148. Kapitel – Die Fahrradkette

Ein verregnetes, kaltes Osterwochenende hat Anatols Laune auf den Nullpunkt sinken lassen.

Zeternd und schimpfend ist er in der Küche verschwunden, nachdem ich die alljährliche Ostereiersuche im Park wegen Dauerregens abgesagt und mich dann auch noch ins Büro verabschiedet hatte, um dort endlich mehrere liegengebliebene Akten zu ordnen und wegzuräumen.

Gegen 17 Uhr – pünktlich zum Tee – erscheine ich wieder zu Hause, in der Hoffnung, eine gemütliche Teestunde mit den Sauriern zu verbringen.

Anatol sitzt indessen griesgrämig am Schreibtisch – in die Monatsabrechnung vertieft. Elie hat sich mit seinem Buch – „Kapitän Bontekoes Schiffsjungen“ – in sein Nestchen verkrochen und schmökert. „Ist gerade ganz spannend!“ ruft er. „Ich will keinen Tee – muss weiterlesen!“

Ich setze das Teewasser auf und stelle die Tassen auf den Tisch. „Gibt es denn keinen Kuchen …?“ frage ich Anatol, meine Enttäuschung kaum verbergend.

„Nein, es gibt keinen Kuchen!“ pampt mich der Saurier an. „Ich habe auch noch anderes zu tun, als Kuchen zu backen und den Haushalt zu führen! Deine Monatsabrechnung ist diesmal eine einzige Katastrophe. Für die werde ich noch bis heute abend brauchen! Ist es denn zu fassen – Du hast diesen Monat nicht eine, auch nicht zwei, sondern gleich drei – in Worten: DREI! – neue Jeans gekauft! Wie geht das eigentlich mit Deinem angeblichen Minimalismus zusammen?“

Wutschnaubend vertieft sich das Untier wieder in Kassenzettel, Quittungen und Kontoauszüge – und unterstreicht seine Rage durch penetrantes Rascheln in dem Papierberg.

Ein wenig beschämt sehe ich an mir herunter und betrachte meine wunderschöne neue Jeans. Sie sieht nicht nur großartig aus, sie passt auch vorzüglich. Nichts engt ein, nichts kneift. Eine Offenbarung, nachdem ich meine geliebten alten Jeans nur noch unter Qualen und massiver Kraftaufwendung hatte anziehen und zumachen können – von Wagnissen wie sich damit hinzusetzen ganz zu schweigen.

Ich setze zur Gegenwehr an. „Du bist schuld, Anatol! Wenn Du nicht ständig diese fettigen Bratkartoffeln … “ hier werde ich werde unterbrochen: der Saurier stößt einen Wutschrei aus.

„Ja ist es denn zu fassen?“ poltert er los. „Du hast schon wieder eine neue Fahrradkette aufziehen lassen!? Die letzte war doch erst im Oktober! Das ist einfach nicht möglich – drei Fahrradketten in nicht mal anderthalb Jahren!“

Anatol hat den Kassenzettel des Fahrradladens entdeckt.

Ich hatte mich selbst gewundert, dass die Fahrradkette schon wieder hatte gewechselt werden müssen. Am Samstag war ich mit dem Fahrrad in der Stadt gewesen und hatte es bei dieser Gelegenheit bei der Radwerkstatt vorbeigebracht. Seit einiger Zeit war mir nämlich aufgefallen, dass in manchen Gängen die Kette (oder der Zahnkranz? das war schwer auszumachen…) etwas durchrutschte. Um keinen größeren Schaden zu erleiden hatte ich das Rad lieber dem Spezialisten gezeigt und ihm das Problem beschrieben.

Der Reparateur war kategorisch gewesen: laut Verschleißlehre sei die Kette abgenutzt und müsse ausgetauscht werden. Seufzend hatte ich der Reparatur zugestimmt und war 15 Minuten später mit einem neu beketteten, geölten und perfekt aufgepumpten Rad fröhlich pfeifend direkt zum Jeansladen weitergefahren.

