaffee im Garten. Übersetzen muss ich nichts mehr: Heidrun und Friedhelm bestehen darauf, dass Elie weiter dolmetscht. „Er übersetzt das alles so charmant – wir sind begeistert!“ Wenn das so weitergeht, werden die Saurier mich bald ganz überflüssig machen.

Anatol, Elie und ich wünschen Jakob alles Liebe zur Erstkommunion!

127. Kapitel – Back to blue Victoria

Das ersehnte lange Wochenende ist endlich da. Heute kann ich schon um 13 Uhr von der Arbeit nach Hause gehen – und am Nachmittag habe ich frei.

Die Sonne scheint, es ist warm – meine Laune könnte besser gar nicht sein. Heimlich nehme ich mir vor, nach Erledigung aller meiner heute noch anstehenden Termine bei Amorino ein Eis zu essen.

Mit dieser schönen Aussicht im Sinn komme ich zu Hause an. Elie ist nicht da – er macht heute seine Hausaufgaben bei Anna und bleibt dann den ganzen Nachmittag dort. Seit Angelo in Amerika sein „Auslandssemester“ absolviert, ist Elie wieder viel häufiger bei Anna. Anatol und ich beobachten die komplizierte Freundschaft, mischen uns aber nicht ein.

Anatol stellt fest, dass ich auf keinen Fall heute allein in die Stadt gehen kann. Er habe auch Dinge zu erledigen, werde mich also im Rucksack begleiten.

Ich seufze. Mein erster Termin heute Nachmittag ist beim Hautarzt; hier wünsche ich keine neunmalklugen Einmischungen des Sauriers, der dem Arzt erklärt, welche Behandlung er an mir durchführen soll und welche nicht. Ich ermahne den Butler daher auf das Schärfste, sich während meines Arzttermins entweder ruhig zu verhalten oder am besten gleich draußen zu bleiben.

Anatol brummelt etwas, das sowohl Zustimmung als auch Widerspruch bedeuten kann. Ich nehme mir also vor – um jedes Risiko auszuschließen – den Saurier vor der Arztpraxis aus meiner Handtasche zu werfen und ihn nach dem Termin wieder einzusammeln. Einen Eklat beim Arzt mag ich mir nicht vorstellen.

Um 15 Uhr 30 fahren wir mit dem Fahrrad los – Anatol halb im Rucksack, halb auf meiner Schulter sitzend, immer die Nase im Wind.

Mein Termin ist erst um 16 Uhr 30. Wir müssen zwar die ganze Stadt durchqueren, da wir aber noch viel Zeit haben, fahre ich ganz gemütlich an den Quais entlang, bevor wir an einen großen Platz kommen. Unzählige Radfahrer aus allen Richtungen treffen hier aufeinander – zum Glück gibt es gleich mehrere Radwege.

Als wir an einer gut besuchten Café-Terrasse vorbeiradeln, fällt mein Blick auf ein am Straßenrad stehendes, blaues Fahrrad. Traurig denke ich „So sah unser schönes altes Victoria-Fahrrad aus. Es hatte genau diese strahlend blaue Azurfarbe…“.

Melancholisch sehe ich das Rad im Vorbeifahren genauer an – und mich durchfährt ein Schock. Das IST unser altes Victoria-Fahrrad! Zumindest sieht es genau so aus!

Ich bremse – und im selben Moment beginnt der Saurier hinten im Rucksack an, Kobolz zu schießen. Mit seinen scharfen Stegosaurier-Augen hat der das Fahrrad ebenfalls erblickt, und zischt mir zu „Halt an!! Stopp! Da ist unser Rad!“

Augenblicklich kommen wir zum Stehen. Ich sehe das Fahrrad nun aus der Nähe und mir ist sofort klar, dass hier kein Irrtum vorliegt. Es handelt sich um unser altes Victoria-Fahrrad aus den 70er Jahren, das im letzten Sommer gestohlen worden war.

Traurig, verschmutzt und offensichtlich auch beschädigt steht es da – mit einem abscheulichen Bügelschloß an einen Pfosten fest angekettet.

Ohne nachzudenken nehme ich schnurstracks unser Granit-Faltschloss und sichere unser altes Rad damit.

Dann wähle ich mit zitternden Händen die Notrufnummer auf meinem Handy, während ich mich unauffällig vom „Tatort“ entferne.

Ein freundlicher Polizist antwortet mir. „Bitte nennen Sie die Art des polizeilichen Notfalls,“ fordert er mich auf. Aufgeregt ringe ich nach Luft – und um Worte. Dann sprudelt es aus mir heraus: das im letzten Sommer gestohlene Fahrrad, meine polizeiliche Anzeige, deren Abschrift ich sogar dabei habe – das wiedergefundene Rad – und schließlich mein Hilferuf: ich brauche dringend polizeiliche Unterstützung!

