49. Kapitel – Polizei-Einsatz in der Löwenstraße

IMG_1950Was war heute nur für ein schlimmer Tag. Den ganzen Morgen sitze ich wie auf heissen Kohlen im Büro, weil Capucine heute an den Zähnen operiert wird. Erst gegen Mittag darf ich in der Tierklinik anrufen – und das auch nur, um zu erfahren, dass ich mich gegen 16 Uhr wieder melden soll.

Vom großen Direktor (oder Diktator?) als subalternes Nichts verachtet, muss ich meine Arbeit über wohlgelittene Kollegen dem Direktor zuleiten. Fragen können nur über Dritte geklärt werden. Mit mir kann man nicht direkt sprechen. Bin ich aussätzig?

Schließlich will ich mich am Kuchen, den eine liebe Kollegin mitgebracht hat, trösten – und werde wüst zurechtgewiesen, dass es nach einem Stück nun gut sein müsse.

Ich bin froh, dass sich der Tag dem Ende zuneigt. Capucine geht es besser – die Operation ist gut verlaufen und das Kätzchen darf nach Hause. Die erste positive Nachricht des Tages!

Als ich mit Capucine zuhause ankomme, warten die Butler mit einer Überraschung auf. Das Laptop steht auf dem Schreibtisch, aufgeladen und schreibbereit. Um den Computer herum stehen Tellerchen, die mit belegten Broten gefüllt sind. Einen schönen warmen Tee brüht Anatol gerade auf.

Ich fühle die Absicht – bin aber nicht verstimmt. Ich weiss nur nicht, ob mir heute nach Schreiben zumute ist. Vor dem Fernseher abhängen … das wäre jetzt mehr nach meinem Geschmack.

Aber das wird nicht akzeptiert.

Kerstlingeroederfeld2„Wir haben Schulferien.“ erklärt Elie. „Trotzdem sind wir immer noch hier – nur weil Du wieder keinen Urlaub nehmen wolltest! Alle anderen sind verreist. Und wenn wir schon keine echten Abenteuer erleben können, dann wollen wir wenigsten welche lesen. Und zwar Abenteuer, in denen wir vorkommen! Was sollen wir denn sonst nach den Ferien erzählen? Angelo ist mit seinen Eltern in San Franzisco – damit kann keiner mithalten. Aber wenn wir noch nicht einmal erzählen können, dass wir zumindest am Kerstlingröder Feld oder an der Mackenröder Spitze waren  – ja also dann sind wir erledigt.“

Anatol nickt beipflichtend. Er gießt mir einen Tee ein und meint „Wir lassen Dich jetzt in Ruhe. Dir wird schon was einfallen! Neues Essen und Tee gibt es erst, wenn Du etwas geschrieben hast.“

Es ist fast zwei Uhr nachts – ich bin noch wach. Die Sommernacht ist warm – so warm, dass man nur mit weit geöffneten Fenstern etwas Luft bekommt. Unter mir rumort und bullert das Dampfross. Aus dem Savo nebenan dringt Musik. Die Straßen sind voller Menschen – trotz der späten Stunde. Lachen und Schwatzen dringen von der Straße hoch bis in meine Wohnung. Manchmal bleibt ein kleines Grüppchen Studenten unter meinem Fenster sitzen – nichtsahnend, dass nur wenige Meter über ihnen jemand alles hört, was sie plaudern. Leidenschaftliche Liebesabenteuer, traurige Erlebnisse, nichtbestandene Prüfungen … all dies wird des Nachts unter meinem Fenster erzählt. Ich weiss, dass ich das Ende der Geschichte nie miterleben werde – die jungen Leute stehen irgendwann auf und gehen weiter. Aber das macht nichts. Ich kann die Geschichte ja selbst zuendeführen – oder das Ende auch offen lassen.

Heute Nacht muss ich trotz der Hitze doch eingeschlafen sein. Eine samtige Pfote tatzelt mir ins Gesicht. Es ist Anatol. „Susanne!“ flüstert er eindringlich. „Wach auf! Da ist was auf der Straße unten! Ein ganz seltsames Geräusch! So wach doch auf!“

Ich öffne die Augen und komme langsam zu mir. Elie sitzt neben mir auf dem Kopfkissen. Er zittert vor Aufregung. Am Fußende schläft Katze Nini tief und fest.

Da – ich höre das Geräusch. Es klingt wie eine Metallsäge. Ein leises, gleichmäßiges metallisches Kreischen – ich stehe auf und sehe aus dem Fenster.

In der Tat sitzt auf der anderen Straßenseite eine zusammengekauerte Gestalt, die sich an einem Fahrradschloß zu schaffen macht und offensichtlich mit einer Säge daran zugange ist.

Der Schreck fährt mir in die Knochen – ist das ein Fahrraddieb? Ich verwerfe den Gedanken sofort. Vermutlich ist das jemand, der seinen Fahrradschlüssel verloren hat und nun versucht, sein eigenes Fahrrad aufzusägen. Ich will zurück ins Bett.

Anatol ist nicht meiner Meinung. „Wenn Du Deinen Fahrradschlüssel verloren hättest, würdest Du dann um drei Uhr nachts an dem Schloß rumsägen? Wieso hat der überhaupt um diese Uhrzeit eine Metallsäge dabei! Sowas hat doch kein normaler Mensch!“

Ich muss zugeben, dass Anatols Vorbringen schlüssig ist. Niemand würde nachts um drei mit einer Metallsäge sein eigenes Fahrrad lossägen. Zumindest sollte das nur in seltensten Ausnahmefällen vorkommen. Es handelt sich bei der kauernden Person mit der Säge also aller Wahrscheinlichkeit nach um einen echten Fahrraddieb!

Was nun?

Elie flüstert mit bebender Stimme: „Worauf wartest Du? Tu was! Der Kerl klaut sonst das Rad! Stell Dir mal vor, es wäre Deines! Ruf die Bullen!“

Ich sehe ein, dass wir die Sache nicht auf sich beruhen lassen können. Unschlüssig greife ich zum Telephon. Soll ich wirklich die 110 wählen? Vermutlich lacht man mich aus. Dennoch entschließe ich mich und rufe die Polizei an – unseren Freund und Helfer.

„Einsatzstelle Freiburg Mitte – bitte nennen Sie die Art des polizeilichen Notfalls“ sagt eine freundliche, ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung. Es muss ein Herr in den 50ern sein.

Atemlos berichte ich, was in der Löwenstraße gerade passiert. Ob bitte eine Streife kommen und das Fahrrad sichern könne?

Der freundliche Polizist sagt sofortige Hilfe zu. Er lässt mich eine Telephonnummer notieren, die ich anrufen solle, wenn sich die Lage zuspitzen sollte. So werde ich gleich an ihn verbunden und nicht erst in die Zentrale geschaltet.

„Wir schicken Ihnen eine Polizeistreife. Löwenstraße 3 sagen Sie? Direkt über dem Dampfroß? Ja, das kennen wir gut. Da sind wir oft im Einsatz. Die Kollegen fahren jetzt los. Bitte bleiben Sie in unmittelbarer Nähe Ihres Telephons.“

Anatol und Elie zittern nun beide vor Angst und Erregung – ich im Übrigen auch. Dies hier ist keine normale Situation! Das Telephon in der Hand (es hängt zum Glück an einem sehr langen Kabel) schleiche ich, die Butler direkt hinter mir, zum Fenster. Vorsichtig spinxen wir über das Fensterbrett. Nur nicht zu gut sichtbar sein!

Draußen sägt es. Der Dieb ist also noch nicht durch! Man hört das Geräusch bis auf die andere Straßenseite, bis hoch in meine Wohnung.

Da! nicht einmal 30 Sekunden später biegt ein Streifenwagen von rechts in die Löwenstraße ein! Unsere Freunde und Helfer sind prompt zur Stelle – das ist beruhigend. Wir halten die Luft an. Der Dieb wird die Polizei doch nicht bemerken?!

Der Streifenwagen fährt bis vor das Dampfross und parkt an der gegenüberliegenden Straßenseite, auf dem kleinen Platz, der zum KG II führt – vor dem Haus zur lieben Hand. Der sägende Dieb sitzt etwa 3-4 Meter weiter, seelenruhig in sein Sägewerk vertieft. Er sieht den Streifenwagen nicht.

Vier Polizisten steigen aus dem Wagen. Sie entdecken den mutmaßlichen Dieb ebensowenig wie er sie  – und hören ihn auch nicht, was verwunderlich ist. Ich winke aus dem ersten Stock herunter, aber auch ich bleibe unbemerkt.

In diese spannungsgeladene Situation hinein schrillt das Telephon! Ich hebe ab und traue mich nur, meinen Namen zu flüstern. Der Polizeibeamte von vorhin ist am Telephon. „Frau C.? Sind Sie da? Ja? Die Polizeistreife ist nun vor Ort. Hat sich die verdächtige Person entfernt? Die Streife kann sie nicht finden.“

„Nein, die verdächtige Person ist noch da! Sie sägt weiter an dem Fahrradschloß! Sie können das sogar durchs Telephon hören!“ Verzweifelt halte ich den Telephonhörer aus dem Fenster – und bedenke nicht, dass der Polizeibeamte durch das Telephon vielleicht hören, aber nicht sehen kann, wo der mutmaßliche Dieb ist.

Nun sehen die vier Polizisten aber mich oben am Fenster. „Wo ist der Tatverdächtige?“ fragen sie. Ich wedle hektisch mit dem Telephonhörer und zeige auf die gegenüberliegende Straßenseite: „Da, da ist er! Direkt neben Ihrem Streifenwagen!“

Die Polizisten drehen sich um – in diesem Moment merkt der mutmaßliche Dieb, dass hier etwas nicht stimmt, springt auf, lässt von dem Fahrrad ab und rennt los, aufs Unigelände, Richtung KG II – wo um diese nächtliche Stunde alles stockdunkel ist.

Die Polizisten machen sich heldenhaft an seine Verfolgung. Zurück bleiben Anatol, Elie und ich – und der Streifenwagen.

Ein Grüppchen angeheiterter Studenten nähert sich, vermutlich aus dem Savo kommend. Der Streifenwagen hat es ihnen angetan. Sie sehen sofort, dass niemand darin sitzt und dass auch kein Polizist in der Nähe ist.

Mit Entsetzen merke ich, dass der Wagen nicht abgeschlossen ist, denn die feuchtfröhliche Gesellschaft öffnet die Türen und macht es sich in dem Streifenwagen bequem, während der offenbar am wenigsten Angetrunkene versucht, den Wagen zu starten.

Mit zittenden Händen wähle ich die Notfallnummer, die der freundliche Polizist mir vorhin gegeben hat. Mein Freund und Helfer (aber bin nicht ich das gerade?) ist zuverlässig am anderen Ende der Leitung und möchte wissen, ob die verdächtige Person dingfest gemacht werden konnte.

„Nein!“ flüstere ich mit heiserer Stimme. „Die Kollegen verfolgen den Verdächtigen nun! Aber es gibt ein neues Problem: Ihr Streifenwagen wird gerade besetzt! Bitte schicken Sie schnell Verstärkung!“

Dem freundlichen Herrn stockt der Atem. „Unser Streifenwagen?“ „Ja!“ sage ich. „Es haben sich gerade 4 Personen hineingesetzt und versuchen, damit wegzufahren! Soll ich runtergehen und eingreifen?“

„Nein, Sie bleiben dort am Fenster und erstatten mir Bericht! Bleiben Sie am Apparat – auf keinen Fall auflegen!“ ruft der Herr noch – dann bin ich in einer Warteschleife.

Anatol und Elie sitzen wie erstarrt auf dem Fensterbrett. Mit versteinerten Mienen sehen sie zu, wie zwei der beschwipsten Spitzbuben im Fond des Streifenwagens singen und hüpfen – und sich sichtlich wohlfühlen. Die beiden vorne Sitzenden haben Schwierigkeiten, den Wagen anzulassen – aber vielleicht gelingt es doch!

Die Warteschleifenmusik setzt abrupt aus. Der freundliche Polizist ist wieder in der Leitung. „Frau C., bitte bleiben Sie am Telephon. Eine weitere Streife ist unterwegs. Bitte sagen Sie mir bescheid, sobald Sie sie sehen.“

Kaum 10 Sekunden später fährt in der Tat ein zweiter Streifenwagen vor. Ich erstatte dem Einsatzleiter en direct  Bericht. Anatol und Elie fühlen sich wie im Krimi, werden sie mir später sagen.

Drei Polizisten steigen aus und laufen auf den gekaperten Streifenwagen der unseligen ersten Streife zu. Die Autobesetzer merken, dass die Angelegenheit nun brenzlig wird und versuchen, zu fliehen – erfolglos. Zu hoch ist offenbar die Blutalkoholkonzentration.

Die vier Übeltäter werden vorläufig festgenommen, verwarnt, und nach Aufnahme ihrer Personalien nach Hause geschickt.

