171. Kapitel – Wenn Mogelpäckchen nicht ankommen…

Es ist zwar schon etwas spät dafür, aber wir möchten Euch den weiteren – durchaus extravaganten – Fortgang unserer Weihnachtspäckchengeschichte nicht vorenthalten!

Nachdem Anatol und ich – schäumend vor Wut ob der doppelten Bezahlung des Portos für das Paket – die Deutsche Post verlassen hatten, waren unsere Päckchen ihrerseits auf Reisen gegangen. Längere Zeit hörten wir nichts von ihnen – bis mehrere Dankeskärtchen von unseren Feinschmeckerfreunden hier eintrudelten: die Bredele waren gut angekommen, in jeder Hinsicht! Und so war unsere Wut über die Porto-Affäre verraucht, der Ärger hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst.

Doch … haben auch alle Empfänger ihr Geschenk erhalten? Von meiner Dresdner Familie ist keine Antwort gekommen. Im Weihnachtstrubel kein Wunder… als Elie aber zum 1. Januar Neujahrswünsche überbringt, fragt er treuherzig nach, wie denn die Strasbourger Bredele geschmeckt hätten – und erntet verständnisloses Kopfschütteln. Welche Bredele? Ein Mennele? Nein – die seien nicht angekommen.

Weinend legt der kleine Saurier auf. „Unser Geschenk ist verschwunden! Sie haben es nicht bekommen… Jetzt glauben Jakob und Elisabeth, wir hätten zu Weihnachten nicht einmal an sie gedacht!“

Ich zucke zusammen. Das sogar doppelt bezahlte, voller feinster Leckereien steckende Päckchen! Das Mennele, und die Ingwerlebkuchen! Es schmerzt, sich vorstellen zu müssen, dass all die Näschereien im Nirvana der Deutschen Post untergegangen sein sollen!

Anatol schreit vor Wut auf. „Die haben meine Bredele geklaut! Wo ist der Kassenzettel der Post? Da muss doch eine Nummer draufstehen, womit die das suchen gehen können. Wo hast Du diesen dämlichen Zettel hingelegt?!“

Mir wird heiss. Der Kassenzettel von Anfang Dezember letzten Jahres … der ist im Altpapier. Minimalismus- und KonMari-Ordnung fordern, solche Überbleibsel käuflicher Aktivitäten unverzüglich dem Wertstoffrecycling, sprich: dem gelben Sack, zuzuführen – was auch geschehen ist.

Immerhin steht der gelbe Sack der letzten Wochen noch unten im Hausflur zur Abholung durch die Müllabfuhr. Ist der Zettel dort vielleicht doch noch zu finden? Anatol taucht kopfüber in den Papierpfuhl ein, rudert verzweifelt darin herum, wirft Schnipsel heraus … nach einer Viertelstunde fieberhafter Suche ist klar: der Zettel ist nicht mehr da.

Einen Verzweiflungsschrei ausstoßend verlässt Anatol den gelben Sack. „So ein verfluchter Mist!“ heult er. „Dabei haben wir uns so eine Mühe gemacht…“

Ich nehme mir vor, der Deutschen Post in Kehl demnächst einen Besuch abzustatten und mich eindringlich zu beschweren. Allerdings verliert sich auch dieses Vorhaben in Arbeitsstress, den Haushaltspflichten der Butler und unserer Sorge um den kranken Kater Tonio. Die Post hört also nicht weiter von uns.

Indessen steht im Frühjahr der Geburtstag meiner Schwester in Dresden an. Diesmal gehe ich ohne die Butler in die Biscuiterie, erstehe ein frühlinghaftes Kästchen voller Leckereien und schicke es – mitsamt Versicherung und Sendungsverfolgung – zu einem astronomischen Preis über die französische Post nach Dresden.

Den Sauriern bringe ich das Zettelchen mit der Sendungsverfolgung mit, welches den beiden erlaubt, stündlich genau zu ermitteln, wo das Päckchen sich gerade befindet. Jedenfalls diesmal soll unser Geschenk ankommen!

Punktgenau zum Geburtstag treffen die guten Dinge ein – wir bekommen sogar ein Photo zum Nachweis! Fast habe ich das Gefühl, dass die Freude über das Päckchen bei den Sauriern größer ist als bei der Beschenkten. Ich freue mich mit. Bei einem kurzen morgendlichen Geburtstagsanruf wird das verlorene Weihnachtspaket noch einmal erwähnt: es ist tatsächlich nie angekommen und auch nicht zurückgeschickt worden. Aber Ersatz ist nun da!