Die dabei produzierten Kassenzettel hatte das Untier nun in meinem Portemonnaie entdeckt – gehört doch die monatliche Abrechnung zu seinen Aufgaben.

„Wenn Du mir jetzt weismachen willst, die Kette sei auch durch meine „fettigen Bratkartoffeln“ abgenutzt worden, werde ich wütend!“ zischt der Butler giftig.

Nun pfeift zum Glück der Wasserkessel – ich eile in die Küche und brühe den Tee auf.

Dann erkläre ich dem Saurier mit Nachdruck, dass sowohl der Jeanskauf als auch die Reparatur der Fahrradkette unabdingbare Investitionen gewesen seien und dass ich darüber nun weiter nicht diskutieren werde. Allerdings schlage ich dem Butler vor, wegen der Fahrradkette im Radforum nachzulesen – dort fände sich vielleicht eine Lösung? In der Tat erfreut mich die Aussicht auf einen halbjährlichen Kettenwechsel nicht. Das Kettenproblem muss gelöst werden.

Anatol lässt die Monatsabrechnung auf dem Schreibtisch liegen und setzt sich zu mir an den Teetisch. Obwohl ich das normalerweise nicht dulde, knipst er das Laptop an und sucht die Webseite des Radforums. Da seine geradezu unterirdische Laune sich nun zumindest etwas hebt, lasse ich ihn diesmal gewähren.

Nachdem eine kurze Suche nach „Kettenwechsel“ und „Kettenabnutzung“ nicht erfolgreich ist, entschließt sich Anatol, ein neues Thema zu erstellen und die Frage des ständigen Kettenverschleißes direkt an die Spezialisten zu richten. Da ich bereits im Radforum Mitglied bin, kann Anatol problemlos unter meinem Pseudonym posten.

Dann genießen wir endlich in Frieden unseren Tee.

Als ich noch einmal zum Teeaufbrühen in die Küche gehe, wirft Anatol einen Blick in das Radforum. Ob wohl schon jemand auf seine Frage geantwortet hat? Aufgeregt rutscht der Saurier auf seinem Stuhl herum. „Da steht was!“ ruft er in die Küche. „Es hat jemand geantwortet!“

Gespannt gieße ich das kochende Wasser in die Teekanne, als ein markerschütternder Wutschrei aus dem Wohnzimmer ertönt. Ich lasse beinahe den Wasserkessel fallen und verschütte das restliche heisse Wasser – glücklicherweise nur über die Küchenanrichte. Fluchend suche ich nach einem Lappen. Es ist glimpflich ausgegangen – ich hätte mich selbst oder einen der Saurier, hätte er auf der Anrichte gestanden, böse verbrühen können. Ich wische die Überschwemmung auf und kehre mitsamt der Teekanne zu einem tobenden Anatol ins Teezimmer zurück.

„Bist Du von allen guten Geistern verlassen, Anatol? Was soll das Gebrüll?“

Anatol antwortet nicht. Voller Wut tippt er auf die Tastatur ein. Da ich nichts Gutes ahne, drücke ich ungerührt den „Aus“-Knopf. Mit einem melodiösen Summen verabschiedet sich der Laptop in den Ruhezustand.

Ein lauter Fluch des Sauriers ist die Antwort. „Jetzt ist mein Beitrag weg! Dabei muss ich darauf reagieren, was der da geschrieben hat! Das glaubst Du nicht!“ Anatol springt aufs Laptop und versucht, das Gerät wieder zum Laufen zu bringen. Ich nehme den Computer an mich und stelle ihn auf den Schrank.

„Schluss jetzt damit. Hat jemand unser Fahrrad wieder als alten Schrott bezeichnet? Das kennst Du doch schon. Darüber braucht man sich nicht aufzuregen.“

„Nein! Das war es nicht. Der hat geschrieben, meine Frage sei wieder mal typisch Frau und unverständlich! Männer könnten kurz und knapp das Problem beschreiben, bei Frauen müsse man das erahnen! Den nehm ich mir vor! Erstens ist das total frauenfeindlich! Und zweitens bin ich keine Frau! Ich kann technische Zusammenhänge erklären!“

Mit einer spitzen Bemerkung mache ich Anatol auf den leichten Widerspruch des eben Gesagten aufmerksam. Anatol wird puterrot und murmelt etwas von „nicht so gemeint!“.

