146. Kapitel – Pelle der Luchs zieht um

Ein trister, wolkenverhangener Januarsonntag ist verstrichen. Anatol und ich haben uns am späten Nachmittag entschlossen, eine kleine Sonntagsspazierfahrt zu unternehmen und auf dem Rückweg zum 5 o’clock Tea im Café Brant einzukehren.

Elie ist heute bei Mirko – dort versucht er sich davon abzulenken, dass seine geliebte Anna dieses Wochenende Besuch von Angelo hat. Der Überflieger wird Anna vermutlich von seinem Semester in Harvard und seinen Forschungsarbeiten erzählen – damit kann Elie nicht mithalten. Ob die Berichte aus Harvard Anna allerdings wirklich fesseln werden, da sind Anatol und ich uns nicht sicher. Elie fürchtet hingegen die Konkurrenz des Cracks.

Nach einer kurzen Radtour durch die Dämmerung erreichen wir das Café Brant. Alle Tische sind besetzt – geschäftig laufen die Kellner mit ihren Tabletts durch den Saal, servieren Kaffee, Kuchen und verfrühte Apéritifs.

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Da – ein Tisch wird frei. Anatol springt unbemerkt unter Tischen und Stühlen durch das Café und hüpft auf den Tisch. Dann zieht er sich flugs meinen Schal, den er sich vorher geschnappt hatte, über und verschwindet vollständig darunter – der Tisch ist reserviert! Wie oft habe ich dem Untier verboten, dies zu tun – und ihm erklärt, dass derlei Taten von sehr schlechtem Benehmen zeugen! Genutzt hat es nichts… Ich seufze. Dann setze ich mich an den Tisch, insgeheim froh über das eigenmächtige Handeln des Sauriers.

„So etwas gehört sich nicht!“ zische ich dem Übeltäter zu. „Papperlapapp!“ flüstert dieser. „Willst Du noch ewig auf einen Tisch warten? Ich möchte nicht erst in einer Stunde Tee trinken!“

Während ich versuche, dem Kellner klarzumachen, dass ich zwar auf niemand weiteren warte, aber dennoch zwei Tassen für den Darjeeling haben möchte, wühlt der Saurier in meiner Tasche herum. Triumphierend streckt er mir mein Tablet entgegen. „Das habe ich extra eingepackt! Schließlich ist die Geschichte von Pelle, unserem Luchs, immer noch nicht zuende geschrieben. Das kannst Du jetzt tun. Ich trinke derweil den Tee und beobachte Leute. Vielleicht seh ich mir das Café auch mal näher an …!“

Es stimmt: unser Luchs-Abenteuer war unterbrochen worden und wartet immer noch auf seine Auflösung … Ich knipse das Tablett an und beginne zu tippen.

Der Kellner bringt unseren Tee – wir bekommen sogar die erbetenen zwei Tassen. Nun sehe ich, dass Anatol gar nicht mehr unter meinem Schal versteckt auf dem Sessel sitzt, sondern sich heimlich entfernt hat! Etwa drei Tische weiter sehe ich ihn, wie er zwischen den Beinen der Gäste hindurchschlüpft, dem einen oder anderen frech am Hosenbein zupft und sich dann feixend hinter einer buschigen Grünpflanze versteckt. Ich stöhne. Was, wenn das Untier entdeckt wird?

Das Beste ist immer noch, dem Saurier keine Aufmerksamkeit zu schenken. Er wird – so hoffe ich – seine Frechheiten beenden, sobald ich mich in meine Luchs-Geschichte vertieft habe. Ein anderes Publikum als mich hat das Tier ja nicht – will es doch von niemandem bemerkt werden.

Nun vertiefe ich mich in die Geschichte von Pelle, dem Luchs weiterlesen

145. Kapitel – Omas Bratkartoffelpfanne

Wie Anatol fast einen Küchenbrand legt und eine alte Erinnerung an meine Großeltern zum Leben erweckt …

Nachdem Anatol sich dem mit gehöriger Verspätung eingetroffenen Weihnachtsgeschenk in der Abgeschiedenheit seiner Küche hatte widmen wollen, war ich in die Stadt gefahren.

Manchmal muss man den Saurier allein werkeln lassen – er kann sonst unangenehm werden und regelrechte verbale Hiebe austeilen.

Nach einem Besuch bei einer Freundin, einem gemeinsamen Stadtbummel und dem obligatorischen Crêpe mit Zucker und Zimt fahre ich zurück nach Hause.

Es ist Abend geworden. Die über die Straße gespannten Laternen beginnen, ihr fahles Licht über das Viertel zu werfen. Kein einziger Sonnenstrahl ist heute durch die dichte graue Wolkendecke gefallen – fast erscheint das Aufleuchten der Straßenlampen wie ein verspäteter Sonnenaufgang.

Ich stelle mein Rad im Fahrradschuppen ab, sehe in den glücklicherweise leer gebliebenen Briefkasten und steige gedankenverloren die Treppe hinauf.