Als ich mittags von der Arbeit nach Hause komme und wie jeden Tag den Briefkasten öffne, liegt dort ein Paket. Wer hat uns denn etwas geschickt…? Ich nehme das Päckchen und traue meinen Augen nicht: es ist das Weihnachtspaket an die Dresdner, das zwei Monate nach seiner Absendung den weiten Weg nach Strasbourg zurückgefunden hat – und zwar am eben dem Tag, an dem sein Kollege, das Ersatzpaket, in Dresden eingetroffen ist.

Ein in knappem Behördendeutsch gehaltener Aufkleber prangt auf dem Päckchen: „Auslieferungsvermerk! Der Empfänger war nicht zu ermitteln: Gebäude/Hausnummer unbekannt!“ Darunter in Rot der Befehl: „ZURÜCK! Ausland – Frankreich.“ Eine kurze Kontrolle der Adresse sagt mir jedoch: diese hatten Anatol und ich völlig korrekt auf das Päckchen geschrieben.

Ich springe die vier Stockwerke hoch, so schnell es nur geht – und zeige das Wunderwerk postalischer Zustellungskunst zwei völlig verdatterten Sauriern.

„Das machen wir jetzt auf!“ ruft Anatol. „Ja – und dann essen WIR alle Plätzchen! Juhu!“ jubelt Elie. „Sind die Sachen überhaupt noch gut…“ wage ich einzuwerfen. „Die sind gut bis Mai!“ triumphiert Anatol. Schmecken tun sie, als hätten wir sie heute erst gekauft. Und wir essen Weihnachtsplätzchen auch im Februar noch sehr gern.

Die Wege der Deutschen Post sind unergründlich. Wenn man etwas Zeit hat, darf man sich aber durchaus auf sie verlassen.

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aufgegeben am 14. Dezember 2017 – zurück am 12. Februar 2018

 

 

 

 

 

170. Kapitel – Alle Jahre wieder …

Von Weihnachsplätzchen, Postpaketen und Mogelpackungen

Die Adventszeit ist da. Unser Weihnachtsbaumverkäufer hat wie jedes Jahr an der Straßenecke seine Bäume aufgestellt; in den Nachbarswohnungen prangen in Erwartung der fêtes de fin d’année festlich geschmückte Christbäume. Die Plätzchenbäckerei hat begonnen: im Büro dürfen wir jeden Tag neue Leckereien schnabulieren – sehr zum Verdruss der Betriebsärztin, deren mißmutige Waage das stetig anwachsende Gewicht der Mitarbeiter ans Licht bringt. Das Ansinnen der Ärztin, den mittäglichen Nachtisch in der Kantine zu streichen und durch grünen Salat zu ersetzen, konnte indessen – bisher – nicht in die Tat umgesetzt werden, zu stark war der ausnahmsweise geeinte Widerstand von Belegschaft und Direktion.

Weihnachtliche Versuchung findet sich aber auch außerhalb des Büros im ganzen Viertel:  Coop und Bäckerladen sind weihnachtlich dekoriert – schneebepuderte Weihnachtsmänner mit ihren roten Mützen, Schlitten und Rentieren in den Läden mit von Bredele überborden Regalen zeigen: an Weihnachten kommt in der Capitale de Noël niemand vorbei.

Einzig die Kirschbäume, die unsere Straße säumen, sagen uns, dass ihnen Weihnachten vollkommen egal ist: sie stehen seit Anfang Dezember in voller Blüte – Klimawandel oblige

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Wie jedes Jahr stellt sich die Frage: was verschenken wir zu Weihnachten…?

Was wir uns wünschen, ist hingegen schnell gesagt: Nichts. Wir haben alles (und davon noch zu viel) und würden uns eher wünschen, dass man uns diverse Dinge abnimmt … allerdings kann man von niemandem, den man mag, verlangen, zu Weihnachten zum Ausmisten zu kommen. Anatol, Elie und ich behalten diesen Wunsch daher für uns.

Mit meiner Familie ist zum Glück schnell geklärt, dass wir eine Geschenk-Diät einlegen. Geschenke? Gibt es nicht! Nur die Kinder sollen natürlich nicht leer ausgehen; hier hat Anatol schnell ein paar spannende Bücher ausgesucht.