Indessen sind die Verfolger des verdächtigen Sägers unverrichteter Dinge vom Universitätsgelände zurückgekehrt. Der mutmaßliche Dieb konnte nicht dingfest gemacht werden. Ein Polizeibeamter erklärt mir dies unten vor dem Fenster, während ich alles per Telephon an den zugeschalteten Einsatzleiter weitergebe.

Da Ruhe und Ordnung nun wieder eingekehrt sind – der Streifenwagen wurde befreit, der Fahrradschloßsäger vertrieben – erklärt der Einsatzleiter die Intervention für erfolgreich beendet. Er freue sich, mir und den Butlern mitteilen zu können, dass wir nun  wieder ruhig schlafen könnten.

Ich bin mir dessen nicht ganz so sicher, bedanke mich aber bei den trefflichen Wachtmeistern für ihr beherztes Eingreifen.

Es ist mittlerweile nach vier Uhr. Elie friert vor Müdigkeit, Anatol ist hingegen noch etwas zu aufgekratzt, um ans Schlafen zu denken. Ich koche einen Tee für alle – aber als der fertig ist, schlummern die beiden Butler neben der zusammengerollten Nini, die von dem ganzen Polizeieinsatz nichts mitbekommen hat.

Fünf Minuten später schlafe auch ich tief und fest.

Am nächsten Morgen ist das Fahrrad, an dem der Verdächtige gesägt hatte, fort. Ich werde nie erfahren, ob der Dieb sein erbärmliches Werk später in der Nacht noch vollenden konnte – oder ob das Fahrrad von der Polizei sichergestellt und seinem rechtmäßigen Eigentümer übergeben wurde.

Wir hoffen natürlich, dass letzteres der Fall ist.

© R. Gschwendtner 2011

© R. Gschwendtner 2011

48. Kapitel – Kreativer Prozess mit Pausen?

IMG_1671Anatol und Elie sind schon seine Weile indisponiert. Nichts kann ich ihnen recht machen, alles nervt und nichts will so laufen, wie sie es mögen.

Ja, die Butler langweilen sich. Es regnet seit Tagen, in den Park kann man nicht gehen und auch ansonsten ist irgendwie alles „doof“. Die Schulferien haben begonnen, die Schulkameraden sind in die Ferien gefahren … „nur wir sind noch da!“ – heisst es vorwurfsvoll.

Schlimmer: zu allem Überfluss streikt auch noch der Blog. Die beiden Saurier hatten sich auf viele neue Abenteuergeschichten gefreut, in denen sie als Helden auftreten.

Und … nichts. Gar nichts wird geschrieben.

Was ist los?

Ich habe eine Blockade. Im Moment kommen mir keine guten Ideen. Und anstatt dann einfach irgend etwas zu schreiben, schreibe ich lieber nichts – das habe ich eben den Butlern erklärt. Leider stieß ich auf taube Ohren:

„Das erklär mal den Leuten, die den Blog lesen!“ schnaubte Anatol nur. „Bedanken werden die sich!“

Kleinlaut wende ich ein, dass ich kein Schreibautomat bin… und dass ich manchmal kreative Pausen brauche.

Elie findet diese Entschuldigung völlig unzulänglich – schließlich habe sie ihm bei der Mathematiklehrerin Frau Goycke nichts geholfen, als er die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Eine „kreative Pause“ habe Frau Goycke nicht einmal ansatzweise gelten lassen.

Dennoch ist es so.

Ich muss ein wenig verschnaufen – aber nicht lang! Es kommen bald wieder neue Sauriergeschichten.

47. Kapitel – Carrie

Ein langer, anstrengender Arbeitstag ist zuende. Müde steige ich die Treppe hoch und freue mich, gleich von meinen Butlern in Empfang genommen zu werden. Hoffentlich wartet ein schönes warmes Essen auf mich – das wäre jetzt einfach das Beste, was ich mir vorstellen kann.

Ich schließe die Tür auf. Noah, Tonio und Riri sitzen mit großen Augen da, und signalisieren mir, dass sie noch nicht gefüttert worden sind. Das ist seltsam. Normalerweise ist das nämlich die Aufgabe der Butler, wenn ich so spät nach Hause komme.

Ein Schreck durchfährt mich. Eben gucke ich ins Dino-Nestchen, wo die Schlawiner normalerweise um diese Uhrzeit sitzen und schmökern – das Essen bereits fertig auf dem Feuer, während sie auf mich warten.

IMG_2207Das Nestchen ist leer – und die Wohnung dunkel.

Im Wohnzimmer ist niemand, ebensowenig wie in der Küche. Es steht auch kein Essen auf dem Herd. Es ist überhaupt nichts für das Abendessen vorbereitet!

Normalerweise wäre ich jetzt verärgert. Die Butler haben schließlich ihre Aufgaben, die sie wahrnehmen sollen. Und dazu gehört eben, dass das Essen pünktlich auf dem Tisch zu stehen hat.

Heute bin ich aber nicht ärgerlich, sondern außerordentlich besorgt. Wenn meine Saurier abends ausgehen wollen, sagen sie mir das vorher. Wenn sie ausnahmsweise kein Essen kochen wollen, reservieren sie mir einen Tisch im Restaurant und geben mir bescheid.

Aber heute haben sie nichts dergleichen angekündigt und hätten also zu Hause sein müssen! Was ist passiert?

Ich betrete das Wohnzimmer. Etwas kommt mir seltsam vor – ja richtig: da steht das Laptop. Ich räume es immer weg, bevor ich das Haus verlasse – zu groß ist die Gefahr, dass die Katzen damit Schindluder treiben. Warum steht es dann auf dem Wohnzimmertisch? Ich nähere mich dem Tisch – und sehe mit Entsetzen, dass neben dem Laptop eine DVD liegt:

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Es ist die DVD von „Carrie“. Brian de Palma, 1976. Ein Horrorschocker – und einer meiner Lieblingsfilme.

Mit Rücksicht auf die Butler war er hinter Büchern, CDs und unter diversen anderen DVDs versteckt gewesen. Die beiden Gangster müssen das Bücherregal durchwühlt haben und dort die DVD mit dem ausdrucksstarken Cover entdeckt haben. Der groß aufgedruckte Schriftzug „Freigegeben ab 16 Jahren gemäß §7 JÖSchG FSK“ muss sein Übriges getan haben.

Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Übeltäter aufspüre.

Da – ein Wimmern lässt mich aufhorchen. Es scheint aus dem Schlafzimmer zu kommen. Ohne mich zu sehr zu beeilen, begebe ich mich nach nebenan. Das Wimmern wird stärker – es dringt unter der Bettdecke hervor:

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Die mutigen Horrorfilmfans haben sich nach der Sichtung von „Carrie“ schnurstracks ins Bett zu den Katzen geflüchtet, und weigern sich nun, diesen sicheren Ort zu verlassen.

Als ich näher komme, verkriechen sie sich sogar noch tiefer unter die Decke:

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Es dauert etwas, bis ich ihnen klarmachen kann, dass ich nicht Sissy Spacek bin, die gleich nach ihnen die Hand ausstrecken wird – und schließlich gelingt es: die Butler krabbeln eilig unter der Decke hervor, um sich ganz eng an mich anzukuscheln – nein an mir festzukrallen.

Ich verstehe, dass es nun so bald kein Essen geben wird – jedenfalls nicht, wenn ich es nicht selber koche.

Resigniert gehe ich mit den zitternden Sauriern auf dem Arm in die Küche.

„Wisst Ihr, dass ich überhaupt kein Mitleid mit Euch habe?“ sage ich streng. „Wie konntet Ihr einfach ans Bücherregal gehen, die CDs und Bücher wegräumen, und hinter all dem die Carrie-DVD herauskramen? Solche Filme verstecke ich nicht ohne Grund!“

„Wir konnten doch nicht wissen, dass Du sowas Grauenvolles in Deiner DVD-Sammlung hast!“ heult Elie.

Anatol fügt sehr kleinlaut hinzu „Das ist ein Film von 1976. Ich dachte, der muss harmlos sein… Angelo hat behauptet, er hat ihn schon 3 mal gesehen, und der sei total lahm!“

Ich merke an, dass Angelo hier wohl sicher etwas durcheinander gebracht haben muss – denn „lahm“ sei der Film nun ganz gewiss nicht. Vermutlich habe er den Film von Brian de Palma mit der Comedy-Serie um „Carrie Bradshaw“ verwechselt.

Anatol und Elie nicken – nicht ohne sich genau umgesehen zu haben, ob irgendwo verdächtige Gegenstände im Raum schweben.

„Nein, er war überhaupt nicht lahm“, weint Elie. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so Angst gehabt!“

Anatol, sonst eher hartgesotten, fügt hinzu: „Ich auch nicht. Und das will was heissen. Aber Elie – Du musst zugeben, dass der Film ansonsten saugut ist. Obwohl der von 1976 ist!“

Elie will von „saugut“ nichts wissen. Er ist so aufgewühlt, dass er immer noch nicht aufhören kann, zu weinen. Das ist allerdings nur eine nervöse Reaktion. Die muss nun „raus“.

„Ich will nie wieder an diesen Film denken!“ schluchzt er. „Das ist alles so furchtbar. Wieso wurde die arme Carrie so böse behandelt? Wieso hatte sie so eine schreckliche Mutter? Ich habe immer noch solche Angst, wenn ich an die gruselige Kammer denke, in der sie eingesperrt war…“

„Elie, es ist gut, dass Du über den Film sprechen kannst. Das wird Dir helfen, die Angst zu überwinden. Als erstes musst Du Dir klarmachen, dass es nur ein Film ist. Eine ausgedachte Geschichte – damit Leute sich gruseln. Es ist nie in Wirklichkeit passiert. So etwas gibt es nämlich nicht.“

Elie guckt ungläublig. „Gibt es nicht …? Echt…?“ Anatol fasst es nicht. „Elie, Du weisst doch, dass solche Sachen nicht in Wirklichkeit existieren! Oder glaubst Du etwa noch an Gespenster?“

„Was weiss ich, ob es Gespenster gibt! Ich habe jedenfalls Angst vor ihnen! Und solange ich Angst davor habe, passe ich auf, dass ich keinem begegne!“ Elie steckt den Kopf in meine Armbeuge, um auf keinen Fall von eventuell anwesenden Geistern gesehen zu werden. Er denkt nämlich, dass ein Gespenst, das er nicht sehen kann, ihn auch nicht bemerken wird. Eine vernünftige, unkomplizierte Einstellung.

Ich merke, dass es meinem jüngeren Butler immer noch schwerfällt, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten. Er hat wirklich Angst, Carrie – oder wohl eher ihre böse Mutter – könne uns heimsuchen. Anatol hat sich einfach nur gegruselt, aber er kann den Film als nicht-real einstufen.

Es hat einen guten Grund, weshalb die FSK manche Filme nicht für 6-jährige freigibt.

Anatol bekommt daher eine ordentliche Strafarbeit aufgebrummt – er hätte den Film vielleicht heimlich allein gucken dürfen, aber niemals dem kleinen Elie zeigen dürfen. Allein hätte er sich allerdings gar nicht getraut, den Horrorschocker anzusehen.

„Anatol, ich will das Bücherregal mit den versteckten DVDs und den CDs morgen perfekt aufgeräumt, abgestaubt und ausgewischt vorfinden. Den Laptop und den DVD-Player schließe ich weg – es werden morgen keine Filme geguckt!“

Betreten willigt Anatol ein.

„Und Du versprichst mir, dass Du niemals wieder eine DVD mit Elie anguckst, ohne vorher mit mir darüber gesprochen zu haben!“

Auch hier nickt Anatol. Er ist bemerkenswert kleinlaut heute abend.

Später, als die Butler sicher im Dino-Nestchen untergebracht sind, in dem sie vor jeglichen gespensterhaften Übergriffen geschützt sind (das Dino-Nest hat mit dem magischen Kapuzenschal die Wirkung einer Tarnkappe, so dass Geister es gar nicht sehen können), sagt Elie, er finde es ungerecht, dass Carrie angeblich die Böse in dem Film sei. Die anderen Kinder und ihre Mutter seien die eigentlichen Bösen! Fast fängt er wieder an zu weinen.

„Elie, Du hast Recht“, sage ich. „Carrie ist „anders“. Sie wird gehänselt, weil sie nicht so ist wie die anderen. Dabei wäre sie so gern wie ihre Klassenkameraden. Aber es ist nicht möglich.“

„Carrie“ ist nur vordergründig ein Horrorfilm über eine Jugendliche mit telekinetischen Fähigkeiten. Es ist ein Film über das Anderssein. Über Menschen, die nicht der Norm entsprechen und die deshalb ausgestoßen, ja verteufelt werden.

Wir stoßen diese Menschen aber nicht aus, weil sie nur anders sind als wir. Wir stoßen sie aus, weil wir Angst vor ihnen haben – Angst vor dem Anderen, Fremden. Wir wollen in der Schule nicht neben ihnen sitzen und auf dem Schulhof nicht mit ihnen zusammen gesehen werden. Der „Andere“ könnte auf uns abfärben, uns in seinen Bann ziehen. Und am Ende könnten wir genauso ausgeschlossen werden wie er.