Im dritten Stock fällt mir ein starker Rauchgeruch auf – die Nachbarn haben offenbar etwas anbrennen lassen. Während ich noch meinem innerlichen Bedauern über das verkorkste Abendessen der guten Leute nachhänge, erreiche ich unsere Etagentür – und erstarre.

Aus dem Türrahmen dringen dunkle Rauchschwaden ins Treppenhaus. Die Tür ist von Dunst umsäumt – fast unwirklich erscheint das Bild! Träume ich?

Nun dringen Stimmen – und Husten – durch die Tür. Schlagartig erwache ich aus meinen Träumereien – es brennt!

Saurier und Katzen befinden sich in dem Appartment – was ist zu tun? Reflexartig – und brandwehrtechnisch vollkommen regelwidrig ! – öffne ich die Tür. Ich bin augenblicklich von dichtem Qualm umgeben.

„Anatol! Elie!!“ rufe ich verzweifelt.

In diesem Moment setzt ein ohrenbetäubendes Schrillen ein: der Feuermelder ist angesprungen.

Ich stürze in die Küche, wo sich die Rauchquelle zu befinden scheint. Wie durch dichte Nebelschwaden sehe ich nun schemenhaft den Saurier, am Herd stehend und seelenruhig in einer Pfanne mit vollständig verkohltem Inhalt herumstochernd.

Flammen entdecke ich nirgends.

„Elie, mach endlich das Fenster auf!“ brüllt der Saurier, der mich durch den Qualm noch gar nicht gesehen hat – sogar den Rauchmelder übertönend. „Sonst haben wir hier gleich die Feuerwehr!“

Ich stürze ans Küchenfenster und reisse es auf. Dann greife ich nach der Trittleiter, steige hinauf und drücke auf den Knopf, der den gellenden Alarm des Rauchmelder beendet.

Mit einem Satz bin ich am Herd und herrsche den Butler an: „Was geht hier vor? Willst Du das Haus abfackeln?“

Empört sieht Anatol mich an. „Abfackeln? Das Haus? Natürlich nicht! Ich brenne gerade unsere neue Pfanne ein.“

Dann wendet er sich wieder hingebungsvoll den kohlrabenschwarzen Resten in der Pfanne zu und knurrt kopfschüttelnd „Null Ahnung von Bratpfannen – pfffffff…“

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Der Qualm hat mittlerweile den Raum durch das weit geöffnete Fenster verlassen.

Eine Gefahr für die Bewohner des Hauses habe zu keinem Zeitpunkt bestanden, behauptet der Saurier – ich bin hier allerdings anderer Ansicht und bringe dies auch lautstark zum Ausdruck.

Was die Räucherangelegenheit solle, frage ich den Butler nun wütend!

Etwas kleinlaut meint Anatol, es habe eigentlich eine Überraschung sein sollen. Ich schnaube grimmig. Eine schöne Überraschung!

Nun folgen Erklärungen des Sauriers. Er habe vor ein paar Tagen im Internet eine wunderschöne, handgeschmiedete Eisenpfanne gefunden. Nur mit einer solchen sei es möglich, Bratkartoffeln, die diesen Namen auch verdienten, zu braten. In den neumodischen beschichteten Pfannen könne man keine Bratkartoffeln zubereiten. Zumindest keine guten!

Daher habe er die Pfanne gekauft und sich zusenden lassen. Heute sei das ersehnte Stück endlich angekommen! Eine Eisenpfanne der Firma Turk, aus einem einzigen Stück Eisen von Hand geschmiedet – wie bereits vor hunderten von Jahren!

Verliebt sieht der Saurier auf sein Goldstück, die neue Pfanne, in der brikettähnliche Hinterlassenschaften rauchen.

„Ich hoffe mal, dass DAS DA nicht die von Dir erwähnten besten Bratkartoffeln sind!“ bemerke ich ironisch.

DAS DA sind die zum Einbrennen der Pfanne notwendigen Kartoffelschalen. Sie werden mit Salz und Öl so lange geschmort, bis sie ganz schwarz sind. So wird die Pfanne eingebraten. Das wird schon seit Jahrhunderten so gemacht – was Dir offensichtlich vollkommen unbekannt ist!“ klärt mich das Tier auf. „Die Schalen werden, sobald sie abgekühlt sind, weggeworfen. Und dann brate ich Dir in der Eisenpfanne die besten Bratkartoffeln, die Du je gegessen hast. Die von Deiner Großmutter ausgenommen. Die waren genau so gut.“

Ich stutze. Omas Bratkartoffeln … oh ja, die waren großartig …

Mit einem Schlag ist die Erinnerung da: an die uralte schwarze Pfanne, die in Omas Küchenanrichte aufbewahrt wurde, wenn sie nicht gerade im unermüdlichen Einsatz auf dem hochbetagten Gasherd war, um die köstlichsten Gerichte hervorzubringen, die ich je gegessen habe…

Ich ergreife die neue Pfanne, entferne die kohlschwarzen Kartoffelschalen und sehe das Stück schmiedeeiserner Handwerkskunst näher an. War es möglich? Es war tatsächlich die gleiche Pfanne, das gleiche Modell, wie jenes, das von meiner Großmutter Jahrzehnte lang verwendet worden war.