Nachdem also das Geschenkeproblem nachhaltig gelöst ist, reibe ich mir fröhlich die Hände und rufe: „Kein Geschenk-Stress, Anatol! Ist das nicht großartig?“

Der Saurier sieht griesgrämig von seinem Regalbrett auf mich hinunter. „Dein Minimalismus ist ja schön und gut, aber für mich gehören Geschenke zu Weihnachten. Man kann doch die Leute nicht einfach um ihre Weihnachts-Päckchen betrügen! Schließlich hast Du ja auch schon eines bekommen! Mit Deinem Adventskalender! Und denk nur mal an Deine Tante! Der wolltest Du doch schon lange etwas schicken…!“

Verschämt erinnere ich mich an die Freude, die mir der Adventskalender wie jedes Jahr bereitet hatte. Und meine liebe Tante … sicher würde sie sich über eine Kleinigkeit freuen. Nur was soll man schenken …?

Elie hat die zündende Idee: „Warum verschickst Du nicht was von den leckeren Weihnachtsbredele? Die sind absolut minimalistisch und verbrauchen sich wie von selbst im Handumdrehen – wir haben es ja schon ausprobiert! Vielleicht können wir sie sogar selber backen?“

Anatol verwehrt sich gegen die Idee des „Selber Backens“. „Ich habe schon so genug zu tun,“ zetert er.

In Wahrheit hat er Angst, die Bredele könnten missraten und bei den Beschenkten kein hundertprozentiges Wohlgefallen hervorrufen. Daher entscheide ich kurzerhand, dass die Bredele selbst gekauft werden, und zwar bei der Maison alsaciennce de biscuiterie. Dort gibt es nicht nur köstlichste Plätzchen und andere Leckereien – diese werden zudem in praktischen und hübschen Blechbüchsen verpackt, die man später für eigene Kreationen weiterverwenden kann.

Mit Anatol fahre ich in die Biscuiterie – schnell haben wir diverse Keksdosen mit feinstem Inhalt erstanden. Um der Versuchung, gleich selbst davon zu probieren und die Geschenke zu sehr zu dezimieren, nicht zu erliegen, entscheiden wir uns, noch am selben Nachmittag zur Post nach Kehl zu fahren und alle Päckchen dort unverzüglich aufzugeben.

Hierfür brauchen wir indes etwas Verpackungsmaterial: Päckchen oder Kartons habe ich immer im Keller vorrätig.

Hattest Du vorrätig,“ korrigiert mich Anatol. „Du erinnerst Dich: im Zuge Deiner minimalistischen Ausmist-Aktionen musste ich alle Kartons und auch die dicken Umschläge entsorgen. Die sind alle im Papiermüll gelandet. Ich hab ja noch gesagt damals…“

Ich fluche. Es stimmt: ich selbst hatte gegen den erklärten Widerstand des Sauriers angeordnet, alle Verpackungen wegzuwerfen, da meist doch nicht der benötigte Pappkarton in der passenden Größe dabei war, und die Karton-Sammlung viel Platz wegnahm.

Nun müssen also neue Umkartons gekauft werden – gegen einen kleinen Aufpreis bekommt man diese bei der Post. Wir brauchen uns also keine Gedanken um die Verpackung zu machen. Schwer beladen brechen wir in Richtung Kehl auf.

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Im Niemandsland zwischen Strasbourg und Kehl werden wir mit unserer wertvollen Ladung fast weggeweht: es stürmt!

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Alsbald erreichen wir unser Ziel: die Deutsche Post in Kehl. Mit unserem Fahrrad parken wir bequem direkt davor.

Gleich im Eingangsbereich begrüßen uns diverse Geschenk-Pakete zum Auffalten: ich nehme mehrere an mich. Das Beste: im Preis ist das Porto schon enthalten! Wir müssen also nur noch die Geschenke in die Päckchen hineinlegen, das Ganze mit etwas mitgebrachtem Zeitungspapier ausstopfen, alles zukleben, adressieren und bezahlen. Einfacher geht es nicht!

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Anatol ist mir behilflich, und nach kurzer Zeit ist alles verpackt. Nun fällt mir auf, dass ein Geschenk im falschen Paket ist.

Seufzend reisse ich die Päckchen wieder auf und tausche den Inhalt aus. Das eine Päckchen ist etwas größer; hier müssen auch die Adressen ausgetauscht werden, sonst passt es nicht. Anatol überklebt die Adressen einfach mit einem Paketzettel.