Ob es irgendwann eine Welt gibt, in der Anderssein nicht mehr mit „aussätzig sein“ gleichbedeutend ist?

 

46. Kapitel – Muß es sein? Es muß sein!

muss es sein

Die beiden Butler sitzen am Wohnzimmertisch und haben mich heute – Ostermontag – zu einem „Familienrat“, wie sie das nennen, einbestellt.

Beide sehen mich mit ersten Gesichtern an, als ich mich dazusetze. Mir wird mulmig. „Nun macht aber halblang! Es geht hier doch nicht um ein Begräbnis?“

„Doch“ sagt Anatol. „Es geht um DEIN Begräbnis – das sehe ich nämlich mit hundertprozentiger Sicherheit auf uns zukommen. Tagtäglich sehen wir Dich Deine Migränemedikamente schlucken wie Smarties. Man darf sie nicht so überdosieren! Wenn man sie zu oft nimmt, lösen sie noch zusätzlich Kopfschmerzen aus. Wir haben das alles recherchiert. Du hast chronische Migräne und Du musst etwas dagegen tun.“

Elie nickt beipflichtend. Er sieht sehr besorgt aus.

Ich fühle mich in die Enge getrieben. Diese Butler sind etwas zu fürsorglich. Ich weiss selbst recht gut, wie ich mich zu verhalten habe!

Anatol lässt sich nicht abwimmeln. „Du weisst das alles. Nur willst Du nicht bei der Arbeit fehlen, und immer in Form sein. Wenn Du am Wochenende oder in den Ferien Migräne hast, versteckst Du Dich tagelang in Deinem Bett und sagst es keinem. So merkt niemand, wie schlimm es ist! Nur wir merken es! Es kann so nicht weitergehen.“

Ich schlucke. Leider hat Anatol recht. Wie so oft.

„Seit Wochen sehen wir es mit an. Nein – seit Monaten! Und wir haben das gesamte Internet abgesucht, um ein Heilmittel zu finden.“

Nun bin ich gespannt.

„Es gibt kein Heilmittel gegen Migräne. Migräne ist eine genetische, neurologische Krankheit, und die ist unheilbar. Aber es gibt Medikamente, die die Anfälle zurückdrängen. Es soll bei vielen Menschen sehr gut helfen!“

All das weiss ich. Über Migräne weiss ich mehr als die meisten Ärzte, die ich deswegen aufgesucht habe. Oft wird man ja nur mit einem „dann machen Sie eben etwas mehr Sport und Entspannungsübungen!“ abgetan. Was wirklich bei Migräne los ist, wissen nur wenige Ärzte.

„Also soll ich jetzt wieder diese Prophylaxe nehmen, die nicht geholfen hat?“ frage ich absichtlich provokant.

„Nein, die Prophylaxe, die man Dir vor 10 Jahren verschrieben hat, wird heute gar nicht mehr gegeben. Sie hat sich als unwirksam erwiesen. Heute gibt man andere Medikamente.“

„Ja – Betablocker und Antiepileptika! Wollt Ihr mich vergiften? Das Zeug will ich meinem Körper nicht antun!“

„Aber Schmerzmittel und Triptane in Überdosierung – die willst Du Dir antun?“ Anatol sieht mich böse an.

Ich schweige. Ich kann es nicht leugnen – mein Schmerzmittelverbrauch ist gigantisch. In den letzten Monaten habe ich aufgehört, die Mengen zu notieren. Es wäre einfach zu schockierend.

„Wer soll für die Katzen und für uns sorgen, wenn Du ganz zusammenklappst? Wenn Du nicht mehr arbeiten kannst? Hast Du eigentlich an uns gedacht? Ich muss dann putzen gehen! Elie wird mit der Schule aufhören und sich als Zeitungsdino oder Steineklopfer verdingen müssen! Stell Dir das doch nur mal vor!“

Elie wirft etwas verängstigt ein „Bevor ich diese Steine klopfen muss … also ich könnte auch versuchen, Nachhilfe in Malen oder Singen zu geben …“

Ich hebe abwehrend die Hand. Es stimmt ja, was Anatol sagt. Aber es ist sehr belastend.

„Was schlägst Du denn vor? Was soll ich tun!? Ich habe schon oft nach einer Lösung gesucht – aber keine gefunden!“

„Wir haben das alles schon geplant. Als erstes rufst Du morgen die Neurologin an und machst einen Termin aus. Die Nummer hat Dir Dein Arzt ja gegeben – Fridolin sagte uns, dass Du sie seit Monaten mit Dir rumträgst, aber noch nie angerufen hast! Du brauchst eine Migräneprophylaxe, unbedingt. Heute haben wir im Katzenforum mit Lunamaus gesprochen. Sie hat uns alles so lieb erklärt! Sie hatte genau so schlimme Migräne wie Du. Und sie nimmt jetzt dieses Antiepileptikum, vor dem Du solche Angst hast: sie hat überhaupt keine Nebenwirkungen, und es geht ihr gut damit! Danach solltest Du die Ärztin fragen. Außerdem musst Du Deine Migränediät auch wieder machen. Die hatte gut geholfen!“

„Die Neurologin wird mich nur in die furchtbare Röhre schieben wollen! Da geh ich nicht rein – nie wieder!“ Fast habe ich das Gefühl, mich meiner Plüsch-Butler erwehren zu müssen: möglicherweise haben sie sogar schon einen Termin für mich ausgemacht!

Elie nimmt allen seinen Mut zusammen und sagt leise, aber mit fester Stimme: „Ich habe auch ganz große Angst vor der Röhre. Aber wenn Du da reinmusst, und Dich nicht traust, würde ich mit da reinkommen, um Dich zu beschützen!“

Ich weiss vor Rührung nicht mehr, wo ich hinsehen soll. Elie ist sehr klaustrophobisch veranlagt – dass er sich anbietet, mich in die Röhre zu begleiten, ist ein großes Opfer für ihn.

„Elie, das ist so lieb von Dir. Aber vielleicht ist es ja doch nicht nötig, dass ich nochmal in dieser Röhre untersucht werde. Mir machen einfach all diese Untersuchungen Angst. Wer weiss, was die da alles herausfinden.“

Anatol schnaubt. „Allenfalls finden sie heraus, dass in Deinem Kopf eine große Leere herrscht. Oder hast Du das Gefühl, dass da ein Gehirn drin ist, Elie? Im Moment scheint es mir nicht so!“

Ich drohe mit dem Entzug des Nachtischs, wenn die verbalen Entgleisungen nicht sofort eingestellt werden. Das fruchtet.

„Wenn Du nicht in die Röhre gehen willst, kann Dich kein Arzt dazu zwingen. Es kann dich auch kein Arzt zwingen, die Prophylaxe zu nehmen, wenn sie Dir nicht bekommt. Wenn es Dir davon zu schlecht geht, setzt Du die Dosis herunter oder stellst das Medikament um. Aber dazu brauchst Du einen guten Arzt. Und deshab rufst Du morgen da an! Das ist ein Befehl. Was hast Du zu verlieren?“

Ich verspreche, morgen die Neurologin anzurufen.

Anatol hat Recht. Ich habe nichts zu verlieren. Aber vielleicht finde ich Linderung für die andauernden, unerträglichen Migräneattacken.

Es muss sein.

PS: ich habe, wie von Anatol und Elie befohlen, heute bei der Neurologin angerufen. Der nächste freie Termin ist Anfang Juli. Mit etwas Glück wird vorher etwas frei.

Die  Butler werden berichten.

45. Kapitel – Ostern im Park

Es ist 6 Uhr 30 – Ostersonntag. Ich habe eine ganze Stunde verschlafen. Die Katzen sitzen mit versteinerten Mienen um mich herum auf dem Bett – das Frühstück hätte bereits um 5 Uhr 30 serviert werden sollen.

Entsetzt springe ich auf und laufe in die Küche, wo mich diese Überraschung erwartet:

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Anatol und Elie sind heimlich ganz früh aufgestanden und haben ein Osterfrühstück vorbereitet. Natürlich haben sie auch die Katzen gefüttert, ihnen aber eingeschärft, ja so zu tun, als hätten sie noch nichts bekommen. So sei die Überraschung noch größer. Die Gangster haben perfekt mitgespielt!

IMG_2168Ich freue mich, dass ich nun nichts weiter tun muss, als mich an den gedeckten Osterfrühstückstisch zu setzen.

Schöner kann das Osterfest nicht beginnen!

Anatol will gleich ein Schoko-Ei, während Elie lieber die kleinen Zucker-Eichen lutscht. Ich hingegen genehmige mir ein saftiges Marmeladen-Vollkornbrot. Dabei fällt mir ein, dass Anatol diesen Sommer Marmelade kochen will. Das sind herrliche Aussichten!

Indessen ist die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen. Die Butler quengeln. „Wann gehen wir endlich Ostereier suchen? Im Park sollen massenweise Eier versteckt sein, hat Fridolin gesagt!“

Ja, die Ostereier im Park. Wer die dort wohl versteckt? Jeder Dino weiss heutzutage, dass es den Osterhasen gar nicht gibt. Daran glauben ja nur Babies. Nein – es ist ganz sicher der Osterdino, der die Eier da versteckt. Schließlich legen Hasen keine Eier – Dinosaurier hingegen schon.

Um diese Erkenntnis weiser verschwinde ich zunächst in der Dusche, nicht ohne vorher das feste Versprechen abgegeben zu haben, dass wir gleich danach in den Park gehen, um Eier zu suchen.

IMG_2171Es ist soweit. Anatol und Elie sind mit Skateboard und Roller im Park unterwegs – Eier, nehmt Euch in Acht, dieses Team wird Euch finden, egal wo Ihr versteckt seid!

Zuerst wird der Musikpavillon abgesucht.

Hier findet sich allerdings nichts.

Elie schlägt vor, beim Stegosaurusbaum zu suchen. Anatol kann sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet an so einer einschlägigen Stelle etwas versteckt sein soll – aber es wird jeder Spur nachgegangen.

IMG_2172Also auf zum Stegobaum.

Aber am geliebten Kletterbaum der Dinos liegt kein einziges Ei versteckt.

Ratlosigkeit breitet sich aus.

„Vielleicht hat der Osterdino dieses Jahr gar keine Eier versteckt …?“ rätselt Anatol.

Elie ist kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Nun muss ich doch eingreifen. „Wieso guckt Ihr nicht mal da drüben, an dem riesigen alten Baum. Der mit dem Efeu. Selbst wenn dort vielleicht keine Eier versteckt sind – der Baum sieht wunderschön aus. Ich sehe ihn mir jetzt jedenfalls mal an.“

Anatol und Elie zockeln los – Anatol voller Tatendrang, Elie ganz leise weinend, denn der Osterdino scheint gestreikt zu haben – so jedenfalls Elies Befürchtung.

Wir kommen am Efeubaum an:

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Da! Am Fuße des Baums, direkt unter dem Efeu, sieht man etwas Blaues und Goldenes aufblitzen! Anatol und Elie laufen aufgeregt darauf zu:

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Der Osterdino hat nicht gestreikt. Osterdinos streiken im Übrigen nie – niemand ist so zuverlässig wie der Osterdino:

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Elie und Anatol  sind selig. Schnell werden die Eier eingepackt und aufs Fahrrad geladen – schließlich sollen sie umgehend in Sicherheit in unsere Wohnung gebracht werden:

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Wir sind wieder zuhause – leider haben die Eier den Rückweg nicht überstanden und sind ratzekahl aufgefuttert worden.

Zum Glück habe ich vorgesorgt und auch in der Wohnung noch ein paar Verstecke mit Eiern bestückt – Pardon: den Osterdino darum gebeten, dies zu tun.

Aber bevor ich vorschlage, auch die Wohnung einmal nach Eiern abzusuchen, lasse ich mir beim Gärtnern auf dem Balkon helfen:

 

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Wir wünschen Euch einen wunderschönen, sonnigen Ostersonntag!

 

44. Kapitel – Feministinnen Frankreichs, wo seid Ihr?

Gerade will ich das luxuriöse Grand Magazin du Printemps verlassen. Ich habe dort wie üblich meinen fond de teint erstanden, meine letzte Bastion der Nicht-Biokosmetik. Nach und nach habe ich alle meine Kosmetikartikel durch Naturkosmetik ersetzt – einzig der der herkömmlichen Kosmetik entstammende fond de teint hat sich bisher als unumgänglich erwiesen. Er ist nach langjährigen Selbstversuchen der einzige, den ich vertrage, der ein hübsches Finish gibt und dabei einigermaßen bezahlbar bleibt, da er mit meiner carte printemps von Zeit zu Zeit 20% heruntergesetzt wird – so auch heute.

