128. Kapitel – Kommunion mit Hindernissen

Ein sonniger, warmer Maimorgen bricht an. Nicht irgendein Morgen – nein: heute, am 10. Mai, ist mein Geburtstag. Auch wenn dieser Tag mich daran erinnert, dass ich älter werde, liebe ich meinen Geburtstag. Oft ist es der erste schöne Tag des Jahres. Selbst wenn es regnet: ich habe gern Geburtstag.

Heute ist aber auch aus anderen Gründen ein wichtiges Datum. Jakob, dem dieser Blog gewidmet ist, feiert heute seine Erstkommunion. Dass wir heute nicht bei ihm sind, macht mich traurig. Die Fahrt bis zu Jakob dauert 8 Stunden. Wer soll in meiner Abwesenheit für die Katzen sorgen – Tonio sein Medikament geben, die Kloppereien zwischen Loup und Riri unterbinden und nächtlichen Streit zwischen Noah und Capucine schlichten…? Anatol hatte trotzdem gestern noch böse mit mir geschimpft – es sei eine Schande, dass ich bei der Erstkommunion meines eigenen Neffen nicht zugegen sei. Eine Rabentante sei ich – mehr sei dazu nicht zu sagen.

Kleinlaut hatte ich mich daraufhin in mein Schlafzimmer verkrochen und vergebens nach einer Möglichkeit gesucht, meine Abwesenheit wieder gut zu machen. Dann war ich traurig eingeschlafen.

Als ich aufwache, klappert es bereits in der Küche. Die Saurier sind leise aufgestanden und bereiten ein Geburtstagsfrühstück vor! Ich bin gerührt.

Eben will ich aufstehen und einen Blick in die Küche werfen – schließlich bin ich neugierig darauf, ob die Butler wohl auch Geschenke für mich haben – da klingelt das Telephon. Dies ist am Sonntag – um nicht einmal 8 Uhr – ungewöhnlich.

Bang hebe ich ab. Die Anruferin ist unsere Nachbarin, Annas Mutter. Sie entschuldigt sich vielmals für die Störung am frühen Morgen und schildert ihr Problem, bei dem sie mich um meine Hilfe bittet … heute sei Annas Erstkommunion, und sie erwarte Besuch von Freunden und Verwandten. Richtig – nun fällt es mir wieder ein: Elie hatte gestern, als wir von Jakobs Kommunion gesprochen hatten, erzählt, dass auch Anna heute ihre erste Kommunion feiern würde.

Eine befreundete Familie komme aus Deutschland, und spreche überhaupt kein Französisch. Der als Dolmetscher vorgesehene Student habe eben abgesagt – er liege mit einer Grippe darnieder. Ob ich wohl so freundlich sein wolle, während des Kommunionsgottesdienstes als Übersetzerin zu fungieren? Selbstverständlich sei auch ich zum nachmittäglichen Kaffee und Kuchen mit der ganzen Familie herzlich eingeladen.

Ohne weiter nachzudenken, sage ich zu. Wie will man eine solche Bitte ablehnen? Annas Eltern haben uns mehr als einmal mit Rat und Tat zur Seite gestanden – nun ist es Zeit, sich zumindest ein wenig erkenntlich zu zeigen.

Um halb 10 soll ich mich also vor der Kirche einfinden und dann während des Kommunionsgottesdienst den deutschen Freunden als Simultandolmetscherin zur Verfügung stehen. Hierbei kann ich die Saurier im Grunde gar nicht gebrauchen –  als ich indessen um kurz nach 9 im Sonntagsgewand aus dem Haus schleichen will, krakeelt es laut „Wir kommen mit!“

Ich stöhne. Anna muss Elie per SMS über die bevorstehende Dolmetscheraktion unterrichtet haben; nun sind die beiden Butler nicht mehr zu Hause zu halten. Entnervt stecke ich die beiden Untiere in meine Handtasche, nicht ohne den augenblicklichen Rausschmiß in Aussicht gestellt haben, sollte man während des Gottesdienstes randalieren oder anderweitig stören. Dann begebe ich mich zur Kirche.

Den beiden älteren Herrschaften, die gar kein Französisch sprechen – Heidrun und Friedhelm aus Buxtehude – ist es überflüssigerweise sichtlich peinlich, dass sie meine Dienste in Anspruch nehmen müssen. Zum Glück lenkt uns Anna hier ab: im wunderschönen weissen Kleidchen sieht sie aus wie eine Prinzessin und erklärt den beiden alten Leuten, wo sie sich hinsetzen müssen, um möglichst viel von der Zeremonie sehen zu können. Danach läuft sie zur Gruppe der anderen Erstkommunikanten, winkt uns noch einmal zu – und ist in der Kirche verschwunden.