Der Freund und Helfer am anderen Ende der Leitung sichert mir sofortigen Beistand zu. Ich muss ihm eine Beschreibung meiner Person geben – Jeans, blauer Kapuzenpulli, rosa Rucksack mit grünem, nervösem Saurier (letzteres sage ich natürlich nicht) – damit die Kollegen mich finden. Seine weitere Anweisung: ich solle mich unauffällig verhalten und von einem etwas entfernteren Standpunkt, nämlich der Straßenseite gegenüber, den Tatort weiter beobachten.

Dies befolgen Anatol und ich. Vor Aufregung bebend setzen wir uns auf ein Holzbänkchen und versuchen, uns zu beruhigen. Das gelingt indessen nicht.

„Anatol, das Rad war doch graviert! Wir hatten extra diesen Code bei Bicycode einstanzen lassen, der auch in unserem Fahrradpass steht! Nun habe ich eben beim Anschließen den Code aber nicht mehr gesehen!“

Panik bemächtigt sich meiner. Habe ich mich geirrt? Ist es doch nicht unser Rad?

Anatol stammelt, er habe die Gravur auch nicht gesehen! Aber es sei 100% unser Rad. Die kleinen blauen Lack-Flecken, mit denen wir die Roststellen zu verdecken versucht hatten, die alte Sachs-Gangschaltung, der immer an der gleichen Stelle ausgefranste Bremszug – hier sei keine Verwechslung möglich. Ob man die Gravur hatte entfernen können?

Anatol schluchzt laut auf – wie sollen wir ohne die Gravur zweifelsfrei beweisen, dass es wirklich unser Fahrrad ist?

Vier junge und sehr kräftige Männer – man könnte sie auch als „Gorillas“ bezeichnen – kommen plötzlich direkt auf uns zu. Das Herz rutscht mir tief in die Hosen. Ist das die Fahrrad-Diebesbande? Haben sie mich beobachtet und kommen nun, um mich zu zwingen, das Rad wieder aufzuschließen?

Einer der jungen Männer streckt den Arm aus und gibt mir die Hand. Er stellt sich als Kriminalkommissar vor. Seine drei Kollegen nicken mir freundlich zu. Wir brauchen keine Angst zu haben – sie sind von der Kriminalpolizei.

Schnell schildere ich die Lage, weise meine polizeiliche Anzeige des Diebstahls vor und zeige den Polizisten das Corpus delicti aus sicherer Entfernung.

Die Kripobeamten erklären mir in knappen Worten das weitere Vorgehen. Sie würden nun versuchen, den Fahrraddieb – oder Käufer des Diebesgutes – zu überführen. Dazu würden sie den ganzen Nachmittag bei dem fest angeschlossenen Fahrrad bleiben – in der Hoffnung, dass der Dieb kommen und es aufzuschließen versuchen werde. Der Fahrraddiebstahl habe mittlerweile Ausmaße organisiserter Kriminalität angenommen und man setze daher alles daran, die Vergehen aufzuklären – um den Diebes- und Hehlerbanden das Handwerk zu legen.

Bang frage ich, ob mein Fahrrad hierbei keiner weiteren Gefahr ausgesetzt sei. Die Polizisten verneinen dies. Ich solle beruhigt zu meinem Termin fahren und danach wieder hier zum Treffpunkt kommen. Dann werde man sich auch über die Rückgabe des Rads an mich verständigen.

Da im Rucksack stark randaliert wird, versetze ich selbigem einen leichten Schlag. Irritiert sehen die Polizisten mich an. „Führen Sie ein Tier mit?“ fragt der Kommissar. Ich verneine dies unsicher und entferne mich schnellstens – nicht ohne versprochen zu haben, so bald wie möglich wiederzukommen. Dann werfe ich einen letzten Blick auf das blaue Fahrrad …

Bevor ich losradle, höre ich den Kommissar sagen „Leute, das ist die beste Überwachung, die ich seit Jahren hatte. Kommt, wir setzen uns da auf die Caféterrasse und warten. Ich nehme eine Cola.“

50 Meter weiter öffne ich den Rucksack und schnauze das grüne Untier an. „Bist Du verrückt, so einen Lärm zu machen! Wenn wir unser Rad wiederhaben wollen, hast Du Dich ab jetzt ruhig zu verhalten!“

Kleinlaut verspricht Anatol, dass man von ihm nun nichts mehr hören werde. Er wolle ja nur sein Rad! Das geht mir genauso…

Beim Arzt warten wir bis fast 18 Uhr auf meinen Termin. Wie auf heissen Kohlen sitze ich im Wartezimmer.

Um 18 Uhr 30 treffen Anatol und ich wieder am Tatort ein. Das Fahrrad steht weiterhin am Platz, die Kripobeamten sind bei ihrer 5. Limonade. Im Dienst wird selbstverständlich kein Alkohol getrunken.

Leider hat sich niemand dem Fahrrad genähert. Die Überwachung soll daher noch etwa anderthalb Stunden laufen. Danach würde man sich bei mir melden. Ich solle nun nach Hause fahren und auf weitere Weisung warten.