Dann kommt die Wut wieder durch: „Dem erzähl ich was!“

Da Anatol unter meinem Pseudonym geschrieben hatte, mussten die Forenmitglieder fälschlicherweise glauben, hier schreibe eine Frau. Dass dies kein Grund für Macho-Bemerkungen ist, versteht sich von selbst. Leider ist das Miteinander im Internet nicht immer so, wie man es gern hätte.

Ich erkläre Anatol, dass – wie er ja bereits aus dem Woodworkerforum wisse – der Umgangston in manchen Foren sehr rauh sei. Dass das Beste immer noch sei, darauf nicht einzugehen. Schließlich stünde man über derlei Gerede.

Indessen hat es weitere Kommentare gegeben, darunter auch sehr hilfreiche für unser Problem. Ein freundlicher und kompetenter Fahrradkenner schreibt, dass Radlerinnen oft geduldiger und genauer die aufgetretenen Probleme schildern. Hier atmet Anatol auf!

Als Quintessenz ergibt sich, dass wir nun häufiger die Kette werden schmieren und pflegen müssen, und zwar mit Trockenschmierstoff – nicht mit dünnem Nähmaschinenöl.

Da sich die Saurier ihre perfekt manikürten Plüschpfoten nicht mit Kettenfett beschmutzen wollen, wird dies wohl meine Aufgabe sein.

37. Kapitel – Gender Studies II

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Verschlafen sitzen Anatol, Elie und ich am Frühstückstisch. Es ist Sonntag, der 30. März 2014 und heute ist die Uhr auf die Sommerzeit umgestellt worden. Das bedeutet, dass wir eine Stunde weniger geschlafen haben, um uns an das frühere Aufstehen in den nächsten Tagen zu gewöhnen.

Ich mag die Sommerzeit. Nur das Umstellen der Uhr finde ich lästig, da es meinen Schlafrhythmus durcheinanderbringt. Könnte man nicht bei einer einzigen Zeit bleiben?

Das Telephon klingelt. Es ist 8 Uhr 30 – wer ruft denn so früh schon an? Es können eigentlich nur schlechte Nachrichten sein.

Bedrückt hebe ich ab.

Am Telephon ist der Urzeitsaurier Herr Hase: Elianes Vater. Er heisst wirklich „Herr Hase“ – so etwas kann man nicht erfinden: ein Saurier mit Namen „Hase“. Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Herr Hase hat sich leider seit gestern Nachmittag nicht beruhigt. Im Gegenteil: er scheint sich in seine Wut noch weiter hineingesteigert zu haben, denn mit zorniger, heiserer Stimme fragt er, ob mir „ein gewisser Anatol gehöre“. Ich antworte, dass Anatol in erster Linie sich selbst gehöre, und dass ich die beiden Saurier nicht als mein Eigentum ansehe. Dass Anatol aber in der Tat hier bei mir wohne. Zur Zeit frühstücke er gerade – ob denn Herr Hase nicht auch lieber gemütlich mit seiner Familie einen Morgenkaffee und ein Croissant zu sich nehmen wolle, und sich erst dann den ernsteren Dingen des Lebens zuwenden wolle…?

Herr Hase will das ganz sicher nicht. Er ist außer sich vor Zorn über meinen aufsässigen Saurier, der ihm gestern in renitenter, ja geradezu impertinenter Art und Weise Paroli geboten habe, was er als empörenden Affront empfinde und worüber er sich nun mit Nachdruck bei mir beschweren wolle.

Ich gebe Herrn Hase zu verstehen, dass Anatol und Elie mir den gestrigen Vorfall geschildert hätten. Ob Herr Hase nicht das Gefühl habe, hier doch über das Ziel hinausgeschossen zu sein, und eine Geburtstagsfeier von minderjährigen Sauriern etwas überzubewerten?