Kurze Zeit später sitzen wir im Seitenschiff und haben dort tatsächlich einen schönen Blick auf den Altarraum. Langsam füllt sich die Kirche – um 10 Uhr wird der Kommunionsgottesdienst beginnen.

Da – lautes Fluchen ertönt aus meiner Handtasche. Ich zucke zusammen – und versetze der Tasche einen Schlag. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für derlei Respektlosigkeiten! In der Tasche rumort es weiter, ich zische den Sauriern daher eine böse Ermahnung zu. Nun habe augenblicklich Ruhe einzukehren!

„Anatol hat die Kochplatte nicht ausgemacht!“ flüstert Elie. Ich erstarre. Heiser fügt Anatol hinzu „Und ich glaube, auf der Platte steht auch das Plastiktablett noch drauf …“

Panik bemächtigt sich meiner. Während wir hier bei Annas Erstkommunion sitzen, brennt möglicherweise gerade unsere Wohnung ab … blitzschnell fälle ich eine Entscheidung. Ich fische Elie aus der Tasche und drücke ihn Heidrun in die Hand. „Das ist Elie, er ist ebenfalls Übersetzer. Er wird Ihnen alles perfekt auf Deutsch erklären. Ja, er ist ein Stoffdinosaurier, aber als Dolmetscher dennoch recht gut brauchbar. Bei mir brennt es gerade. Ich komme wieder, sobald alles gelöscht ist!“

Hiermit springe ich auf und haste aus der Kirche. Anatol nehme ich mit, um ihn notfalls als Boten einzusetzen, denn per Handy kann ich während des Gottesdienstes nicht mit Heidrun und Friedhelm kommunizieren.

5 Minuten später erreichen wir keuchend unsere Wohnung. Ein beissender Geruch empfängt uns – die Wohnung ist voller Rauch. Die Katzen sitzen verdrossen auf dem Balkon – zum Glück völlig unverletzt.

Der einzige Schaden, der bisher eingetreten ist, ist ein bis zur Unkenntlichkeit verschmortes Tablett. Ich reisse das Stromkabel der Kochplatten aus der Steckdose, entferne die verkokelten Plastikreste notdürftig und öffne alle Fenster zum Durchlüften.

In der Erkenntnis, dass wir hier mehr Glück als Verstand gehabt haben, überprüfe ich alle weiteren Stromkabel und schalte danach im Sicherungskasten die gesamte Stromzufuhr – bis auf die für den Kühlschrank – ab.

Danach setze ich mich – nervlich am Ende – auf den Küchenhocker. Ist wirklich nirgends mehr ein Brandherd? Voller Angst überprüfe ich alles ein weiteres Mal, dann bin ich mir relativ sicher, dass keine Gefahr mehr droht.

Siedendheiss fallen mit Heidrun, Friedhelm und der Gottesdienst ein. Im Schweinsgalopp – anders ist es nicht zu bezeichnen – hetze ich zur Kirche zurück. Das Sonntagskleid ist für derlei Aktionen nicht gemacht. Rußspuren zieren das Oberteil, und ein deutlicher Qualmgeruch ist ebenfalls nicht zu überriechen… Ich habe die vage Hoffnung, dass zumindest mein Rauchgeruch vom Weihrauch in der Kirche überdeckt werden möge. Die Rußflecken versuche ich mit meinem foulard zu kaschieren, was zum Glück teilweise gelingt.

Zurück an der Kirche stellen wir indessen ein größeres Problem fest als es der Rauchgeruch meiner Kleider darstellt: Die Kirchentür ist zu und lässt sich nicht mehr öffnen.

Verzweifelt rüttle ich an der Klinke – die Tür bleibt verschlossen. Ist es möglich, dass man sie von innen abgeschlossen hat, um Störungen vorzubeugen? Ich kann mir dies eigentlich nicht vorstellen. Wahrscheinlicher ist es, dass die schwere Tür klemmt.