Bewegt setze ich mich auf unsere Trittleiter. „Anatol, das ist wirklich Omas Pfanne … ich freue mich sehr darüber. Aber nie wieder machst Du solche Einbrennaktionen alleine!“

Anatol verspricht dies hoch und heilig.

Dann verkündet er, Elie habe jedes Stadium des Einbratens mit dem Photoapparat festgehalten. Hier die Bilder:

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Die Pfanne ist ausgepackt.

 

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Anatol studiert die Gebrauchsanleitung.

 

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Nachdem er die Pfanne mit Waschmittel (so schreibt es die Anleitung des Herstellers vor) gut gereinigt und abgetrocknet hat, erhitzt Anatol etwas Sonnenblumenöl darin.

 

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Nun gibt Anatol die Kartoffelschalen hinzu, und eine Handvoll Salz.

 

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Die Kartoffelschalen und das Salz werden in dem Öl so lange gebraten, bis sie ganz dunkel sind. Dabei entsteht sehr viel Rauch! Anatol hat einen Pfannendeckel bereitgelegt, falls das Öl Feuer fangen sollte. Brennendes Öl darf man NIEMALS mit Wasser zu löschen versuchen – eine Explosion wäre die Folge. Die Pfanne muss, falls der Inhalt Feuer fangen sollte, sofort mit dem Deckel zugedeckt werden.

 

Sobald die Schalen dunkel genug sind, nimmt Anatol die Pfanne vom Feuer. Sie darf nun abkühlen. Den Inhalt der Pfanne wirft Anatol weg – jetzt sieht die Pfanne so aus:

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Anatol reinigt die zugegebenermaßen reichlich verkohlte Pfanne nur mit heissem Wasser und einer Spülbürste (ohne Spülmittel!) und trocknet sie gut ab:

Die Pfanne ist einsatzbereit.

Anatol setzt sie wieder auf die Kochplatte, stellt diese auf mittlere Hitze, gibt etwas Öl in die Pfanne und schneidet die Kartoffeln in Würfel:

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Als das Öl heiss ist, wirft Anatol die Kartoffelstückchen in die Pfanne, dass es nur so zischt! Eine spritzfreie Angelegenheit ist dies nicht – aber Anatol ist ja für die Säuberung der Küche zuständig. Zum Glück!

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Ich bin nun gespannt. Meine Erfahrung mit unbeschichteten Pfannen ist diese: alles darin Zubereitete backt augenblicklich wie mit Sekundenkleber angeleimt in der Pfanne fest und lässt sich nur mit brachialer Gewalt und unter Zuhilfenahme von Schaber, Spachtel oder gar Meißel herauskratzen. Der dabei zustandegekommene angebratene Brei ist zumeist kein kulinarischer Genuss.

Nicht so bei der von Anatol eingebrannten neuen Pfanne. Die Kartoffelstücke lassen sich mit dem Spatel in der Pfanne verschieben und wenden, als wäre diese weltraumbeschichtet.

Anatol kratzt sich am Kopf. „Ich bin etwas verblüfft. Ich hatte damit gerechnet, dass die Pfanne gut ist… aber dass darin schon beim ersten Braten gar nichts anbackt – das hatte ich nicht gedacht. Ist die Pfanne vielleicht doch beschichtet?“

Die unebene, eiserne Oberfläche der Pfanne spricht eine klare Sprache: hier ist nichts beschichtet. Die Pfanne ist perfekt eingebrannt.

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Die Bratkartoffeln sind fertig. Anatol serviert sie in einem kleinen Schälchen, damit sie nicht so schnell kalt werden.

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Dann knurrt er mich giftig an: „Das sind meine! Ich muss sie erst mal probieren.“ Der verklärte Blick des Sauriers kurze Zeit später spricht Bände!

Ich darf nun meinerseits die deliziösen Bratkartoffeln kosten.

Für einen kurzen Moment bin ich wieder in der alten Gütersloher Wohnung meiner Großeltern. Ich sitze an dem winzigen Küchentisch vor dem Fenster, an dem man nur Platz findet, wenn man noch nicht ganz drei Jahre alt ist und nicht mit den Erwachsenen ißt … an diesem Tisch schält Oma Kartoffeln und lässt mich alles, was sie schon für mich zubereitet hat, schnabulieren. An eben diesem Tisch sitze ich auch gemeinsam mit Oma, als plötzlich das Licht ausgeht. Wir sitzen im Dunkeln – ich habe Angst… aber Oma hat schnell eine Kerze und Streichhölzer zur Hand – Kartoffeln kann man schließlich auch bei Kerzenschein schälen! Mutig wage ich mich an Opas Hand in den Hausflur, zum Sicherungskasten … hier gelingt es Opa heldenhaft, die Sicherungen an Ort und Stelle zu bringen – wir haben wieder Licht. Es ist das letzte Mal, dass ich meinen Opa sehen werde.

Anatols neue Pfanne hat die Erinnerung lebendig werden lassen. Sie wird mich immer begleiten.