Nachdem alles im jeweils richtigen Karton ist, stellen wir uns an der Schlange vor dem Schalter an.

Der freundliche Postmitarbeiter runzelt die Stirn, als er die von uns bearbeiteten und überklebten, portofreien Päckchen einscannen will.

„Ja, so kann ich das nicht annehmen,“ sagt er mit bedauerndem, leicht vorwurfsvollem Ton. „Sie haben das Adressfeld überklebt. Damit ist das Päckchen entwertet.“

Ich sehe ihn verständnislos an. Anatol verkriecht sich derweil tief in meinem Rucksack.

„Das Päckchen braucht jetzt noch Porto,“ erklärt der Mann.

Ich weise ihn entsetzt darauf hin, dass das Porto im – stolzen – Preis des Päckchens bereits enthalten ist!

„Ja, normalerweise.“ Hartnäckig bleibt der Postmann bei seiner Meinung. „Aber durch das Überkleben des Adressfelds wird das Porto hinfällig. Sie müssen es noch einmal bezahlen. Sonst kommt es nicht an. Das steht übrigens auch auf dem Paket.“

Meinen verzweifelten Hinweis, dass ich mit dem Vorhandensein von „Kleingedrucktem“ zur Nutzung eines Pappkartons nicht rechnen konnte, versteht der Mann. Daran, dass ich doppelt Porto zahlen muss, kann er allerdings nichts ändern. Ein Versuch, das überklebte Originaladressfeld freizulegen, scheitert: der Strichcode ist zerfleddert und kann nicht gelesen werden.

In Rage knalle ich das Geld für diese unsägliche Mogelverpackung auf den Tresen und verlasse in überhaupt nicht festlicher Stimmung die Post. Meine Weissglut braucht bis zur Trambrücke, um etwas herunterzukühlen. Von Anatol höre ich bis zu den Rheinfischern gar nichts.

Gewisse minimalistische Tendenzen werden wir überdenken müssen. Die alten Pappkartons werden jedenfalls in Zukunft zumindest bis Weihnachten aufgehoben!

 

100. Kapitel – Weihnachts-vorbereitungen

Leise fluchend rumort Anatol in der Küche – er durchwühlt den Küchenschrank. Irgendetwas ist nicht nach dem Geschmack des Butlers, und ich gehe davon aus, dass er es mir bald mitteilen wird.

„Wir haben keinerlei Weihnachtsgewürze mehr! NICHTS ist mehr da – dabei solltest Du letzte Woche doch Gewürze bei Ewert bestellen! Wie soll ich nun die Weihnachtsplätzchen backen?“ schimpft der Saurier. „Du hast das vergessen – gibs zu!“

Betreten sehe ich zu Boden. Wie soll ich es erklären? Ich habe die Bestellung bei Ewert nicht vergessen – ich habe sie absichtlich nicht getätigt. Eine Gewürzbestellung bedeutet Plätzchen backen, und Plätzchen backen heisst Plätzchen essen. Dies wiederum ist gleichbedeutend mit dem häßlichen Wort „Kilogramm“.

Ich hatte mich daher heimlich entschlossen, dieses Jahr keine Gewürze zu ordern. Ohne Gewürze keine Plätzchen – und das ist gut so. Im Büro und bei Freunden wird man ja sowieso mit Weihnachtsgebäck versorgt … wozu muss dann die Versuchung auch noch daheim zugegen sein – dort, wo man ihr am hilflosesten ausgeliefert ist?

Der Butler ist außer sich vor Zorn. „Weil DU dich bei den Plätzchen nicht ein klein wenig zurückhalten kannst, sollen wir nun alle keine bekommen? Das schlägt dem Fass den Boden aus!“ zetert das Untier.

Unerwarteterweise bekomme ich Unterstützung von Elie. „Anatol, wir essen doch sowieso schon den ganzen Tag über Weihnachtssüßigkeiten. Anna backt die leckeren Bredele, und von Angelo kriegen wir diesen tollen Pannetone, den seine Eltern immer in Mailand bestellen. Meine Hose zwickt schon, und ich würde ehrlich gesagt gern wieder etwas abnehmen …“

Beleidigt knallt Anatol die Tür des Küchenschranks zu. „Dann gibt es eben dieses Jahr keine selbstgebackenen Plätzchen! Wenn die Euch sowieso nur fett machen!“ Der letzte Satz geht in einem Schluchzen unter – Anatol beginnt zu weinen. Offenbar hat ihn unsere Plätzchen-Diät tiefer getroffen, als ich das für möglich gehalten hätte.