Den kostbaren Erwerb im eleganten Einkaufstütchen gehe ich auf den Ausgang zu – da fängt mich ein junger Mann im Anzug ab und möchte wissen, ob ich freundlicherweise für eine Kundenbefragung zur Verfügung stünde. Sie würde nur wenige Minuten in Anspruch nehmen.

Etwas entnervt willige ich ein. Es kann nicht ewig dauern, und irgendwie muss der junge Mann nun auch sein Geld verdienen, sage ich mir. Geduldig lasse ich mir Fragen über mein allgemeines Kaufverhalten und meinen heutigen Einkauf stellen und gebe bereitwillig Auskunft. Die Befragung sei fast zuende, sagt der junge Mann. Er müsse jetzt nur noch wissen, welchen Beruf mein Familienchef ausübe.

Ich glaube, mich verhört haben zu müssen – und bitte den jungen Herrn, die Frage zu wiederholen.

„Welchen Beruf übt Ihr Familienchef aus, s’il vous plaît?“

Ich räuspere mich. „Wenn Sie mir bitte erklären würden, was ein „Familienchef“ ist?“

„Aber gern. Wir brauchen diese Einordnung für unsere Umfragen. Der Familienchef ist in Frankreich der in der Familie lebende Mann. Das männliche Geschlecht ist hier ausschlaggebend. In Deutschland würde man nach dem Hauptverdiener fragen, also nach der Person, die am meisten Geld für die Familie verdient. Aber hier in Frankreich ist es immer der Mann, egal was er verdient.“

Das Blut weicht mir für einen Moment aus dem Gesicht. Ich kneife mich – ja: wir schreiben das Jahr 2014, ich befinde mich im Printemps von Strasbourg, der Haupstadt Europas – die Frauenbewegung ist 50 Jahre alt, Frauen besitzen das Wahlrecht und dürfen ohne Erlaubnis ihres Mannes einen Beruf ausüben und ein Konto eröffnen. Aber eine Kundenbefragung über den Kauf eines von ihrem eigenen Geld erstandenen fond de teints muss eine Frau mit der Angabe „Mein – männlicher – Familienchef ist von Beruf xyz“ abschließen.

Ich bin außer mir und verleihe dem auch deutlich Ausdruck. Ob dem jungen Herrn die Absurdität, ja die Idiotie seiner Frage nicht bewusst sei? Ich zitiere die Suffragettenbewegung des späten 19. Jahrhunderts, bemühe tausende verbrannter BHs der 60er Jahre, erwähne das MLF von Antoinette Fouque und die Frauenbewegung Alice Schwarzers – ja, sogar Olympe de Gouges führe ich an. Ob er allen Ernstes vor diesem Hintergrund noch in der Lage sei, eine so irrwitzige Frage zu stellen wie die nach einem „männlichen Familienchef“? Mittlerweile steht mir die Zornesröte im Gesicht.

Der junge Mann wirkt verunsichert. „Die Frage steht hier aber im Fragebogen. Ich habe Anweisung, sie so zu stellen. Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie dadurch verärgert habe. Vielleicht können wir die Frage so umformulieren: ‚Welchen Beruf übt der in Ihrer Familie lebende Mann aus‘?“

Ich explodiere. Gerade will ich dem jungen Mann wutentbrannt entgegenschleudern „In meiner Familie bin einzig und allein ICH die Chefin!“, da kommt mir eine Idee.

„Es ist also nur ausschlaggebend, was ein männliches Wesen in meiner Familie beruflich tut?“

„Ja, genau!“ seufzt der junge Mann erleichtert und zückt seinen Bleistift, um meine Antwort in seinen Fragebogen einzutragen und dann schnell die unbequeme Kundin, die ich offenkundig bin, aus dem Einkaufstempel zu entlassen.

„Dann schreiben Sie bitte: Der Familienchef ist Haushalts-Stoffdinosaurier und heisst Anatol. Das entspricht auch der Wahrheit – ausreichend eingebildet ist er jedenfalls dafür. Sie können das nicht in Ihren Fragebogen aufnehmen? Nun gut, da gibt es auch einen stellvertretenden Chef: dieser ist von Beruf Hauskater. Allerdings ist er kastriert. Gilt das trotzdem als „männlich“? Da müssten Sie sich erkundigen? Dann tun Sie das doch bitte. Auf Wiedersehen!“

Wutschnaubend verlasse ich den Printemps, nicht ohne mir vorgenommen zu haben, der Direktion einen bitterbösen Brief zu schreiben. Über die nun in den Fragebogen aufgenommene Berufsbezeichnung des vermeintlichen Familienchefs als „Haushaltsdinosaurier“ bzw. „kastrierter Hauskater“ freue ich mich allerdings diebisch. Ob den französischen Meinungsforschungsinstituten wohl noch in diesem Jahrhundert klar wird, wie rückständig sie sind? Es bliebe zu hoffen.

Zuhause stellt Anatol mir unverfroren die Frage, wozu man als Feministin denn eigentlich einen fond de teint benötige? Für diese respektlose Äußerung drohe ich dem Butler mit dem Entzug des Skateboards, woraufhin er sich tatsächlich für die Frage entschuldigt.

Elie sagt schüchtern, er finde, auch Feministinnen dürften sich hübsch machen. Oder sollten nur unemanzipierte Frauen Schminke benutzen? Das wäre doch wirklich nicht zu wünschen – wie würde das denn aussehen.

In puncto Rollenverständnis ist wohl bei beiden Butlern noch einiges aufzuarbeiten.

43. Kapitel – Frohe Ostern

Heute ist der 19. April – der Samstag vor Ostern. Während wir Anfang April schon so warme Tage hatten, dass man im kurzärmligen T-Shirt in den Park gehen konnte, ist nun der Winter zurückgekommen. Draußen ist es bitterkalt, und Anatol musste die Heizung wieder anwerfen, da die Katzen gemeutert hatten – es war ihnen zu kalt.

Nun bullert die Heizung gemütlich vor sich hin, Tonio liegt obenauf und Noah in seinem Körbchen direkt davor.

Ich komme bibbernd vom Markt wieder – die beiden Butler schlummerten noch in ihrem Dino-Nestchen, als ich losgegangen bin.

Anatol schimpft. „Du bist in diesem dünnen Fähnchen raus in die Kälte gegangen? Den Tod wirst Du Dir holen!“

Es stimmt. Ich hatte nur meine obercoole, schicke rote Kunstlederjacke an, die ich am liebsten jeden Tag tragen würde, weil ich sie so mag. Anatol konfisziert das sommerliche Kleidungsstück.

„Da! Hier hatte ich Dir gestern Abend den Wintermantel schon rausgehängt, und den dicken Winterpulli dazugelegt – aber Du musstest ja Deine geliebte dünne rote Jacke anziehen. Wenn das mal nicht eine böse Erkältung gibt!“ zetert er. Anatol kann es nicht leiden, wenn ich krank bin – dann muss er ständig Suppe kochen, Medikamente bereithalten und mein Gejammere ertragen.

Leider war ich schon die letzten Tage und Nächte krank – die Migräne war so stark, dass ich gar nicht aufstehen konnte. Auch deshalb schimpft Anatol.

„Du hast Deine Migräne-Diät nicht eingehalten, und davon ist die Migräne wieder so bös geworden. Ab jetzt achte ich wieder penibel darauf, dass Du jedenfalls zuhause nichts isst, was die Migräne schlimmer macht! Alles, was nicht in die Diät gehört, wird weggeschlossen! Aber was Du außerhalb isst, darauf habe ich ja keinen Einfluss – leider! Reiss Dich zusammen und iss nicht wieder so einen migränetriggernden Mist!“

Auch hier hat Anatol recht. Ich habe meine Migränediät sträflich vernachlässigt. Zu gut schmecken die verbotenen Dinge … Parmesan, Camembert … nicht mal vegan sind die … und Erdbeeren, Rhabarber … die soll ich nun auch nicht mehr essen.

Aber ich muss die Zähne zusammenbeissen und in den nächsten Wochen darauf verzichten. Ich hoffe, dass ich die Migräne so wieder in den Griff bekomme. Es hatte ja schon einmal sehr gut geholfen.

Nun ziehe ich brav den Winterpulli und den Wintermantel an, streife die Wollhandschuhe über, die Anatol mir auch bereitgelegt hat, und fahre in die Stadt – den Sonnabendeinkauf erledigen. Vielleicht finde ich ja auch ein paar Ostereier, die ich für die beiden Butler verstecken kann. Schließlich ist morgen Ostern!

Anatol, Elie, die Katzenbande und ich wünschen Euch allen frohe Ostern!

 

 

42. Kapitel – Lieblingslehrer

Photo: Ben Thies800px-Max-Planck-Gymnasium_Göttingen_Hauptgebäude

Anatol kann gar nicht mehr aufhören, von seiner neuen Klassenlehrerin zu erzählen. Sie heisst Frau Berger und gibt Englischunterricht. Anatol findet, sie könne nicht nur ganz toll Englisch, nein – sie sei auch noch unglaublich hübsch, und so freundlich zu den Schülern!

„Ich glaube, Frau Berger ist meine Lieblingslehrerin!“ erklärt er heute beim Abendessen. „Im nächsten Zeugnis will ich in Englisch eine Eins bekommen – damit sie merkt, wie gern ich sie mag!“

Diese sehr löbliche Einstellung kann ich nur unterstützen.

„Hattest Du auch eine Lieblingslehrerin?“ fragt Elie.

„Ja, das hatte ich. Meine Französischlehrerin, Frau Klein. Aber ich hatte auch zwei Lieblingslehrer.“

„Wie kann man denn gleich zwei Lieblingslehrer haben? Das geht doch nicht!“ meint Anatol.

„Doch, das geht.“ antworte ich. „Die beiden waren sehr unterschiedlich, aber ich mochte sie beide unglaublich gern. Wir hatten viele nette Lehrer, aber diese beiden waren etwas Besonderes. Der eine war unser Lateinlehrer, und der andere unterrichtete Geschichte.“

„Geschichte finde ich so spannend!“ sagt Elie. „Erzähl uns von Deinem Geschichtslehrer! Wieso war er besonders?“ Elie rutscht aufgeregt auf seinem Stuhl herum.

Ich willige ein und beginne, zu erzählen.

Es muss das Jahr 1983 sein …  gelangweilt sitzen wir – die 9b – an unseren Tischen. Gleich beginnt die Geschichtsstunde. Draußen scheint die Sonne wunderbar warm: der Sommer ist nicht mehr fern. Viel lieber würden wir jetzt auf dem Schulhof spielen – oder im Schatten unter der Linde ein gutes Buch lesen.

Unserer Geschichtslehrer betritt den Klassenraum. Es ist ein älterer Herr mit Glatze, die er vergeblich versucht, unter ein paar verbleibenden Haaren zu verstecken. Heimlich machen wir darüber Späße – achten aber darauf, dass er es nicht merkt, denn Herr von Wedemeyer ist sehr streng.

Heute ist er nicht allein – ein großer Schüler, scheinbar kaum älter als wir, begleitet ihn. Ob der bei uns in die Klasse gehen soll? Dazu sieht doch etwas zu erwachsen aus.

„Kinder, ich stelle Euch Herrn Reinecke vor. Er ist Referendar und wird Euch von jetzt an mit mir gemeinsam unterrichten. Heute wird er den Geschichtsunterricht geben – bitte seid aufmerksam und brav.“

Mit diesen Worten verlässt Herr von Wedemeyer das Klassenzimmer und lässt den Neuen mit uns allein.

Ein Referendar … normalerweise bedeutet das, dass man weder aufpasst noch irgendetwas von dem tut, was der Referendar anordnet. Ein Referendar ist Freiwild. Schließlich ist er kein „echter“ Lehrer – so denken wir zumindest. Der Klassenkasper hat bereits ein gut mit Spucke eingeweichtes Papierkügelchen in seiner Zwille – zack! fliegt es auf Herrn Reinecke zu.

Herr Reinecke reagiert allerdings nicht wie ein normaler Referendar, der versuchen würde, dem Geschoß auszuweichen. Er fängt die Kugel blitzschnell mit der linken Hand ab, bevor sie ihn treffen kann, und wirft sie mit einer spielerischen Handbewegung zielsicher in den mehrere Meter entfernten Papierkorb.

Der Klassenkasper blickt seiner Papierpatrone ungläubig nach, während Herr Reinecke trocken bemerkt „Nun können wir wohl mit dem Unterricht anfangen. Bitte holt Eure Bücher heraus. Wir werden die deutsche Revolution von 1848 durchnehmen. Könnt Ihr mir dazu etwas sagen? Wir wollen als erstes all das sammeln und aufschreiben, was Ihr über dieses Thema schon wisst. Wer ist denn die junge Dame hier gleich vorn? Susanne – bitte fange doch an, uns ein paar Stichworte zu sagen. Ich schreibe sie an die Tafel. Es wird jeder drankommen, keine Angst.“

Wir sind sprachlos. Einen solchen Referendar haben wir noch nie gehabt. Er weiss genau, was er tut – so als hätte er schon viele Jahre unterrichtet. Plötzlich sind wir alle – selbst die eingefleischten Leistungsverweigerer – motiviert, in Geschichte mitzuarbeiten. Geschichte wird unser Lieblingsfach.