Er bewerte nichts über, ereifert sich Herr Hase. Er erwarte von meinem Stegosaurus eine Entschuldigung, sonst werde er geeignete Schritte ergreifen. Dann hängt er ein, noch bevor ich antworten kann.

Ich seufze. „Anatol, ich glaube, das ist kein Fan. Herr Hase war am Telephon. Und er will, dass Du Dich für Dein Verhalten von gestern entschuldigst.“

„Den Teufel werde ich tun.“ knurrt Anatol. „Ich stehe zu jedem einzelnen Wort, das ich gestern gesagt habe.“

Elie jubelt. „Anatol ist ein Held!“

Ich bitte um Mäßigung.

„Kinder, ich bin auf Eurer und Annas Seite. Aber wir haben nun einen ausgewachsenen Nachbarschaftsstreit, und das ist kein Spaß. Wir haben hier im Viertel immer friedlich zusammengelebt, und nun wird es Ärger geben. Davon können wir ausgehen. Wir müssen eine Lösung finden, sonst werden wir und Annas Familie hier nicht mehr froh werden, fürchte ich. Vielleicht wäre eine rein formale Entschuldigung – möglicherweise per Brief – doch das Beste?“ Manchmal nenne ich die Saurier und die Katzen „Kinder“ – obwohl sie gar keine Kinder mehr sind, bis auf Elie. Anatol ärgert das, aber heute bemerkt er es nicht einmal.

Entgeistert sieht er mich an. „Du willst doch nicht etwa, dass dieser Urzeitsaurier Recht bekommt?!“

Ich gebe zu bedenken, dass es nicht um das „Recht“ ginge – sondern um ein zukünftiges friedliches Zusammenleben der Nachbarn. Herr Hase werde möglicherweise nach einem freundlichen Brief wieder Ruhe geben?

Anatol gibt ein verächtliches Schnauben von sich. „Die Staatsräson. Ja ja. Dafür tut man ja so einiges. Aber nicht ich. Wenn ich etwas gelernt habe in den letzten Jahrmillionen, dann das: man sollte zu seinen Auffassungen stehen. Auch, wenn es Gegenwind gibt. Und damit ist das Thema für mich beendet. Es wird keine Entschuldigung geben.“

Ich bin beeindruckt. Mein Butler hat wirklich Stehvermögen. Elie jubiliert: „Der Macho-Saurier soll sich in seine Steinzeit verziehen!“

Derlei Äußerungen unterbinde ich, denn man soll über Andersdenkende nicht so sprechen – auch wenn man mit ihren Thesen überhaupt nicht einverstanden ist. Wir haben das nicht nötig, sage ich zu Elie.

Anatol hat den ganzen Vormittag lang recherchiert. Dies hat er gefunden:

  • Im Februar 2014 versammelte die „Manif pour tous“ nach eigenen Angaben allein in Paris mehr als eine halbe Million Demonstranten, um gegen das sogenannte „Mariage pour tous„, die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern zu protestieren. Die Demonstrationen wendeten sich dabei nicht nur gegen die Homo-Ehe, sondern auch gegen die sogenannte „Gender-Theorie“, bzw. gegen das, was die Demonstranten darunter verstanden. Die Protestaktionen griffen gezielt eine Kindererziehung an, die Kindern keine vorgegebenen Geschlechterrollen zuweist. Mädchen hätten sich als Prinzessinnen zu verkleiden, Jungen als Piraten. Nur so sei gewährleistet, dass sie als Erwachsene auch die ihnen vorbestimmten Rollen als Mann und Frau übernähmen.
  • Der Film „Tomboy„, in dem ein kleines Mädchen sich als Junge verkleidet, Fußball spielt und sich in ein anderes kleines Mädchen verliebt, wurde im Februar 2014 auf ARTE ausgestrahlt. Die extremistisch-katholische Organisation „Civitas“ hatte im Vorfeld versucht, Druck auf den Sender auszuüben, um die Absetzung des ihrer Ansicht nach schwer jugendgefährdenden Films zu erreichen – ohne Erfolg. Der Film hat mehrere internationale Preise gewonnen und ist von der FSK ab 6 freigegeben – auch für Feiertage.
  • Im März 2014 musste Sunnie, ein kleines Mädchen aus Timberlake in den USA seine Schule verlassen, da es mit seinen kurzen Haaren zu sehr wie ein Junge aussah, so die Schulleitung. Dies entspräche nicht den christlichen Werten der Schule. Im Blog der amerikanischen Pastorin Emily C. Heath schreibt diese einen offenen Unterstützungsbrief an Sunnie, in dem sie das Verhalten der Schule verurteilt und Sunnie darin bestärkt, ihre Haare weiter so zu tragen, wie es ihr am besten gefalle. Neben vielen positiv gestimmten Kommentaren erhält die Pastorin jedoch aus offenbar religiös-extremistischen Kreisen aggressive Zuschriften.
  • In Saudi-Arabien dürfen Frauen nicht einmal Fahrradfahren. Sie dürfen auch sonst fast nichts. Eine sehr mutige junge Frau aus Saudi-Arabien, Haifa al-Mansur, hat nun einen Film gedreht (obwohl Frauen auch das verboten ist), in dem ein kleines Mädchen in Arabien heimlich Fahrrad fahren lernt.  Der Film heisst „Das Mädchen Wadjda“ und Anatol kann eins nur raten: unbedingt angucken, ebenso wie Tomboy!
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  • Spielsachen werden – marketinggerecht – in immer „sexualisierterer“ Form angeboten. Für Mädchen gibt es pinke, bonbonfarbene Puppen – Jungen sollen mit pseudo-männlichem Spielzeug aufwachsen. Es gibt plötzlich Lego für Mädchen und Lego für Jungen. Warum ist das so? Es geht nicht nur um das Hineinpressen in bestimmte Rollen – es geht um den Kommerz. Das Geldverdienen damit, dass kleine Kinder sich nach vorgegebenen Geschlechterrollen entwickeln sollen. Anatol hat dazu diesen Blogartikel von Talinee gefunden. Wir empfehlen ihn ganz ausdrücklich, ebenso wie diesen Beitrag von The Belle Jar über Men´s rights movements.

Anatol warnt davor, anzunehmen, dass das Prinzip „Gleichberechtigung“ eine unverrückbare, feststehende Errungenschaft sei. Gegenläufige Tendenzen und Ansichten wie die des Urzeitsauriers Herrn Hase existierten zu Hauf. Er rät zu größter Vorsicht.

Von Herrn Hase werden erstaunlicherweise aber keine weiteren Beschwerden kommen.

Im Herbst werden Annas Eltern uns mitteilen, dass Frau Hase sich von Herrn Hase getrennt hat und ohne ihn mit Eliane hier im Viertel lebt.

Der Presse werden wir Jahre später entnehmen, dass Herr Hase einer rechtsextremis-tischen Partei beigetreten ist und für diese kandidiert.

Letzteres wird uns weniger verwundern.

 

 

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36. Kapitel – Gender Studies I

Eben gerade kommen Anatol und Elie von Annas Dinosauriergeburtstag zurück. Ich höre sie das Treppenhaus hinaufspringen – und aufgeregt diskutieren!

Foto 4Anatol ist zwar eigentlich nicht eingeladen gewesen, weil Anna und ihre Freunde deutlich jünger sind als Anatol. Annas Eltern wollten aber gern noch einen weiteren „großer“ Dinosaurier dabei haben, der ihnen helfen würde, die Spiele aufzubauen, den ganz Kleinen die Spielregeln zu erklären und beim Kuchenessen etwas zu assistieren. Für so eine Aufgabe ist Anatol natürlich der perfekte Kandidat.