Enttäuscht entferne ich mich. Was soll ich tun? Entgegen dem Rat des Polizisten fahre ich nicht nach Hause, sondern begebe mich zu Amorino, wo ich für Anatol und mich ein veganes Eis kaufe.

Dann beratschlagen wir.

Ich bin dafür, so lange in unmittelbarer Nähe des Rades zu bleiben, bis die Polizei das Schloß des Diebes aufsägt und wir das Rad entweder mitnehmen können oder aber es in polizeilichen Gewahrsam genommen wird. Anatol teilt diese Meinung. Wir fahren nicht nach Hause, bevor das Rad nicht in Sicherheit ist!

Um kurz vor 20 Uhr finden wir uns erneut am Tatort ein. Der Kommissar ist nicht mehr zugegen, auch die anderen Polizisten sind weg. Das Rad steht indessen am Platz: weiterhin durch mein Schloß gesichert.

Wieder setzen wir uns auf das Holzbänkchen und warten. Wir werden unser Fahrrad nicht mehr aus den Augen lassen, bis es in Sicherheit ist – wie lange auch immer das dauern wird.

Etwa eine Viertelstunde später schrillt mein Handy. Der Kommissar ist am anderen Ende der Leitung. Er habe die Angelegenheit mit seiner polizeilichen Hierarchie geklärt und könne mir nun verbindliche Anweisung zum weiteren Vorgehen erteilen. Die Gravur des Rades sei zwar durch Einwirkung des Diebes auf den ersten Blick entfernt worden – bei genauer Betrachtung habe man die Ziffern jedoch ablesen und mit meinem Fahrradpass abgleichen können. So sei ohne jeden Zweifel bewiesen, dass es sich hier um mein altes, gestohlenes Fahrrad handele. Das Aufbrechen des Schlosses des Diebes sei indessen nicht Aufgabe der Polizei – dies müsse ich selber vornehmen, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Schlossers. Sobald ich das Rad an mich genommen habe, solle ich mich kurzfristig – mitsamt dem Rad – auf der Wache vorstellen, wo man mir die weiteren Schritte erklären werde. Hierauf verabschiedet sich der Kommissar und lässt mich mit dem Problem allein, mein Fahrrad „loszueisen“.

Was ist zu tun? Wie knacke ich – um 20 Uhr 15 mitten in Stadt – ein Fahrradschloß – ohne jegliche schriftliche Berechtigung dazu …? Unschlüssig kratze ich mich am Kopf.

Anatol zetert aus vollem Halse los: „Nun ruf schon Deinen Schlosser an! Der soll kommen und das Schloss aufsägen! So hat es doch der Kommissar gesagt!“

Ich wähle die Nummer des Schlossers. Keine Antwort. Ich hinterlasse eine Nachricht. Dann suche ich – meinem Smartphone sei dank – im Internet nach Schlossern, die 24h/24 intervenieren…

Nach dem ersten Anruf bei einem Schlüssel-Notdienst wird mir klar, warum die Polizei dies nicht durchführen will: der Einsatz soll 169 Euro kosten. Ich lehne dankend ab.

Nach mehreren Anrufen ohne Erfolg treffe ich auf den Schlüsseldienst der Grand Rue. Dieser sagt zu, für 65 Euro mein Fahrrad freizusägen – und zwar in einer Viertelstunde. Dieses Angebot nehme ich ohne zu zögern an.

Eine halbe Stunde später liegt das Schloss des Übeltäters aufgesägt auf der Straße und ich halte mein gutes altes blaues Victoria-Fahrrad in Händen. IMG_3656

Nun fällt mir auf, dass sich das Hinterrad nicht dreht. Dies macht den Transport nach Hause (auf dem neuen Fahrrad fahrend, das alte nebendran mit der anderen Hand lenkend) überaus schwierig, da ich das alte Rad quasi neben mir herschleifen muss.

Nach 500 Metern ist der Hinterreifen durch das Gezerre über den Asphalt durchgewetzt und platt. Mein rechter Arm, der das Fahrrad neben uns herschiebt, fällt fast schon ab … und wir haben noch etwa 3 Kilometer vor uns.

Trotz aller Widrigkeiten schaffen wir es bis nach Hause.

Dort klingele ich die Nachbarn heraus, die damals – unwillentlich – das Abhandenkommen des Rades verursacht hatten. Sie wollen uns sogar die Kosten für den Schlosser ersetzen!

Ich bin sehr gerührt.

Kurze Zeit später fallen wir vollkommen erschöpft ins Bett und wachen erst um 8 Uhr des nächsten Morgens wieder auf.

Anatols erste Handlung besteht darin, das schöne alte Rad von dem hässlichen Sattel zu befreien, den der Dieb ihm aufgesetzt hatte. Danach wird das Rad mit Motorradshampoo eingehend gewaschen. Leider fallen uns hier diverse Beschädigungen auf – wir hoffen, dass unser trefflicher Fahrrad-Reparateur dies alles wird beheben können.