Kurze Zeit später wird Herr Reinecke auch unser Sportlehrer. Dies zwingt mich dazu, meine Mutter so lange zu bearbeiten, bis sie mir endlich die hübschen Sportklamotten kauft, mit denen ich – wie alle anderen Mädchen der Klasse – gedenke, unseren smarten neuen Sportlehrer zu beeindrucken. Letzteres misslingt zwar vollständig, aber meine Leistungen in Geschichte und Sport verwandelen sich plötzlich von „mittelmäßig“ in „sehr gut“.

Herr Reinecke absolviert seine Referendarstation in unserer Klasse mit Bravur. Als er uns verlässt, um sein Examen vorzubereiten, wünschen wir ihm viel Glück und Erfolg – und erklären unumwunden, dass wir ihn danach als Geschichts- und Sportlehrer wiederhaben wollen. Etwas anderes akzeptierten wir nicht.

Es ist außerordentlich ungewöhnlich, dass ein Lehrer nach bestandenem Examen ausgerechnet in der Schule eine Stelle findet, in der er seine Referendarstation abgeleistet hat.

Wir haben dieses Glück: als wir in die 11. Klasse kommen, erwartet Herr Reinecke uns im Klassenzimmer – wir sind nun keine „Kleinen“ mehr, sondern gehen in die Oberstufe. Herr Reinecke verlangt uns hohe Leistungen ab – aber wir freuen uns auf jede Stunde bei ihm.

Herr Reinecke fehlt plötzlich. Die Geschichtsstunden fallen erst aus, dann vertritt ein anderer Lehrer. Wir erfahren, dass Herr Reinecke sehr krank ist, und dass er eine Dialyse braucht. Es ist das erste Mal, dass ich dieses Wort höre.

Ein paar Monate später ist Herr Reinecke wieder da – verändert. Er ist müde und man sieht ihm an, dass er krank gewesen ist. Dennoch gibt er uns weiter Sportunterricht und gönnt sich kaum Ruhe. Wir trauen uns nicht, ihn auf die Krankheit anzusprechen. Sie macht uns Angst, und wir wollen ihn nicht mit Fragen belasten.

Im Sommer gehen wir für eine Woche auf Klassenfahrt nach Heidelberg. Wir wünschen uns Herrn Reinecke als Begleiter. Eine Klassenkameradin spricht das aus, was wir alle denken: „Er ist ja so süß!“

Im Schwimmbad spielen wir Wasserball. Wir tollen so herum, dass ein älterer Herr sich etwas beschwert. Herr Reinecke – der so aussieht, als wäre er unser großer Bruder – sorgt schnell für Ordnung: einzig mit seiner freundlichen, bestimmten Art.

Geschichte wird mein mündliches Prüfungsfach im Abitur. Von der 9. Klasse an bis zum Abitur werde ich keinen anderen Geschichtslehrer mehr haben als Herrn Reinecke.

Am Tag der mündlichen Prüfung bin ich sehr aufgeregt. Herr Reinecke teilt die Prüfungsaufgabe aus: es geht um die Frankfurter Nationalversammlung – das habe ich ja bei ihm gelernt. Bevor er mich für die Vorbereitung der Prüfung alleinlässt, fragt er mich, ob alles ok ist – er sieht mir die Aufregung an. Ich nicke. Es kann nichts schiefgehen!

Eine Stunde später holt er mich zur Prüfung ab und sieht, dass ich mich beruhigt habe. Er klopft mir auf die Schulter und sagt: „Frisch, fromm, fröhlich, frei:  das schaffen wir jetzt, ok?“

Ich bestehe die Prüfung mit einer guten Note. Um nichts in der Welt hätte ich meinen Lehrer enttäuschen wollen.

1988 machen wir Abitur. Wir sind der erste Jahrgang, den Herr Reinecke zum Abitur bringt.

Ich gehe zum Studium in eine andere Stadt – und ins Ausland. Nach Hause komme ich nur selten, und in unsere alte Schule kehre ich gar nicht mehr zurück.

2008 feiern wir unser 20jähriges Abitur. Wie konnte die Zeit so schnell vergehen? Eben waren wir noch in der 9. Klasse …  Herr Reinecke ist natürlich auch auf unserer Feier – wie könnte er fehlen. Ich habe nur ein paar Minuten, um mich mit ihm zu unterhalten – zu viele Schulkameraden sind da, es gibt so viel zu erzählen. Dennoch bemerke ich, dass es Herrn Reinecke nicht gut geht. Er sieht sehr müde aus – ich hoffe, dass es nur vorübergehend ist.

Als ich von der Feier nach Hause fahre, nehme ich mir fest vor, beim nächsten Abiturtreffen Herrn Reinecke alles das zu sagen, was er uns Gutes getan hat – als Lehrer in seinem Unterricht, und als Mensch, der uns gezeigt hat, wie man erwachsen wird.

Ich werde ihn jedoch nie wiedersehen. Herr Reinecke stirbt im Mai 2013 mit nur 59 Jahren.

Elie laufen Tränen aus den Augen.

Anatol fragt ungläubig: „Und Du konntest ihm niemals sagen, wie gern Du ihn gehabt hast, und was er Dir als Lehrer bedeutet hat? Meinst Du nicht, er muss das gewusst haben?“

„Ich hoffe es, Anatol. Ich hätte damals mit ihm sprechen sollen. Warum habe ich das nur nicht getan.“

Anatol sagt entschlossen: „Morgen gehe ich als erstes zu Frau Berger und umarme sie ganz fest. Und dann sage ich ihr, dass ich und alle meine Klassenkameraden sie total lieb haben.“

Ich lächle.

„Das ist eine gute Idee, Anatol. Frau Berger freut sich ganz sicher darüber. Achte vielleicht nur darauf, dass Angelo Dich dabei nicht sieht.“

OLYMPUS DIGITAL CAMERAPhoto: Elke Rumpel

41. Kapitel – Das Palmsonntagskonzert beim Panther-Club

cropped-img_1210.jpgVorletzte Woche hat Herr Kuno, der Musiklehrer, die aufregende Neuigkeit verkündet : das Schulorchester ist vom berühmten Panther-Club, einer internationalen Wohltätigkeitsorganisation, für ein Konzert am Palmsonntag engagiert worden!

Am Sonntag vor Ostern arrangiert der Panther-Club traditionell eine Benefizveranstaltung, bei der auch immer ein Palmsonntags-Sinfoniekonzert stattfindet. Und für dieses Konzert ist das Schulorchester des Max-Planck-Gymnasiums – Anatols Schule – ausgesucht worden.

Anatol kann sich gar nicht mehr beruhigen. « Stellt Euch vor – wir werden im Park vor fast 300 Zuhörern spielen ! Wir werden berühmt ! »

Elie findet das weit weniger enthusiasmierend. Er spielt er erst seit kurzer Zeit Geige und weiss noch nicht, ob er das weiterführen will. Er ist eigentlich mehr vom Klavier angetan – aber ich möchte erst, dass er etwas Geige lernt. Die Geige kann man leichter überall hin mitnehmen und dann mit Freunden musizieren. Zudem haben wir kein Klavier – leider.

Anatol hingegen spielt schon in der ersten Geige. Er ist relativ begabt – und dementsprechend stolz auf sein Geigenspiel. Eine Gelegenheit wie das kommende Benefizkonzert ist eine großartige Bestätigung für ihn.

Die beiden Butler haben in den vergangenen Wochen sehr intensiv geprobt. Jeden Tag fand eine mehrstündige Orchesterprobe statt, und danach selbstverständlich noch die Übungen zu Hause – und die Einzelproben mit der jeweiligen Instrumentenstimme. Mehrfach war die erste Geige bei uns, um hier zu üben. Überflüssig zu erwähnen, dass der Konzertmeister natürlich Angelo ist. Er wird in dem Konzert auch einen Solopart spielen. Anatol ist sehr neidisch darauf. Leider ist Neid kein guter Ansporn – auch wenn er durchaus ungeahnte Energien freisetzen kann. So übt Anatol zur Zeit nicht wie üblich eine Stunde täglich, sondern vier. Ich habe alle Mühe, für Ausgleich zu sorgen – Anatol ist von dem Instrument nicht mehr wegzukriegen.

Ganz besonders wurmt Anatol, dass Angelo – obwohl mehrere Jahre jünger als er selbst – schon diverse Preise bei Dinojugend musiziert gewonnen hat. « Warum soll ich nicht bei Dinojugend musiziert mitmachen?! Warum verbietest Du mir das? Es ist so ungerecht! »

Ich berichtige Anatol. « Ich habe eine Teilnahme an Dinojugend musiziert nicht verboten, Anatol. Ich finde nur, dass diese Veranstaltungen mehr Dressur sind als Musik. Was mir daran überhaupt nicht gefällt, ist das Konkurrenzdenken, das den jungen Musikern dabei eingebleut wird. Musik hat aus meiner Sicht nichts mit Gewinnen oder Verlieren zu tun. Das habe ich Dir ja auch früher schon erklärt. »

Dass ich mit dieser altmodischen Ansicht vollständig überholt bin, ist mir klar. Heute muss man zu den Gewinnern gehören – immer und überall. Während ich früher mit meinen Freunden einfach nur gemeinsam Musik machen konnte, geht es heute darum, einen ersten Preis zu ergattern. Ich finde das traurig, und möchte meine Saurier davor so lange bewahren wie möglich. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, das weiss ich.

Aber noch eine andere Befürchtung bringt mich dazu, Anatol von einer Teilnahme an diesen Wettbewerben abzuhalten: Anatol ist zwar begabt, aber keinesfalls ein Genie. Sein Geigenspiel macht uns allen – und vor allem ihm selbst – viel Freude. Oft hat er ja mit Antonia musiziert, nun spielt er Duos mit Elie. Ich habe Angst, dass seine Unbefangenheit und Kreativität darunter leiden, wenn er auf den Wettbewerben mit der harten Realität konfrontiert wird. Mit winzigen Wundersauriern, die bereits als Vierjährige das Mendelssohn-Violinkonzert in einem Rutsch runterspielen. Mit Zehnjährigen, die schon an der Juilliard-School studiert haben und Preisträger von internationalen Wettbewerben sind. Und dass er sich selbst dann als Versager fühlt – obwohl er so schön Geige spielt und auch noch weitere Fortschritte machen kann. Kurz, ich sorge mich, dass ihm die Freude am Musizieren auf derlei Veranstaltungen verdorben wird. Dies sage ich ihm natürlich nicht, denn Anatol ist sehr ehrgeizig.

Elie dagegen – er spielt in der sogenannten « dritten Geige », eigentlich der Bratschenstimme – ist deutlich weniger motiviert. Der Bratschenpart ist nicht sehr inspirierend und besteht vorwiegend aus Pausen. Es ist daher Elies größte Sorge, möglicherweise einen Einsatz zu verpassen, wenn er sich bei den Pausen verzählt.

« Was soll ich denn nur tun, wenn ich den Einsatz nicht mehr weiss ? Herr Kuno gibt uns ja meist ein Zeichen, aber an manchen Stellen ist es nicht möglich. Ich habe Angst, das ganze Konzert zu vergeigen! Was ich dann von Angelo zu hören bekomme, darf ich mir gar nicht vorstellen! Er nennt uns ja jetzt schon „die Tuttischweine“! » Der Angstschweiss steht Elie auf der Stirn.

Anatol hat wie immer unfehlbare Tipps. « Die Pausen zählst Du jeweils mit der Anfangszahl durch. Erste Pause : 1-2-3-4 (wenn es ein Viervierteltakt ist). Zweite Pause : 2-2-3-4. Dritte Pause : 3-2-3-4. Und so weiter. Dann weisst Du immer, in welcher Pause Du gerade bist. Nach der 10. Pause zum Beispiel – die Du 10-2-3-4 zählst – kommt dann Dein Einsatz. Da kann nichts schief gehen, Elie ! »

Elie ist sich da nicht so sicher. Aus Erfahrung weiss er, dass trotz bester Planung immer noch Dinge schieflaufen können. Verzagt guckt er Anatol an. « Und wenn doch … ? Was dann ? »

« Tja, dann musst Du mit Bordmitteln arbeiten. Das heisst : Du musst improvisieren. Du weisst ja, in welcher Tonart das Stück komponiert ist. Und wenn Du meinst, Du bist grad dran, aber Du bist nicht ganz sicher, dann spielst Du einfach – lieber nicht zu laut ! – ein paar Akkorde in dieser Tonart. Außer, wenn gerade eine Modulation in eine andere Tonart stattfindet – dann nimmst Du die modulierte Tonart. Sonst lieber nichts spielen. Eventuell kannst Du den Bogen so bewegen, dass man denkt, Du spielst. »

Elie gibt zu bedenken, dass er nicht allein in der dritten Geige spielt. Da sind noch Miriam und Matthias, ein großer Junge, den er nicht so gut kennt.