Auch Schäfchen Mirko ist eingeladen – und so gehen die drei heute um halb vier zusammen los. Annas Zuhause ist nur gegenüber – weit ist es also nicht. Dinogeburtstage beginnen hier immer um halb vier; nicht um drei und nicht um vier – es muss „halb vier“ sein. Warum auch immer!

Nun ist es kurz vor 20 Uhr. Die Geburtstagsfeier ist vorbei. Es muss hoch hergegangen sein, denn Anatol und Elie kommen mit geröteten Gesichtchen zur Haustür herein – weiter in eine hitzige Diskussion vertieft!

„Anatol. Elie!“ sage ich. „Was ist denn los? Ihr geht jetzt bitte in die Badewanne, zieht Euch Eure Schlafanzüge an, und dann ab ins Nestchen. Da dürft Ihr mir alles erzählen, was Euch gerade so bewegt.“

„Nein!“ ruft Elie. „Ich will nicht in die Badewanne! Und ich will mich auch nicht beruhigen! Ich ärgere mich so sehr!“

So habe ich Elie noch nie erlebt. Ich bekomme Angst, dass er sich mit Anatol gestritten haben könnte – aber es sieht eher so aus, als ob sie sich gemeinsam über etwas aufgeregt hätten.

Ich spreche ein Machtwort. „Ganz egal, worüber Ihr Euch geärgert habt, nun geht es in die Wanne. Keine Widerrede!“ Anatol – obwohl ihm die Zornesröte noch im Gesicht steht – pflichtet mir bei. „Elie, ein Bad kann Dir nur gut tun. Es hat sowieso keinen Zweck, dass wir uns so aufregen.“

„Aber … Du kannst doch nicht einfach so aufgeben, Anatol!“ ruft Elie – und bricht in Verzweiflungstränen aus.

Nun muss ich handeln. Energisch packe ich die beiden Butler am Schlafittchen und setzte sie in das bereits eingelassene Badewasser. Elie zappelt wütend und versucht sogar (allerdings erfolglos), mich zu beissen – eine Reflexreaktion, die ich ihm nicht übel nehme – beruhigt sich aber schließlich im warmen Lavendelbad, als Anatol ihn stumm in den Arm nimmt.

Eine Viertelstunde später sitzen die beiden im Nestchen und trinken einen warmen Kakao. Kakao hilft in allen Lebenslagen.

„Was ist denn bei Anna passiert? Ich hoffe, dass es keinen Zwischenfall gegeben hat, der dem armen Mädchen den Geburtstag verdorben hat?“

„Herr Hase ist schuld!“ ruft Elie. „Der hat angefangen, ganz böse Dinge zu sagen!“

Nun berichtet Anatol. Der Dinogeburtstag habe sehr friedlich begonnen. Die kleinen Dinos hätten sich mit Topfschlagen, Blinder Dino und Flaschendrehen vergnügt. Anna habe wunderschöne Geschenke bekommen – Elie habe Mona mitgebracht, die anderen Gäste Spielzeug und Bücher. Das mit Abstand tollste Geschenk sei allerdings ein Piratenkostüm gewesen, das Anna von ihren Eltern geschneidert bekommen habe. Annas Eltern, die der alternativen Szene angehören, haben nämlich eine Schneiderei, in der sie ausgefallene, elegante Dinomode entwerfen, die man sonst nirgendwo finden würde. In den 70er Jahren hätte man sie sicher als Blumenkinder bezeichnet, aber diesen Terminus kennen heute nur noch wenige Menschen.

Anna habe das Kostüm gleich anziehen dürfen – und sich so in einen verwegenen, überaus hübschen, säbelschwingenden kleinen Piraten verwandelt. Ich sehe Elie an seinem Gesichtsausdruck an, dass er sich in diesem Augenblick unsterblich in den Anna-Piraten verliebt haben muss.

Anatol bestätigt meine Vermutung, als er schildert, dass Elie der kleinen Anna nicht mehr von der Seite gewichen sei und die Augen nicht mehr von ihr habe lassen können. Der Pirat hatte ihm ganz klar den Kopf verdreht.