Was auch immer der Grund sein mag – wir verzichten darauf, dem weiter nachzugehen und laufen, den Angstschweiss auf der Stirn, um die Kirche herum. Der Eingang zum Seitenschiff lässt sich ebenfalls nicht öffnen; Anatol erklärt mir jedoch, dass dieser sowieso immer verschlossen sei. Da – etwas weiter sehe ich einen dritten Eingang, deutlich kleiner als die beiden großen Kirchentüren.

„Da geht´s zur Sakristei“ erklärt Anatol. Ich drücke die Klinke herunter – und sende ein Stoßgebet zum Himmel: die Tür öffnet sich – Anatol und ich sind in der Sakristei. Hier muss es einen Zugang zum Kirchenschiff geben! Ob wir diesen wohl unbemerkt nutzen können …?

Hinter uns klappt die Tür zu: wir stehen im Dunklen. Wo ist nur der Lichtschalter? Vorsichtig tappe ich zurück zur Tür, finde dort aber keinen Schalter.

Anatol ist aus meiner Handtasche gesprungen und raunt mir zu „Hier muss es irgendwo Kerzen geben!“ Nun stoße ich einen Wutschrei aus: „DU hast für heute genug gezündelt! Auf keinen Fall rührst Du heute nochmal Streichhölzer oder elektrische Geräte an!“

Ich versuche, das Untier zu packen und zurück in meine Tasche zu befördern, wo es hoffentlich kein weiteres Unheil anrichten kann, stolpere aber in der Dunkelheit über einen vor mir liegenden Gegenstand. Der Länge nach falle ich hin, werde allerdings in meinem Fall durch ein offenbar im Weg stehendes Regal zunächst gebremst – dann kracht das ganze Regal mit ohrenbetäubendem Lärm zu Boden.

In diesem Moment setzt donnernd die Orgel ein.

Vorsichtig rapple ich mich hoch. „Anatol!“ flüstere ich. „Anatol, ist alles ok mit Dir?“

„Ich bin unter irgendetwas Schwerem drunter!“ wimmert der Saurier. Ich versuche, in der Dunkelheit einen Weg zu meinem Butler zu finden, und fühle schließlich eine seiner Tatzen. Der Saurier ist unter mehreren Kartons Hostien begraben.

Glücklicherweise ist er ansonsten unverletzt. Ich räume die Kartons zur Seite und befreie den Butler. Dann versuche ich, mich an der Wand hochzuziehen … ich ertaste ein Stromkabel! Dieses verfolge ich – und finde endlich den Lichtschalter.

Nun offenbart sich das Ausmaß der von uns angerichteten Katastrophe. In der Dunkelheit war ich über eine winzige Trittleiter gestolpert und hatte dann das Regal mit den liturgischen Geräten, Büchern, Gewändern sowie den Hostien und Kelchen umgerissen. Vom Orgeleinsatz übertönt war der Lärm des umfallenden Regals in der Kirche glücklicherweise unbemerkt geblieben.

Es gelingt mir, das Regal wieder aufzustellen. Dann räume ich so ordentlich wie nur möglich alle Gegenstände wieder ein. Am liebsten wäre ich vor Scham in den Boden versunken. Es hilft indessen nichts: wir müssen den angerichteten Schaden ausbügeln. Bald ist alles wieder am Platz – eine Flasche Messwein ist jedoch am Boden zerschellt. Notdürftig wische ich den Fleck auf und sammle die Scherben ein – und stelle fest, dass Anatol und ich voller Rotweinspritzer sind.

Ich möchte nun nur noch von der Erdoberfläche verschwinden. Nachdem wir aufgewischt und das Chaos beseitigt haben, ist mein erster Impuls, nach Hause zu laufen und mich dort unter der Bettdecke zu verstecken.

Nun öffnet sich allerdings die zur Kirche führende Tür und Herr Langenbruch, der Diakon, betrifft den Raum. Anatol und ich erstarren.

„Frau C.! Was machen Sie denn hier? Ich hatte mir gedacht, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht, als ich die seltsamen Geräusche aus der Sakristei hörte. Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde, würde ich sagen, der Leibhaftige ist geradewegs aus der Hölle aufgestiegen und steht nun vor mir!“ Seufzend zeigt er auf Anatol: „Und Ihren Basilisken haben Sie auch noch dabei. Tsssss …“ Kopfschüttelnd setzt sich der Diakon auf die kleine Trittleiter.

Ich sehe an Anatol und mir herunter. Ruß, Rotweinflecken, dazu ein nicht zu verbergender Qualmduft – wir sehen furchtbar aus. Tränen schießen mir in die Augen. Schluchzend erkläre ich Herrn Langenbruch die Sachlage.