« Ja klar – der Matthias hat mir beigebracht, wie man improvisiert. So haben wir das damals in der dritten Geige immer gemacht. Hat immer geklappt. Am besten macht ihr beiden (Miriam und Du) es so : ihr guckt, was Matthias spielt, und dann spielt ihr das Gleiche. Klar ? Angelo hat einen Solopart – der wird nicht darauf achten, was die dritte Geige gerade macht. Also keine Bange.» Elie nickt. Etwas Angst hat er immer noch. Aber ein wenig Lampenfieber ist nötig. Sonst fehlt dem Auftritt die Spannung.

Heute ist der große Tag: Palmsonntag – der Tag des Benefizkonzerts. Ich habe jegliches Üben verboten – man darf nicht übertrainieren. Im Konzert muss man frisch anfangen – und nicht die 5. Übeeinheit des Tages abspulen. Anatol akzeptiert das. Kurz vor dem Konzert werden im Orchester nur noch einmal die schwierigen Übergänge durchgespielt, aber mehr auf keinen Fall. Die Generalprobe ist bereits am Tag vorher gewesen – nun wird die Geige erst zum Konzert wieder angerührt.

Das Konzert wird am frühen Abend im Musikpavillon des Parks stattfinden. Zum Glück ist heute ein wunderbarer, sonniger Tag. Ich freue mich auf die Veranstaltung, die eine willkommene Abwechslung in meine Sonntagsroutine bringt.

IMG_2153Die beiden Saurier machen sich anderthalb Stunden vor Beginn des Konzerts mit ihren Geigenkästchen auf den Weg in den Park – nicht ohne mir eingeschärft zu haben, um 18 Uhr 30 ja pünktlich da zu sein. Ich verspreche das und wende mich meiner Arbeit zu. Ein wenig Zeit habe ich ja noch.

Um 18 Uhr 15 finde ich mich am Musikpavillon ein. Die Mitglieder des Panther-Clubs – es handelt sich fast ausschließlich um ältere Herrschaften – sind schon dort versammelt. Eifrig verteilen sie das Programm der Veranstaltung: Zunächst wird die Sitzung des Panther-Clubs stattfinden. Es sollen mehrere Reden gehalten werden, gefolgt vom Konzertprogramm. Nach dem musikalischen Teil gibt es eine kurze Abschiedsrede, und dann sind die Orchestermusiker zu einem Umtrunk beim Panther-Club eingeladen. Der Erlös des Konzerts kommt einer gemeinnützigen Einrichtung zugute. Eine schöne Veranstaltung, finde ich.

Die etwa 300 Konzertbesucher sitzen nun vor dem Pavillon, und gleich wird die Sitzung des Clubs beginnen. Ich frage mich, wie lange sie wohl dauern kann… Das Schulorchester – bestehend aus knapp 30 vor Lampenfieber zitternden kleinen Dinos  – muss währenddessen stillsitzen und zuhören. Ich hoffe, dass die Disziplin der jungen Musiker dafür ausreicht. Zum Glück ist Herr Kuno, der Musiklehrer und Orchesterleiter, mit solchen Situationen vertraut. Ich hoffe also, dass die Veranstaltung ohne Zwischenfälle ablaufen kann.

Ein Glöckchen klingt – es läutet den Beginn der Sitzung des Panther-Clubs ein. Ein älterer Herr, der erste Vorsitzende, geht zum Rednerpult und hebt die Arme, um Stille einkehren zu lassen. Dann setzt er zur Rede an.

„Meine lieben Pantherclub Mitglieder, eine traurige Nachricht hat mich eben erreicht. Unser langjähriger Mitstreiter und Freund, Gregor Samla, hat uns gestern für immer verlassen.“ Er senkt den Kopf.

Ein Ruck geht durch das Publikum. Wie ein einziger Mann erheben sich alle Mitglieder des Clubs. Kerzengerade stehen sie da, um ihrem Freund stumm die letzte Ehre zu erweisen.

Der erste Vorsitzende erinnert nun an den Werdegang Gregor Samlas, an seine universitäre Karriere und seine Veröffentlichungen. Es ist ein ergreifender Nachruf.

Mit umso größerem Entsetzen bemerke ich, dass jedesmal, wenn der Name „Gregor Samla“ fällt, ein Zucken und Kichern durch das Saurierorchester geht! Die 6. Klasse hat nämlich gerade „Die Verwandlung“ von Kafka gelesen – der Name des verstorbenen Panther-Club-Mitstreiters erinnert sie an den kafkaschen Käfer. Normalerweise wäre dies nicht witzig – im Gegenteil liegt hier ja sogar ein sehr trauriges Ereignis vor – aber die Nervosität der jungen Musiker, die kaum mehr stillsitzen können, tut ihr Übriges: das Kichern wird lauter. Es hilft auch nicht gerade, dass in jedem Dinozimmer mindestens eine „Samla-Box“ von Ikea steht.

Herr Kuno zischelt „Kinder, leise!“ und tippt mit dem Dirigentenstab auf die Notenpulte, um seine Musiker zur Ordnung zu rufen. Ein klein wenig Wirkung zeigt dies – zumindest die erste Geige scheint sich zu beruhigen. In den hinteren Rängen jedoch bebt und rumort es, das sehe ich sogar aus der Entfernung.

Der erste Vorsitzende hat seinen Nachruf beendet. Ich sehe, wie Herr Kuno aufatmet, denn nun muss das normale Programm beginnen. Zwar werden die Reden noch etwas dauern, aber es wird wohl nicht mehr von Gregor Samla gesprochen werden – er ruhe in Frieden.

Leider nimmt die Veranstaltung jedoch einen anderen – fatalen – Verlauf, denn der erste Vorsitzende verkündet, man wolle nun Gregor Samlas mit drei Schweigeminuten gedenken. Die Mitglieder erheben sich wieder, falten die Hände und senken den Blick. Man sieht, dass sie alle den Verstorbenen gekannt und geschätzt haben. Ich bin ergriffen.

Leider ist das nicht der Fall des Orchesters. Die erste Geige gluckst. Gleichzeitig verstummt das Publikum vollkommen. Man könnte eine Nadel zu Boden fallen hören. Das Kichern erfasst die zweite Geige, die Bratsche. Die Bläser versuchen, zu widerstehen – erfolglos! Die erste Cellistin kneift sich in den Arm, der Trompeter verbirgt sein Gesicht im Schallbecher seines Instruments: Das ganze Orchester ist dabei, in einen kollektiven Lachkrampf abzugleiten!

Herr Kuno, ebenfalls bestrebt, ein nervöses Lachen zu unterdrücken, sieht sich verzweifelt nach Hilfe um – und fassungslos höre ich ausgerechnet Elie in die Stille der Gedenkminute einwerfen: „Wieso lacht Ihr denn? Der arme Herr Samla kann doch nichts dafür, dass er wie eine Ikea-Box heisst. Ich finde es traurig, dass er gestorben ist!“. Elie kennt die Erzählung von Kafka noch nicht.

Nun gibt es kein Halten mehr. Die Geiger nehmen sich gegenseitig in den Arm, um den Lachkrampf zu ersticken. Die Cellisten stopfen sich ihr Kolophonium in den Mund, aber nichts hilft: in wenigen Sekunden wird das Orchester gegen seinen Willen und trotz geradezu übermenschlicher Anstrengung  in johlendes Gelächter ausbrechen.

Herr Kuno – feuerrot vor unterdrücktem Lachen – flüstert mit letzter Kraft: „Wir müssen spielen! Jetzt! Den Khachaturian – das ist die einzige Rettung!“ Er nickt Angelo, der am ersten Pult sitzt, zu, hebt den Dirigentenstab. Die Musiker setzen die Instrumente an – die Konzentration kommt zurück. Herr Kuno gibt den Einsatz – und mitten in die Schweigeminute hinein explodiert der berühmte Säbeltanz von Khachaturian.

Entsetzt ob dieser unerwarteten Wendung dreht sich der erste Vorsitzende des Clubs zum Orchester um. Aber das hat sich in einen wilden, durch nichts mehr aufzuhaltenden, grandiosen Reigen verwandelt.

Nach dem Säbeltanz lässt Herr Kuno keine Stille einkehren. Das Konzertprogramm muss nun in voller Länge absolviert werden – zu groß ist die Gefahr eines erneuten nervösen Lachanfalls. „Sarasate!“ befiehlt er dem Orchester. Das ist Angelos großer Auftritt.

Die Zigeunerweisen erklingen – und daran schliessen sich die beiden Arlésienne-Suiten von Bizet an. Herr Kuno peitscht das Programm gleichsam durch – die Darbietung ist atemberaubend. Noch nie hat das Orchester so brillant gespielt.

Der letzte Akkord verklingt. Herr Kuno bedeutet dem Orchester, aufzustehen. Er wendet sich zum Publikum, verbeugt sich. Ich kann sehen, dass er schweissgebadet ist.

Das Publikum ist sprachlos. Ein paar Sekunden lang herrscht absolute Stille. Dann brandet ohrenbetäubender Applaus los. Das Publikum erhebt sich – erbringt eine Ovation. Die kleinen Musiker strahlen.

Das Orchester darf nun abtreten, wird aber mehrfach vom Applaus zurückgeholt. Schließlich gibt es die erste Arlésienne-Suite noch einmal als Zugabe. Das Publikum ist selig.

IMG_2152Als alle Musiker mit ihren Instrumentenkästen vor dem Musikpavillon stehen und sich vom Panther-Club etwas verschämt verabschieden, streichelt eine alte Dame Elie über den Kopf. „Ihr habt sehr schön gespielt. Es macht uns große Freude zu sehen, dass junge Leute wie Ihr so viel Spaß an der Musik haben und beim Musizieren so viel lachen. Das Leben darf nicht nur aus ernsten Dingen wie Tod und Trauer bestehen.“

Angelo meint später ironisch, die alte Frau habe nicht mal gemerkt, dass das Orchester sich über den Panther-Club lustig gemacht habe. Vermutlich habe sie dann auch nicht gehört, dass Elie seinen Einsatz im Khachaturian versaubeutelt habe.

Elie kommt geknickt zu mir. Ob man denn wirklich herausgehört hätte, dass er im Khachaturian ein wenig habe „improvisieren“ müssen. Ich sage wahrheitsgemäß, dass mir nichts derartiges aufgefallen sei. Vielmehr habe Elie sehr schön gespielt. Ich glaube allerdings, die freundliche alte Dame hat sehr wohl gemerkt, dass das Orchester – aus Nervosität und Lampenfieber – in peinlicher Weise die Contenance verloren hat. Sie muss es als einen fröhlichen Zwischenfall inmitten einer sehr traurigen Versammlung angesehen haben. Vielleicht hat sie als junger Mensch so etwas einmal selbst erlebt? Vielleicht sind ihr die Veranstaltungen des Panther-Clubs oft zu ernst?

Vielleicht denkt sie aber auch, dass man dem Tod nichts Besseres entgegensetzen kann als eine Gruppe lachender kleiner Saurierschüler.

Ich finde die Äußerung der alten Dame nicht nur lieb, sondern auch sehr weise.

Vom Panther-Club wird das Orchester dennoch nie wieder engagiert werden.

40. Kapitel – Schranken des Minimalismus

IMG_2121Verstohlen öffne ich die Wohnungstür. Ich versuche, dabei so wenig Lärm zu machen wie nur möglich. Den Schlüsselbund in der einen Hand, eine große Tüte in der anderen betrete ich die Wohnung. Auf Zehenspitzen versuche ich, das Schlafzimmer zu erreichen, um dort die verdächtige Tüte im Schrank verschwinden zu lassen.

„Du brauchst gar nicht zu schleichen!“ tönt es da aus dem Wohnzimmer. Anatol und Elie sitzen mit versteinerten Mienen am Tisch. „Wir wissen alles. Fridolin hat Dich in der Stadt gesehen – bei Somewhere. Er hat heute dort im Lager gearbeitet – sie haben die neue Kollektion eingeräumt. Ja – wir wissen, was Du getan hast. Was hast Du dazu zu sagen?“

Ich lasse die Tüte zu Boden gleiten und stelle mich dem improvisierten Sauriertribunal. Was habe ich zu sagen? Nicht viel … ich habe mein Gelübde, in diesem Jahr überhaupt keine neuen Klamotten zu kaufen, schändlich gebrochen. Ich habe meine mir selbst auferlegten Minimalismus-Anforderungen nicht eingehalten. Das ist schwach und inkonsequent. Mehr noch: es ist schlecht.

„Anatol, Elie. Ich weiss ja, dass ich das nicht mehr tun wollte. Aber nun wird es Sommer. Ich wollte so gern dieses Leinen-T-Shirt, das ich letztes Jahr nicht mehr gefunden habe, weil meine Größe ausgegangen war. Nun ist es wieder in der neuen Kollektion dabeigewesen. Deshalb habe ich es gekauft.“

„Ach so! Und weil Du ein T-Shirt haben wolltest, hast Du also zwei gekauft. Interessant!“ Anatol klingt messerscharf.