Anatol bemerkt, dass das sehr süß gewesen sei und dass es alle Anwesenden natürlich bemerkt hätten – ohne daran in irgendeiner Weise Anstoß zu nehmen.

Als der Pirat beim Flaschendrehen gewonnen habe, sei es zum Eklat gekommen. Der Gewinner dürfe sich nämlich beim Flaschendrehen den Dino aussuchen, der neben ihm sitzen darf. Anna habe sich Elie ausgesucht – und nicht nur das: als sich Elie mit hochroten Wangen neben sie gesetzt habe, habe sie ihm ganz zärtlich und behutsam einen echten Piratenkuss mitten auf den Mund gegeben. Elie wähnte sich einer Ohnmacht nahe, während die Geburtstagsgäste fröhlich lachten und klatschten, und „Ein Hoch auf unser Piratenpaar“ riefen.

Und in eben diesem Augenblick sei Herr Hase, ein Urzeitsaurier – genauer: ein Nyasasaurus – hereingekommen. Herr Hase ist der Vater von Eliane, einer Freundin von Anna. Und der musste nun ausgerechnet in dem Moment ins Zimmer platzen, als der Pirat Elie küsste.

Herr Hase sei vor Wut rot angelaufen und habe Eliane befohlen, die Feier sofort zu verlassen. Dann habe er Annas Eltern angeherrscht, er hätte niemals erlaubt, dass Eliane einen Nachmittag in einem solchen Sündenpfuhl verbrächte, wenn er es nur vorher gewusst hätte. Das Ganze werde noch Konsequenzen haben, dessen sollten sie sich gewiss sein.

Annas Eltern seien vor Entsetzen stumm gewesen.

Hier habe Anatol sich eingemischt: Worin der gnädige Herr denn bitte einen Sündenpfuhl erblicken würde? Er selbst sehe nur eine Runde von kleinen Sauriern, die bis eben gerade fröhlich miteinander gefeiert hätten und dabei keine nennenswerten Sünden begangen hätten – von einem übermäßigen Kuchenkonsum einmal abgesehen.

Nun habe Herr Hase losgewettert. Dass es eine Ungeheuerlichkeit sei, auf einer Geburtstagsfeier zwei sich küssende Saurierjungen anzutreffen. Dass solche neumodischen Verirrungen zu verbieten seien und er es Eliane nie wieder erlauben werde, mit Anna zu spielen. Und dass er gegen Annas Eltern noch gesondert vorgehen werde!

Anatol habe mit der ihm eigenen Ironie angemerkt, dass es – obschon es Anatols Meinung nach ganz gleichgültig wäre, ob sich  nun Jungen oder Mädchen küssten – dem gnädigen Herrn wohl nicht aufgefallen sei, dass es sich bei dem hier küssenden Paar sehr wohl um ein Mädchen und einen Jungen handele. Ob er seine Äußerungen in diesem Lichte nicht noch einmal überdenken wolle?

Dies habe dem Urzeitsaurier aber den Wind nicht aus den Segeln genommen. Im Gegenteil – er wurde noch wütender, soweit das überhaupt möglich war. Ein Sittenverfall sei es, und ein Greuel, dass man althergebrachte Geschlechtergrenzen willkürlich verschieben würde! Dass man Mädchen erlaubte, sich wie Jungen zu kleiden und zu verhalten – und dass Jungen zu Mädchen gemacht würden. In seiner Welt seien Jungen noch echte Jungen, und ein Mädchen würde sich auch wie ein solches benehmen.

Anatol habe es sich an dieser Stelle nicht verkneifen können, Herrn Hase darauf hinzuweisen, dass das, was er als „seine Welt“ bezeichne, seit 243 Millionen Jahren nicht mehr existiere. Die Trias – das Zeitalter der Nyasasaurier – sei, sollte dies dem gnädigen Herrn nicht aufgefallen sein, mittlerweile vorüber, und die damaligen prähistorischen Moralvorstellungen obsolet. Erdzeitgeschichtlich befinde man sich vielmehr aktuell im Quartär.  Dieser Erdzeitabschnitt habe tiefgreifende gesellschaftliche Entwicklungen mit sich gebracht. Dazu gehöre unter anderem, dass ein Dinosauriermädchen im Piratenkostüm einen schüchternen und sehr verliebten kleinen Diplodocus küssen dürfe – und dass es jedem Saurier selbst überlassen sei, ob er lieber Hosen oder Röcke trage.