Dieser hat glücklicherweise die Lösung für die Misere. „Sie laufen jetzt nach Hause und ziehen sich etwas Neues an. Den Basilisken verstecken Sie bitte in Ihrer Tasche. Ja, ich weiss, das er gutartig ist. Ich räume nun die Sakristei auf – außer einer Flasche ungeweihten Messweins ist ja nichts kaputtgegangen. In einer Viertelstunde erwarte ich Sie am Haupteingang und öffne die Tür. Sie klemmt wirklich schrecklich. Aber Sie wissen ja – unsere Mittel …“

Heimlich nehme ich mir vor, nachher eine großzügige Spende im Klingelbeutel zu lassen. Ich drücke dem guten Diakon die Hand und renne nach Hause – zum wiederholten Mal.

Kurze Zeit später stehe ich – nun präsentabel – am Eingang der Kirche. Herr Langenbruch zwinkert mir zu. „Das Wichtigste bekommen Sie sogar noch mit! Die Kleinen gehen gerade zu ihrer ersten Kommunion.“

In der Tat sehe ich Anna mit ihren Freunden durch den Mittelgang zum Altar gehen. Leise schleiche ich mich ins Seitenschiff zu Heidrun und Friedhelm, die andächtig Elies Übersetzungskünsten lauschen.

Hier wohnen wir gerührt der Kommunion von Anna und ihren Freunden bei. Ohne die Hilfe des lieben Diakons wäre dies wohl nicht möglich gewesen.

Am Ausgang stecke ich verstohlen einen großen Schein in den Klingelbeutel, an dem ich eine kleine Notiz angebracht habe: „Für eine nicht mehr klemmende Kirchentür!“

Der Rest des Tages verläuft wunderbar ereignislos – bei einem himmlischen Nachmittagskaffee im Garten. Übersetzen muss ich nichts mehr: Heidrun und Friedhelm bestehen darauf, dass Elie weiter dolmetscht. „Er übersetzt das alles so charmant – wir sind begeistert!“ Wenn das so weitergeht, werden die Saurier mich bald ganz überflüssig machen.

Anatol, Elie und ich wünschen Jakob alles Liebe zur Erstkommunion!

127. Kapitel – Back to blue Victoria

Das ersehnte lange Wochenende ist endlich da. Heute kann ich schon um 13 Uhr von der Arbeit nach Hause gehen – und am Nachmittag habe ich frei.

Die Sonne scheint, es ist warm – meine Laune könnte besser gar nicht sein. Heimlich nehme ich mir vor, nach Erledigung aller meiner heute noch anstehenden Termine bei Amorino ein Eis zu essen.

Mit dieser schönen Aussicht im Sinn komme ich zu Hause an. Elie ist nicht da – er macht heute seine Hausaufgaben bei Anna und bleibt dann den ganzen Nachmittag dort. Seit Angelo in Amerika sein „Auslandssemester“ absolviert, ist Elie wieder viel häufiger bei Anna. Anatol und ich beobachten die komplizierte Freundschaft, mischen uns aber nicht ein.

Anatol stellt fest, dass ich auf keinen Fall heute allein in die Stadt gehen kann. Er habe auch Dinge zu erledigen, werde mich also im Rucksack begleiten.

Ich seufze. Mein erster Termin heute Nachmittag ist beim Hautarzt; hier wünsche ich keine neunmalklugen Einmischungen des Sauriers, der dem Arzt erklärt, welche Behandlung er an mir durchführen soll und welche nicht. Ich ermahne den Butler daher auf das Schärfste, sich während meines Arzttermins entweder ruhig zu verhalten oder am besten gleich draußen zu bleiben.

Anatol brummelt etwas, das sowohl Zustimmung als auch Widerspruch bedeuten kann. Ich nehme mir also vor – um jedes Risiko auszuschließen – den Saurier vor der Arztpraxis aus meiner Handtasche zu werfen und ihn nach dem Termin wieder einzusammeln. Einen Eklat beim Arzt mag ich mir nicht vorstellen.

Um 15 Uhr 30 fahren wir mit dem Fahrrad los – Anatol halb im Rucksack, halb auf meiner Schulter sitzend, immer die Nase im Wind.