Nun muss ich mich wehren. „Ich habe ein dunkelgraues und ein hellgraues T-Shirt gekauft. Und sie waren nicht teuer! Darf ich daran erinnern, dass ICH hier das Geld verdiene und mir damit immer noch das kaufen darf, was ich möchte?“ Letzteres sage ich mit Nachdruck, um möglichen Weiterungen einen Riegel vorzuschieben.

„Und deshalb darfst Du T-Shirts bekommen – aber ich muss auf ein Tablet verzichten! Das ist so unfair!“ zetert Elie.

„Elie, bitte. Du weisst genau, dass ein T-Shirt bei weitem nicht dasselbe kostet wie ein Tablet!“

„Mit den ganzen T-Shirts, die Du Dir schon gekauft hast, könnte ich mindestens 3 Tablets bezahlen!“ erwidert Elie pikiert.

Ich setze mich zu den Butlern an den Tisch. „Es stimmt. Ich habe mein Versprechen nicht eingehalten. Ich wollte das ganze Jahr kein einziges neues Kleidungsstück kaufen, und nun hab ich es nicht geschafft. Es ärgert mich selbst! Aber ich hab mich im letzten Sommer so gegrämt, weil das schöne graue T-Shirt nicht mehr zu haben war … und deshalb wollte ich es jetzt unbedingt kaufen. Ok, dass ich dann noch den wunderschönen rosa-abricot-farbenen Foulard gekauft habe … das war nicht wirklich nötig. Aber Ihr werdet sehen – er ist phantastisch.“

IMG_2127Die beste Überzeugungsarbeit leistet immer noch die Sache selbst. Ich packe die T-Shirts also aus – und auch den Schal. Nun ändert sich die Tonlage! Anatol murmelt etwas wie „Sieht wirklich nicht schlecht aus“, während Elie sich den Schal schnappt. „Ist der schön!“ ruft er. „Und so weich! Das sind genau meine Farben – darf ich den morgen in den Park mitnehmen? Bitte!“

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Elie. Der Schal ist ganz leicht und fein, mit dem bleibst Du an jedem Busch hängen, und würdest ihn zerreissen. Es wäre sehr schade um den schönen Schal. Aber Du darfst ihn gerne heute Abend umnehmen, wenn Du magst.“

Damit ist Elie einverstanden.

IMG_2130Ich bin erleichtert. Die Butler haben sich schneller einsichtig gezeigt, als ich es gedacht hätte. Nun muss ich nur noch mit meinem eigenen Gewissen klarkommen – wegen des Bruchs meines Minimalismus-Gelöbnisses.

Muss man, wenn man minimalistisch leben möchte, wirklich auf jedes T-Shirt verzichten? Vermutlich schon. Es ist schlecht für die Umwelt, neue Klamotten zu kaufen – und oft ist der Kleiderschrank ja sowieso schon übervoll. Wozu so viel Kleidung …?

Es baut einfach auf, ab und zu mal etwas Neues zu erstehen. Vielleicht ist es mit einem gemäßigten Minimalismus zu vereinbaren, wenn man nur das Nötigste kauft – und sich nur sehr selten eine neue Klamotte gönnt. Ich hoffe das.

IMG_2131Denn über meine beiden T-Shirts und den wundervollen Schal freue ich mich. Minimalismus hin oder her – sie tun mir einfach gut.

Ob ich den Rest des Jahres nun kauffrei überstehe? Wir werden sehen.

 

 

 

39. Kapitel – Das Tablet

IMG_2101Elie kommt aufgeregt aus der Schule zurück. Frau Goyke – die strenge Mathematiklehrerin – hatte gestern angekündigt, dass sie ihre heutige Mathe-Doppelstunde für eine Einführung in die Internettechnik zur Verfügung stellen werde. Diese Veranstaltung hat heute stattgefunden.

Frau Goyke ist – obschon eine ältere Dame – sehr zukunftsorientiert. Sie meint, man müsse die Schüler so früh wie möglich mit dem Internet vertraut machen, denn das sei die Technik der Zukunft. Jeder Saurierjunge und jedes Sauriermädchen müsse damit umgehen können.

„Mädchenkompetenz“ nenne sie das, sagt Elie. Das Wort „Medien“ kennt Elie noch nicht.

Heute hatte Elies Klasse also die „Einführung in die Technik des Internets“. Ein freundlicher Lehrer aus einer anderen Schule sei gekommen und habe mehrere Stunden lang alles über das Internet erklärt. Wie man eine Webseite erstelle, in Form bringe und wie man mit Programmiersprachen umgehe. Auch was soziale Netzwerke seien und wie man sich als junger Dino dort am besten verhalte, habe er ganz toll erklärt, findet Elie.

Angelo, der Klassenbeste, habe das allerdings alles schon gewusst und sich bei der Veranstaltung ziemlich gelangweilt. „Sowas weiss doch heute jedes Kind“ habe er gestöhnt. Elie habe dann so getan, als ob er das selbstverständlich auch alles schon wisse. Insgeheim befürchtet er aber, Angelo habe längst gemerkt, dass er – Elie – in Wirklichkeit gar keine Ahnung habe.

„Wieso kann Angelo das alles, und ich nicht!?“ fragt Elie vorwurfsvoll. „Elie, das weiss ich nicht“ sage ich. „Vielleicht hat Angelo Eltern, die das studiert haben, und die es ihm besonders gut beibringen können?“

„Quatsch“ meint Anatol. „Als Angelos Eltern studiert haben, gab es noch gar kein Internet. Die haben es ihm ganz sicher nicht erklärt. Wenn, dann war das eher seine kleine Schwester – die ist nämlich ein Informatik-Freak!“

Ich versuche nun unauffällig, mich aus dieser Diskussion zurückzuziehen, denn ich selbst bin in diesen Dingen keine Expertin.

Unsanft werde ich wieder in das Gespräch zurückgeholt. „Weisst Du, was der Lehrer dann getan hat? Um uns das Internet richtig gut zu erklären?“ „Nein, das weiss ich nicht, Elie. Warum erzählst Du es nicht?“

Dies beeilt Elie sich, zu tun – und ich habe das Gefühl, dass er nun zum springenden Punkt kommt: Der Lehrer habe nämlich an alle Saurierschüler ganz tolle Tablets ausgeteilt, an denen sie arbeiten durften – um das Internet kennenzulernen.

„Elie, das Surfen im Internet ist kein „Arbeiten“. Das ist einfach nur Vergnügen.“

„Das stimmt nicht! Der Lehrer hat uns gesagt, dass heute fast alle Leute im Internet arbeiten und dass es sehr wahrscheinlich sei, dass wir das später auch tun werden!“

Anatol gibt ein verächtliches Knurren von sich. „Arbeite ich vielleicht im Internet? Bisher habe ich immer noch echte Kartoffeln gekocht – keine virtuellen.“

Hierauf weiss Elie nichts zu erwidern. Er entscheidet sich, trotzdem das loszuwerden, worum es ihm von Anfang an ging:

„Ich will auch ein Tablet haben! Lilian hat eins zum Geburtstag bekommen, und Anna darf das von ihren Eltern haben! Angelo hat sogar ein Tablet, das es eigentlich noch gar nicht gibt, so neu ist es. Er nennt es einen Prototypen! Nur ich habe keins!!“

Ich entscheide mich nun für die Radikalmethode. „Elie, ich hab den Computer grad an – nun sieh hier mal die Preise von solchen Tablets. Da: sie kosten mehrere 100 Euro! Wir haben dafür kein Geld übrig. So etwas können wir uns nicht leisten.“

Die zu erwartende Antwort ist lautes Geheul. Aber so gern ich meinen Sauriern ein Tablet gegönnt hätte: es ist einfach zu teuer.

Elie verkriecht sich weinend ins Dino-Nestchen. Er tut mir leid, denn ich weiss, wie hoch der Druck auf die kleinen Saurier ist – von Mitschülern, die besser ausgestattet sind. Aber wir alle mussten das zum einen oder anderen Zeitpunkt erleben, und haben es auch überlebt.

Mit dieser Pseudoweisheit beruhige ich mein Gewissen leidlich und setze mich an meine Arbeit, die mich an diesem Nachmittag allerdings gar nicht inspiriert. Es kommen mir keine Ideen für meine Novelle – ich habe eine Schreibblockade. Nach einer Stunde, in der ich nichts Brauchbares zu Papier bringe, entscheide ich mich, in die Stadt zu gehen und am Kiosk einen Crêpe mit Zucker und Zimt zu essen.

Anatol und Elie sollen natürlich mit – aber ich bemerke, dass sich die beiden Schlawiner ganz allein auf den Weg in den Park gemacht haben. Immerhin hat Anatol einen Zettel an die Tür geklebt: „Sind im Park. Bis später, Anatol“

Ich muss also meinen Crêpe allein essen. Das kommt mir gut zupass, denn ich habe heute keine Nerven für zankende kleine Saurier, die dem anderen den Crêpe neiden, nur weil sie selbst einen anderen ausgesucht haben.

Der kleine Stadtbummel und der Crêpe tun mir gut. Ich meine sogar, eine neue Wendung für die Novelle gefunden zu haben und beeile mich, nach Hause zu fahren, um die Idee sofort aufzuschreiben. Mein Weg führt durch den Park – dort hoffe ich, die beiden Butler anzutreffen, um ihnen zu sagen, erst gegen 19 Uhr nach Hause zu kommen, da ich für die Novelle noch ein ruhiges Stündchen brauche. Dabei will ich ihnen auch etwas Geld für ein Eis dalassen.

Als ich am Musikpavillon ankomme, sehe ich links eine Ansammlung von kleinen Sauriern. Und es handelt sich nicht um eine friedliche Gruppe! Ich höre Geschrei und sehe, wie ein kleines helles Wesen einem kleinen grünen Etwas mit einem flachen Gegenstand auf den Kopf schlägt! Darum herum stehen die beiden anfeuernde Saurierjungen, während ein kleiner Pirat versucht, die beiden Kontrahenten zu trennen.

Ich nähere mich dem Geschehen – und muss mit Entsetzen feststellen, dass die beiden Streithähne Anatol und Elie sind. Elie schlägt zwar auf Anatol ein – dieser scheint sich aber gar nicht zu wehren. Anna – die mutige Piratin – versucht vergeblich, Elie davon abzuhalten, Anatol weiter zu hauen.

Als ich die Bande zur Ordnung rufe, stiebt das Grüppchen auseinander. Elie wirft den Gegenstand weg, den er bisher gegen Anatol eingesetzt hatte und springt mir weinend auf den Arm. „Anatol ist SO GEMEIN!“ heult er und versteckt seinen Kopf in meiner Armbeuge.

Anatol schaut betreten zu Boden. „Das ist alles nur ein Missverständnis! Es sollte doch nur ein harmloser Spaß sein,“ brummt er. „Nein ich glaub das nicht!“ schluchzt Elie.

Was war geschehen? Anna im Piratenanzug erzählt es mir. Elie habe seit der Schulveranstaltung über das Internet unbedingt ein Tablet haben wollen. Und da habe Anatol vorgeschlagen, ihm einfach eines zu basteln – wenn ich Elie schon keines kaufen könne.
Anatol habe dann eine kleine weisse Schiefertafel gebaut, einen schönen glänzenden Rahmen und einen angebissenen Apfel daraufgemalt, ein paar Apps auf die Schiefer gezeichnet und Elie dann gesagt, so ein einzigartiges Tablet habe keiner. Dabei habe er noch nicht einmal die Unwahrheit gesagt.
IMG_2099Problematisch sei die Sache geworden, als Elie das Täfelchen freudestrahlend den Dinokumpels gezeigt habe. Lilian habe es sogar richtig „cool“  gefunden – nur wo sei denn bloß der An-Knopf? Angelo habe verächtlich gefragt, wie Elie denn damit gedenke, Online zu gehen – worauf Elie geantwortet habe, er könne mit dem Täfelchen in der Hand ja überall hingehen, sicher auch nach Online. Angelo habe mit den Augen gerollt und gemeint, er sei dann mal weg zu seinen Informatikkumpels – er wünsche noch viel Spaß mit dem Steinzeitgerät.

Hier habe Elie gedämmert, dass er einem verspäteten Aprilscherz aufgesessen sein musste. Voller Wut sei er mit dem Täfelchen in der Hand zu Anatol gelaufen, der am Stegobaum saß, und habe angefangen, ihn mit der Schiefertafel zu verhauen. Anatol sei so verdattert gewesen, dass er sich gar nicht gewehrt habe. Da das Täfelchen in Wirklichkeit nicht einmal aus Schiefer, sondern aus bemalter Pappe war, brauchte er allerdings auch keine besondere Gegenwehr zu leisten.

Nun hängt der Haussegen schief. So schief wie noch nie.