Leider hätten diese Äußerungen Herrn Hase gänzlich zur Weissglut gebracht. Er habe Anatol als „Hippie“ und „verkappten Feministen“ beschimpft und Annas Eltern als Anhänger der Gendertheorie abgekanzelt. All das werde Konsequenzen haben! Wutschnaubend habe er – Eliane hinter sich herziehend – die Feier verlassen.

Zurück blieben konsternierte Gäste, eine weinende Anna und das entgeisterte Elternpaar. Ich muss sagen, dass eine solche Szene auch mich aus der Fassung gebracht hätte.

Umso bewundernswerter sei die Reaktion der Eltern von Anna gewesen, berichtet Anatol. Sie hätten die Geburtstagsfeier nämlich nicht einfach um 18 Uhr wie geplant beendet. Stattdessen hätten sie Anatol darum gebeten, noch etwas länger zu bleiben und ein Abendessen für alle Gäste zuzubereiten.

Das Abendessen sei mitten im Wohnzimmer auf dem Boden serviert worden. Alle Gäste hätten nämlich nicht Platz am Esstisch gehabt. Jeder habe sich nehmen dürfen, was er mochte – oder auch vom Tellerchen des Nachbarn mitnaschen.

Annas Eltern hätten nun erkärt, dass Dinosaurierkinder nicht immer so frei erzogen worden seien, wie es heute meist der Fall sei. Dass es Zeiten gegeben habe, in denen kleine Sauriermädchen nur Mädchenkleider tragen und Mädchenspiele spielen durften. Dass sie nicht dasselbe in der Schule lernten wie die Dinojungen und oft nicht einmal in die Schule gehen durften. Dass sie später, wenn sie erwachsen wurden, nicht die selben Rechte hatten wie die männlichen Dinosaurier und nur fürs Kochen da waren. Und dass dies auch heute noch in manchen Ländern der Welt so gehandhabt würde.

Diese Zeiten seien hierzulande vorbei. Das Piratenkostüm sei nicht nur ein Spielanzug – es sei auch ein Symbol für diese Entwicklung, in der Dinomädchen genau dasselbe tun dürften wie Dinojungen. Und genau deshalb sei es auch Leuten wie dem Urzeitsaurier so ein Dorn im Auge – weil es ihnen zeigte, dass die Ungleichbehandlung nicht mehr gewünscht sei und der Vergangenheit angehöre.

Elie habe verunsichert gefragt, ob das denn auch umgekehrt für Dinosaurierjungen gelten würde? Ob er, wenn er das gern tun würde, auch ein Kleidchen tragen dürfte? Annas Eltern hätten gelacht und Elie angeboten, ihm – sollte er das wünschen – gern ein Kleidchen genau nach seinen Vorstellungen zu schneidern. Elie wird also demnächst dort zur Anprobe gehen!

Während Anatol in der Küche Brot gebacken und veganen Aufschnitt und Käse zurechtgemacht habe (zum Nachtisch sollte es Vollkornbrot mit Zuckerrübensirup geben – was bei uns wegen der damit verbundenen Schweinerei verboten ist), hätten die kleinen Gäste noch sehr aufgeregt diskutiert – auch wegen Eliane. Was könne man denn nur für Eliane tun? Hierfür habe sich allerdings an diesem Abend keine Lösung mehr finden lassen.

Ich schlage meinen beiden Butlern nun vor, dieses in der Tat aufwühlende Ereignis zu überschlafen und morgen ausgeruht noch einmal darüber nachzudenken.

Bis dahin wünsche ich Elie wilde Piratenträume und Anatol eine erholsame Nacht.

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