Mein Termin ist erst um 16 Uhr 30. Wir müssen zwar die ganze Stadt durchqueren, da wir aber noch viel Zeit haben, fahre ich ganz gemütlich an den Quais entlang, bevor wir an einen großen Platz kommen. Unzählige Radfahrer aus allen Richtungen treffen hier aufeinander – zum Glück gibt es gleich mehrere Radwege.

Als wir an einer gut besuchten Café-Terrasse vorbeiradeln, fällt mein Blick auf ein am Straßenrad stehendes, blaues Fahrrad. Traurig denke ich „So sah unser schönes altes Victoria-Fahrrad aus. Es hatte genau diese strahlend blaue Azurfarbe…“.

Melancholisch sehe ich das Rad im Vorbeifahren genauer an – und mich durchfährt ein Schock. Das IST unser altes Victoria-Fahrrad! Zumindest sieht es genau so aus!

Ich bremse – und im selben Moment beginnt der Saurier hinten im Rucksack an, Kobolz zu schießen. Mit seinen scharfen Stegosaurier-Augen hat der das Fahrrad ebenfalls erblickt, und zischt mir zu „Halt an!! Stopp! Da ist unser Rad!“

Augenblicklich kommen wir zum Stehen. Ich sehe das Fahrrad nun aus der Nähe und mir ist sofort klar, dass hier kein Irrtum vorliegt. Es handelt sich um unser altes Victoria-Fahrrad aus den 70er Jahren, das im letzten Sommer gestohlen worden war.

Traurig, verschmutzt und offensichtlich auch beschädigt steht es da – mit einem abscheulichen Bügelschloß an einen Pfosten fest angekettet.

Ohne nachzudenken nehme ich schnurstracks unser Granit-Faltschloss und sichere unser altes Rad damit.

Dann wähle ich mit zitternden Händen die Notrufnummer auf meinem Handy, während ich mich unauffällig vom „Tatort“ entferne.

Ein freundlicher Polizist antwortet mir. „Bitte nennen Sie die Art des polizeilichen Notfalls,“ fordert er mich auf. Aufgeregt ringe ich nach Luft – und um Worte. Dann sprudelt es aus mir heraus: das im letzten Sommer gestohlene Fahrrad, meine polizeiliche Anzeige, deren Abschrift ich sogar dabei habe – das wiedergefundene Rad – und schließlich mein Hilferuf: ich brauche dringend polizeiliche Unterstützung!

Der Freund und Helfer am anderen Ende der Leitung sichert mir sofortigen Beistand zu. Ich muss ihm eine Beschreibung meiner Person geben – Jeans, blauer Kapuzenpulli, rosa Rucksack mit grünem, nervösem Saurier (letzteres sage ich natürlich nicht) – damit die Kollegen mich finden. Seine weitere Anweisung: ich solle mich unauffällig verhalten und von einem etwas entfernteren Standpunkt, nämlich der Straßenseite gegenüber, den Tatort weiter beobachten.

Dies befolgen Anatol und ich. Vor Aufregung bebend setzen wir uns auf ein Holzbänkchen und versuchen, uns zu beruhigen. Das gelingt indessen nicht.

„Anatol, das Rad war doch graviert! Wir hatten extra diesen Code bei Bicycode einstanzen lassen, der auch in unserem Fahrradpass steht! Nun habe ich eben beim Anschließen den Code aber nicht mehr gesehen!“

Panik bemächtigt sich meiner. Habe ich mich geirrt? Ist es doch nicht unser Rad?

Anatol stammelt, er habe die Gravur auch nicht gesehen! Aber es sei 100% unser Rad. Die kleinen blauen Lack-Flecken, mit denen wir die Roststellen zu verdecken versucht hatten, die alte Sachs-Gangschaltung, der immer an der gleichen Stelle ausgefranste Bremszug – hier sei keine Verwechslung möglich. Ob man die Gravur hatte entfernen können?

Anatol schluchzt laut auf – wie sollen wir ohne die Gravur zweifelsfrei beweisen, dass es wirklich unser Fahrrad ist?

Vier junge und sehr kräftige Männer – man könnte sie auch als „Gorillas“ bezeichnen – kommen plötzlich direkt auf uns zu. Das Herz rutscht mir tief in die Hosen. Ist das die Fahrrad-Diebesbande? Haben sie mich beobachtet und kommen nun, um mich zu zwingen, das Rad wieder aufzuschließen?

Einer der jungen Männer streckt den Arm aus und gibt mir die Hand. Er stellt sich als Kriminalkommissar vor. Seine drei Kollegen nicken mir freundlich zu. Wir brauchen keine Angst zu haben – sie sind von der Kriminalpolizei.