Ich sage Anatol, er solle nach Hause gehen. „Anatol, ich weiss nicht, was Du Dir dabei gedacht hast. Sieh, was Du angerichtet hast! Bitte geh schon mal vor, ich versuche jetzt, Elie zu beruhigen.“

Nun sehe ich, wie Anatol Tränen übers Gesicht laufen. Er hatte Elie nicht verkohlen wollen. Aber er hatte mit der ihm manchmal eigenen Hybris einfach nicht bedacht, dass man manche Dinge noch schlimmer machen kann als sie sowieso schon sind, wenn man sich einmischt.

„Willst Du mich jetzt rauswerfen?“ weint er.

Wir sind im ganz großen Drama angelangt. Ich muss mir etwas ausdenken, um das Unheil einzudämmen.

Als erstes schicke ich die zahlreichen Schaulustigen weg. „Kinder, es ist spät. Bitte geht nach Hause.“ Zum Glück wird dies befolgt. Nur Anna bleibt, denn sie hat den gleichen Weg wie wir.

Ich bitte Anna, Elie an die Hand zu nehmen. Anatol knüpfe ich mir vor. „Anatol, Du hast Elie vor seinen ganzen Freunden lächerlich gemacht mit dieser Schiefertafel.“ Ich hebe das Täfelchen auf und stecke es ein. „Was können wir jetzt nur tun, um das wieder auszubügeln?“

Anatol weint. Er habe nicht bedacht, dass Angelo gleich merken würde, dass das Tablet nicht echt war. Die anderen Freunde hätten gar nicht gesehen, dass es eine Schiefertafel war. „Eine Papp-Schiefertafel,“ korrigiere ich.

Zuhause angekommen verkriechen sich beide Saurier in je eine andere Ecke. Sprechen will keiner. So geht es nicht, das ist klar.

Ich packe die beiden, setze sie zwangsweise zusammen in ihr Nestchen und halte eine Standpauke.

„Elie, wenn Du nicht so sehr nach einem Tablet geheult hättest, von dem Du ganz genau weisst, dass es zu teuer ist – dann wäre das alles nicht passiert. Du trägst an der Sache auch einen kleinen Anteil – denke bitte darüber nach! Und Anatol, Dir empfehle ich, zukünftige Bastelaktionen nur noch nach Absprache mit mir durchzuführen. Du hättest Elie niemals sagen dürfen, die Papp-Attrappe, die Du gebaut hast, sei ein echtes Tablet. Dafür entschuldigst Du Dich bitte bei Elie.“

Anatol sagt, dass es ihm wirklich leid tut. Elie umarmt ihn nun einfach. Meine beiden Butler haben sich viel zu lieb, um lange aufeinander böse zu sein.

Das Papp-Tablet verschwindet indessen in meiner Schreibtischschublade.

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38. Kapitel – Erinnerungen

Morgen ist der 2. April – der Geburtstag meiner Mutter.

Anatol und Elie sehen sie ein bisschen als ihre Großmutter an – Elie nennt sie „Oma“, obwohl er sie noch nie gesehen hat, außer auf Photos. Anatol findet angesichts seines eigenen Alters, er könne schwerlich jemanden als „Großmutter“ bezeichnen, der Millionen Jahre jünger sei als er selbst. Er sagt daher einfach „Hermine“.

Leider wird meine Mutter nicht mehr erfahren, dass der von ihr so gehasste Vorname – Hermine – heute einer der beliebtesten und begehrtesten Mädchennamen überhaupt ist, Emma Watson sei dank. Denn meine Mutter hat keinerlei Erinnerungen an ihren Namen, und auch sonst an nichts.

Anatol und Elie können das nicht verstehen. „Wieso versucht sie denn nicht einfach, ihr Gedächtnis anzustrengen? Bestimmt würde ihr etwas einfallen!“

Ich versuche dann, den beiden klarzumachen, dass es nichts mit Anstrengung zu tun hat – sondern dass Mama an einer Krankheit leidet, die die Erinnerungen wegnimmt, ohne dass man etwas tun kann – und dass es heute noch keine Heilung dafür gibt. Elie verkriecht sich dann meist und weint heimlich – Anatol sucht lieber stundenlang im Netz, ob er nicht doch etwas findet, das Hermine helfen könnte. Aber nie findet er etwas.

Heute sagt er: „Wenn sich Deine Mama nicht mehr erinnern kann, dann tu DU es doch! Warum schreibst Du nicht etwas auf, von früher? Etwas, das Ihr zusammen gemacht habt? Dann wäre es nicht ganz vergessen. Ich glaube, dass sie sich darüber freuen würde, wenn sie es lesen könnte!“

Ich finde diesen Einfall ausgezeichnet.

Und ohne dass ich darüber nachdenken muss, fällt mir eine Begebenheit ein. Im Grunde mehr als nur eine Begebenheit: eine Reise an die Nordsee, die meine Mama mit meiner kleinen Schwester und mir unternommen hat – in den 70er Jahren, also vor langer Zeit. Es mag 1977 oder ’78 gewesen sein …

Eines Tages kommt unsere Mama vom Gericht nach Hause und verkündet: „Wir fahren an die Nordsee! Und zwar nach Friedrichskoog. Nur wir drei. Trolli und Papa bleiben zu Hause – wir müssen auch mal etwas allein unternehmen. Freut Ihr Euch?“

Wir springen voller Vorfeude in die Luft. Eine Reise an die Nordsee! Das klingt sehr spannend  – und vergnüglich. Das Meer! Für einen Schiffsjungen wie mich ist das ein einzigartiges Abenteuer! Damals nenne ich mich nämlich „Jim Hawkins“ – und stelle mich auch jedem, der mich fragt, wer ich denn sei, so vor.

320px-'70_Renault_16Eine Woche später sind die Koffer gepackt und der grüne R16 beladen und abfahrbereit. Mit geöffnetem Schiebedach geht die Reise los – denn es ist schon Sommer in Göttingen.

Bis zur Nordsee ist es ein weiter Weg. Meine Aufgabe ist, die Karte zu lesen und dafür zu sorgen, dass wir uns nicht verfahren. Bis auf kleinere Ausreißer gelingt dies auch.

Am frühen Nachmittag treffen wir in Friedrichskoog ein – in der Pension von Frau Junge, die unsere Wirtin ist. Eine ganze Woche werden wir bei ihr wohnen!

Unser erster Weg führt ans Meer. Eine herbe Enttäuschung erwartet uns: da ist kein Meer. Nicht ein Tropfen Wasser ist zu sehen, nur eine bräunlich-gräuliche, schlammige Oberfläche, die meine Mutter uns als „das Watt“ vorstellt und die sich vor uns erstreckt, so weit das Auge reicht.

So hatte ich mir die Nordsee nicht vorgestellt – wo ist das Meer!?

Meine Mutter erklärt uns, dass nun Ebbe sei. Bei Ebbe ziehe sich das Wasser weit ins Watt zurück, um ein paar Stunden später – bei Flut – wieder zurückzukommen. Die Flut könne gefährlich werden, wenn man zu weit ins Watt gewandert sei. Man müsse sich vor jeder Wattwanderung sehr genau erkundigen, wann das Wasser zurückkäme – und besser noch: nur mit erfahrenen Wattführern ins Watt gehen.

Diese Geschichte von der Flut macht mir ein wenig Angst. Meiner Schwester ist sie auch nicht geheuer. Deshalb drängen wir darauf, jetzt doch lieber zum Abendessen, das Frau Junge sicher schon vorbereitet habe, zurückzugehen.

Mama lacht: „Frau Junge macht uns nur das Frühstück. Mittags und Abends gehen wir ins Restaurant!“

Uns bleibt der Mund offen stehen. Ins Restaurant gehen wir nämlich nie. Das ist viel zu teuer!

Nun seien aber Ferien, erklärt unsere Mutter, und da dürfe man ins Restaurant gehen.

So guten Fisch wie in Friedrichskoog habe ich noch nie gegessen. Es gibt dort eigentlich nur Fisch zu bestellen – das ist Pech für meine kleine Schwester, die keinen Fisch anrührt. Zum Glück für sie gibt es Kartoffeln! Mama und ich lieben Fisch – damals bin ich noch nicht Vegetarierin.

Heute Abend gibt es keine Schimpfe, damit wir ins Bett gehen – wir klettern ganz von allein in unsere Betten und schlafen sofort ein. Seeluft macht müde!

Am nächsten Morgen sind wir sehr früh wach. Ich kann mich erinnern, dass wir noch vor dem Frühstück (das um diese Uhrzeit nicht fertig ist) in den Hafen gehen und die Kutter bewundern. Als Schiffsjunge möchte ich natürlich auf eines der Boote steigen – aber es ist niemand da, der es erlauben könnte … es ist noch so früh! Die Mama meint, ich darf sicher kurz auf eines der angetäuten Boote klettern, wenn ich dabei nichts kaputtmache und dann gleich wieder herunterklettere. So stehe ich für eine kurze Zeit auf einem echten Boot! Ich bin selig.

Nach diesem großen Abenteuer gibt es Frühstück, und dann brechen wir auf zum Meer, was heute morgen zuverlässig zur Stelle ist! So weit das Auge reicht: Wasser. Leider müssen wir feststellen, dass es zum Baden im Meer noch viel zu kalt ist.

Mama hat daher eine zündende Idee: wir gehen in ein Schwimmbad mit echtem – warmem! – Meerwasser, mit richtigen Wellen! In dem Schwimmbad gibt es ein kleines Becken, in dem wir toll planschen können. Und dann gibt es auch noch ein großes Becken für die Erwachsenen. Darin werden alle Viertelstunde riesige Wellen gemacht – wie im Meer. Mir macht das etwas Angst: man kriegt bei diesen Wellen so leicht Wasser in die Augen, und das brennt vom Salz! Ich halte mich von den Wellen also fern, und passe lieber auf meine kleine Schwester auf, die noch nicht schwimmen kann. Im Planschbecken sind wir sicher.

Von dort aus sehen wir, wie unsere Mama weit hinten im großen Becken zwischen den riesigen Wellen schwimmt, ohne auch nur ein bisschen Angst zu haben. Wir sind sehr beeindruckt.

Wir unternehmen eine Wattwanderung und lernen, was ein Priel ist! Es handelt sich dabei um eine Art Bach innerhalb des Watts. Bei Ebbe ist in diesen Bächen kein Wasser – aber sobald die Flut kommt, füllen sich die Priele mit Wasser und können so sehr gefährlich werden, da sie unvorsichtigen Wanderern den Weg zurück zum Strand abschneiden können. Ein Priel kann sehr tief sein, ohne dass man das unbedingt sieht: man merkt es erst, wenn man hineintritt und bis zum Hals im Wasser steht. Dies passiert einem ungestümen jungen Hund, der mit unserer Gruppe im Watt wandert: plötzlich nimmt er ein ungeplantes Vollbad in einem der Priele. Zum Glück findet er das sehr witzig und springt gleich ein zweites Mal in den Priel.

Wir sammeln Muscheln und bauen ein Floß. Die Strandkörbe schützen uns vor Wind und Sonne. Unsere Sandburgen sind wahre Meisterwerke! Im Wellenschwimmbad werden wir immer wagemutiger und trauen uns auch ein klein wenig in die Wellen! Aber niemals so weit, dass wir keinen Boden mehr unter den Füßen haben. Sicher ist sicher. Und unsere Mama passt immer auf uns auf.

Es regnet. Wir können nicht an den Strand – und das Wellenschwimmbad in Marne hat heute auch noch geschlossen. Wir unternehmen einfach einen kleinen Stadtbummel und trinken einen heissen Ostfriesentee mit viel Zucker. In einem Souvenirladen entdecken wir zwei kleine Spielzeug-Seehunde … wieso dürfen sie nicht mitkommen? Mama meint, sie seien zu teuer. Traurig verlassen wir den Laden.

Mama hat dort aber etwas vergessen: wir sollen vor dem Laden warten, bis sie wieder da ist. Kurze Zeit später kommt sie mit zwei ganz kleinen Päckchen wieder aus dem Laden. Wir dürfen sie aufmachen: es sind die Mini-Seehunde! Sie sollten eine Überraschung sein – aber dann kann Mama doch nicht mehr solange warten und schenkt sie uns gleich. Wir sind glücklich!

Nach einer Woche voller Abenteuer und Erlebnisse fahren wir wieder nach Hause zurück. In der ganzen Woche hat Mama nicht ein einziges Mal geschimpft. Sie ist sonst ziemlich streng – aber in unserer Nordseewoche gibt es keine Schimpfe.

Die Seehunde dürfen mit nach Hause nach Göttingen – und mit ihnen das gehäkelte Eierwärmerhuhn von Frau Junge, das wir Fräulein Rottenmeier getauft haben.

Ich war später noch oft mit meiner Mutter an der Nordsee, und wir hatten dort immer viel Vergnügen. Aber in Friedrichskoog sind wir nie wieder gewesen.

Anatol schlägt vor, das vielleicht nachzuholen und unsere nächsten Ferien an der Nordsee in Friedrichskoog zu verbringen?

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