Schnell schildere ich die Lage, weise meine polizeiliche Anzeige des Diebstahls vor und zeige den Polizisten das Corpus delicti aus sicherer Entfernung.

Die Kripobeamten erklären mir in knappen Worten das weitere Vorgehen. Sie würden nun versuchen, den Fahrraddieb – oder Käufer des Diebesgutes – zu überführen. Dazu würden sie den ganzen Nachmittag bei dem fest angeschlossenen Fahrrad bleiben – in der Hoffnung, dass der Dieb kommen und es aufzuschließen versuchen werde. Der Fahrraddiebstahl habe mittlerweile Ausmaße organisiserter Kriminalität angenommen und man setze daher alles daran, die Vergehen aufzuklären – um den Diebes- und Hehlerbanden das Handwerk zu legen.

Bang frage ich, ob mein Fahrrad hierbei keiner weiteren Gefahr ausgesetzt sei. Die Polizisten verneinen dies. Ich solle beruhigt zu meinem Termin fahren und danach wieder hier zum Treffpunkt kommen. Dann werde man sich auch über die Rückgabe des Rads an mich verständigen.

Da im Rucksack stark randaliert wird, versetze ich selbigem einen leichten Schlag. Irritiert sehen die Polizisten mich an. „Führen Sie ein Tier mit?“ fragt der Kommissar. Ich verneine dies unsicher und entferne mich schnellstens – nicht ohne versprochen zu haben, so bald wie möglich wiederzukommen. Dann werfe ich einen letzten Blick auf das blaue Fahrrad …

Bevor ich losradle, höre ich den Kommissar sagen „Leute, das ist die beste Überwachung, die ich seit Jahren hatte. Kommt, wir setzen uns da auf die Caféterrasse und warten. Ich nehme eine Cola.“

50 Meter weiter öffne ich den Rucksack und schnauze das grüne Untier an. „Bist Du verrückt, so einen Lärm zu machen! Wenn wir unser Rad wiederhaben wollen, hast Du Dich ab jetzt ruhig zu verhalten!“

Kleinlaut verspricht Anatol, dass man von ihm nun nichts mehr hören werde. Er wolle ja nur sein Rad! Das geht mir genauso…

Beim Arzt warten wir bis fast 18 Uhr auf meinen Termin. Wie auf heissen Kohlen sitze ich im Wartezimmer.

Um 18 Uhr 30 treffen Anatol und ich wieder am Tatort ein. Das Fahrrad steht weiterhin am Platz, die Kripobeamten sind bei ihrer 5. Limonade. Im Dienst wird selbstverständlich kein Alkohol getrunken.

Leider hat sich niemand dem Fahrrad genähert. Die Überwachung soll daher noch etwa anderthalb Stunden laufen. Danach würde man sich bei mir melden. Ich solle nun nach Hause fahren und auf weitere Weisung warten.

Enttäuscht entferne ich mich. Was soll ich tun? Entgegen dem Rat des Polizisten fahre ich nicht nach Hause, sondern begebe mich zu Amorino, wo ich für Anatol und mich ein veganes Eis kaufe.

Dann beratschlagen wir.

Ich bin dafür, so lange in unmittelbarer Nähe des Rades zu bleiben, bis die Polizei das Schloß des Diebes aufsägt und wir das Rad entweder mitnehmen können oder aber es in polizeilichen Gewahrsam genommen wird. Anatol teilt diese Meinung. Wir fahren nicht nach Hause, bevor das Rad nicht in Sicherheit ist!

Um kurz vor 20 Uhr finden wir uns erneut am Tatort ein. Der Kommissar ist nicht mehr zugegen, auch die anderen Polizisten sind weg. Das Rad steht indessen am Platz: weiterhin durch mein Schloß gesichert.

Wieder setzen wir uns auf das Holzbänkchen und warten. Wir werden unser Fahrrad nicht mehr aus den Augen lassen, bis es in Sicherheit ist – wie lange auch immer das dauern wird.

Etwa eine Viertelstunde später schrillt mein Handy. Der Kommissar ist am anderen Ende der Leitung. Er habe die Angelegenheit mit seiner polizeilichen Hierarchie geklärt und könne mir nun verbindliche Anweisung zum weiteren Vorgehen erteilen. Die Gravur des Rades sei zwar durch Einwirkung des Diebes auf den ersten Blick entfernt worden – bei genauer Betrachtung habe man die Ziffern jedoch ablesen und mit meinem Fahrradpass abgleichen können. So sei ohne jeden Zweifel bewiesen, dass es sich hier um mein altes, gestohlenes Fahrrad handele. Das Aufbrechen des Schlosses des Diebes sei indessen nicht Aufgabe der Polizei – dies müsse ich selber vornehmen, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Schlossers. Sobald ich das Rad an mich genommen habe, solle ich mich kurzfristig – mitsamt dem Rad – auf der Wache vorstellen, wo man mir die weiteren Schritte erklären werde. Hierauf verabschiedet sich der Kommissar und lässt mich mit dem Problem allein, mein Fahrrad „loszueisen“.

Was ist zu tun? Wie knacke ich – um 20 Uhr 15 mitten in Stadt – ein Fahrradschloß – ohne jegliche schriftliche Berechtigung dazu …? Unschlüssig kratze ich mich am Kopf.

Anatol zetert aus vollem Halse los: „Nun ruf schon Deinen Schlosser an! Der soll kommen und das Schloss aufsägen! So hat es doch der Kommissar gesagt!“

Ich wähle die Nummer des Schlossers. Keine Antwort. Ich hinterlasse eine Nachricht. Dann suche ich – meinem Smartphone sei dank – im Internet nach Schlossern, die 24h/24 intervenieren…

Nach dem ersten Anruf bei einem Schlüssel-Notdienst wird mir klar, warum die Polizei dies nicht durchführen will: der Einsatz soll 169 Euro kosten. Ich lehne dankend ab.

Nach mehreren Anrufen ohne Erfolg treffe ich auf den Schlüsseldienst der Grand Rue. Dieser sagt zu, für 65 Euro mein Fahrrad freizusägen – und zwar in einer Viertelstunde. Dieses Angebot nehme ich ohne zu zögern an.

Eine halbe Stunde später liegt das Schloss des Übeltäters aufgesägt auf der Straße und ich halte mein gutes altes blaues Victoria-Fahrrad in Händen. IMG_3656

Nun fällt mir auf, dass sich das Hinterrad nicht dreht. Dies macht den Transport nach Hause (auf dem neuen Fahrrad fahrend, das alte nebendran mit der anderen Hand lenkend) überaus schwierig, da ich das alte Rad quasi neben mir herschleifen muss.

Nach 500 Metern ist der Hinterreifen durch das Gezerre über den Asphalt durchgewetzt und platt. Mein rechter Arm, der das Fahrrad neben uns herschiebt, fällt fast schon ab … und wir haben noch etwa 3 Kilometer vor uns.

Trotz aller Widrigkeiten schaffen wir es bis nach Hause.

Dort klingele ich die Nachbarn heraus, die damals – unwillentlich – das Abhandenkommen des Rades verursacht hatten. Sie wollen uns sogar die Kosten für den Schlosser ersetzen!

Ich bin sehr gerührt.

Kurze Zeit später fallen wir vollkommen erschöpft ins Bett und wachen erst um 8 Uhr des nächsten Morgens wieder auf.

Anatols erste Handlung besteht darin, das schöne alte Rad von dem hässlichen Sattel zu befreien, den der Dieb ihm aufgesetzt hatte. Danach wird das Rad mit Motorradshampoo eingehend gewaschen. Leider fallen uns hier diverse Beschädigungen auf – wir hoffen, dass unser trefflicher Fahrrad-Reparateur dies alles wird beheben können.

126. Kapitel – Pancakes vegan

Ein verregneter 1. Mai verrinnt. Nachdem mehrere Versuche, an meiner Novelle weiterzukommen, kläglich gescheitert sind, lege ich mich mißmutig zu einem Mittagsschlaf hin. Am späteren Nachmittag wühle ich ich mich endlich aus dem Bett – und stelle fest, dass Anatol alles andere als müßig gewesen ist. Mehrere Wäschen hängen bereits zum Trocknen auf der Leine, die Küche ist geputzt, und der Butler schickt sich soeben an, das Teewasser aufzusetzen. Elie schmökert, ins Nestchen eingekuschelt, in seinem neuen Buch.

Meine schlechte Laune verwandelt sich augenblicklich in Wohlgefallen. Bald gibt es Tee – eine herrliche Aussicht.

Ein Rumoren ertönt aus der Küche. Anatol scheint den Vorratsschrank umzugraben – so hört es sich jedenfalls an. „Patsch“ – da fliegt eine Packung Mehl aus dem unteren Fach auf den Küchenboden. Backutensilien folgen. Der Butler scheint etwas vorzuhaben.

„Wir haben Unmengen von Mehl,“ stellt der Saurier fest. „Vom Lagern wird es nicht besser. Ich backe jetzt Pancakes.“

„Aber davon wird sie doch fett!“ ruft Elie aus dem Nestchen heraus. Bevor ich das Früchtchen packen kann, ist es allerdings schon aus dem Nest herausgeklettert und flink in den Küchenschrank zu Anatol gehüpft. Von dort aus sieht es mich feixend an.

Drohend gehe ich auf den Küchenschrank zu, da meint Anatol beschwichtigend „Nein, ich mache ganz kalorienarme Pancakes. Also – so kalorienarm, wie das bei Pancakes möglich ist.“

Elie krabbelt aus dem Schrank heraus und sieht mich treuherzig an. „Du hattest doch letztens gesagt, Du wolltest nicht mehr soviel Süßes essen … damit Du nicht dick wirst! Oder?“

Das stimmt sogar. Angeregt von meinen minimalistischen Blogger-Kameraden Apfelmädchen und Sadfsh hatte ich mich entschlossen, nur noch ganz wenig oder sogar gar keinen Zucker mehr zu konsumieren. Bisher ist es mir auch gelungen, den Zuckerverbrauch einzuschränken – ein gänzlicher Verzicht war indessen nicht möglich.

Anatol stellt nun klipp und klar fest, dass er keine Pancakes ohne Zucker brät. Für derlei neumodische Geschmacksverirrungen sei ihm seine Zeit zu schade. Heimlich freue ich mich darüber, denn zuckerfreie Pancakes mag ich mir nicht vorstellen.

IMG_3641„Ich will heute ein neues Rezept ausprobieren,“ kündigt der Butler an. „Und zwar habe ich ein original amerikanisches ‚5 minutes vegan pancakes‚ Rezept gefunden. Das mache ich jetzt.“

Was kommt in den Pancake-Teig? Hier tut sich ein ungewohntes Problem auf: die Maßangaben sind unklar: wir brauchen unter anderem „1 cup Mehl“ und „1 cup Sojamilch“.

Was ist ein „cup“? Glücklicherweise finden wir auf „USA kulinarisch“ schnell Hilfe. Ein „cup“ entspricht ca. 235 ml bei Flüssigkeiten, und ungefähr 120g bei trockenen Zutaten wie Mehl.

Wir nehmen also:

60 g Mehl (Anatol hat heute den Rest glutenfreies Mehl verwendet, aber das muss man nicht, wenn man Gluten verträgt)
1/2 Esslöffel Zucker
1 gestrichenen Esslöffel Backpulver
1 Prise Salz
100 ml Sojamilch (+/-)
1 Esslöffel Sonnenblumenöl

IMG_3643Anatol mischt zuerst die trockenen Zutaten und fügt dann langsam die Sojamilch hinzu, damit es nicht klumpt.

Danach wird die kleine Pancake-Pfanne, die unsere Vermieter uns vor Jahren aus dem Urlaub mitgebracht haben, auf die Kochplatte gestellt und aufgeheizt.

Anatol zetert bereits im Voraus – seine Pancakes brennen nämlich immer an und kleben an der Pfanne an. Elie und mir ist das allerdings gleich – schmecken tun sie ja trotzdem! Anatol möchte aber verständlicherweise eine auch optisch gelungene Leistung erbringen: der Stolz des Kochs … dies wird indessen einmal mehr nicht gelingen. Die Pancakes verschmelzen gleichsam mit der Pfanne und müssen – ein heikler Vorgang – unter Aufbietung aller Kräfte Anatols aus dem Küchenutensil herausgekratzt werden.

Die beabsichtigte Form behalten sie dabei naturgemäß nicht vollständig – das heutige Ergebnis kann sich dennoch sehen lassen. IMG_3644IMG_3645 Mit etwas Honig (nicht vegan, aber hier machen wir manchmal eine Ausnahme) schmecken die Pancakes köstlich. Ganz original amerikanisch – und vegan! – wäre Ahornsirup gewesen, aber leider hat Anatol so etwas nicht im Haus. Aber das kann man ändern.

Wir wünschen Euch allen einen wunderschönen 1. Mai!IMG_3646