Elie ist bestürzt. „Anatol, Deine Plätzchen sind einsame Spitzenklasse! Sie sind so gut, dass wir nicht mehr aufhören können, zu essen, wenn sie erst einmal dastehen … Wenn sie uns nicht so gut schmecken würden, müssten wir uns wohl nicht fürchten, davon zuzunehmen…“ beeilt er sich, zu erklären.

Ich pflichte Elie bei. „Die Plätzchen waren letztes Jahr unglaublich lecker. Eigentlich ist es eine Schande, darauf zu verzichten … am liebsten mag ich die Anisplätzchen – die Springerle!“

Anatol weint laut. „Die Springerle gelingen mir doch nie. Also, sie bleiben immer in der Form kleben, und gehen dann kaputt. Letztes Jahr waren sie schon wieder nur Krümelkram. Ich hatte mich so gefreut, sie dieses Jahr vielleicht mal ordentlich hinzubekommen!“

Meine Zwangsdiät hat für eine Familientragödie gesorgt. Ich möchte mich am liebsten ohrfeigen. Für eine Bestellung bei Ewert ist es nun zu spät. Oder doch nicht? Heimlich nehme ich mir vor, nachher bei Ewert anzurufen und um eine Expressbestellung zu bitten – soweit das möglich ist.

Den Butler muss ich nun irgendwie besänftigen. „Anatol, möchtest Du nachher mit nach Kehl kommen? Ich muss doch die Geschenke zur Post bringen. Wir könnten sogar bei Dreher Mittag essen – Dreher magst Du doch so gern!“

Anatol schnieft. Ich merke, dass er auf den unerwarteten Ausflug Lust hat, es aber nicht so schnell zugeben mag. Ich lasse dem Butler daher etwas Zeit. „Ich fahre um 12 Uhr los. Wenn Du magst, komm einfach mit.“

Elie ist heute mittag bei Freunden eingeladen – er wird die nächsten beiden Stunden damit verbringen, sein „Outfit“ zu perfektionieren: Anna ist ebenfalls eingeladen.

Um kurz vor 12 hüpft Anatol wortlos in meine Tasche. Er möchte also mitkommen – ein gutes Zeichen. Die Laune scheint sich deutlich aufgehellt zu haben: der Butler kann sich sogar schon wieder über Elie lustigmachen. „Vielleicht solltest Du noch etwas Eau de Cologne auflegen, Elie. Deins bemerkt man überhaupt nicht!“

Anatol spielt auf die dichte Parfumwolke an, in die Elie sich gehüllt hat – offenbar, um Anna zu beeindrucken. Ein Hausschuh verfehlt meinen Kopf nur knapp (Anatol – das Ziel des Geschosses – sitzt in meiner Handtasche, die ich bereits geschultert hatte) … schnell schlage die Haustür hinter uns zu. Unser Ausflug kann beginnen.

Nach einem kurzen Zwischenstopp bei DM kehren wir wie geplant bei Dreher ein. Und zwar gehen wir nicht in die Filiale im neuen Einkaufszentrum „City Center“ – nein, wir begeben uns in die schöne, altmodische Konditorei mitten in der Stadt. Dort lieben wir es, an der Theke in der Nähe der Backstube zu sitzen, Tee zu trinken, und den großen Salon zu beobachten, in dem unablässig Köstlichkeiten von zahllosen Serviererinnen kredenzt werden.

IMG_3292Heute können wir jedoch keine Zeit damit vergeuden, den Teesalon zu begaffen: heisst es doch, die gesamte Weihnachtspost (oder jedenfalls einen großen Teil davon) zu verfassen, in Kuverts zu stecken und zu adressieren – um sie dann zur Post zu bringen.

Da es mir zu Hause nicht gelingt, Weihnachtskarten zu schreiben, muss dies bei Dreher stattfinden.

Eine Karte nach der anderen fülle ich, während Anatol mir elegant formulierte Sätze diktiert. So fließt uns die Weihnachtspost ganz leicht aus der Feder. IMG_3295

Nachdem alle Weihnachtskarten geschrieben sind, packe ich das große Klebeband aus. Die Päckchen müssen nun befüllt werden – zu jeder Weihnachtskarte das richtige Geschenk. Anatol überwacht diesen Vorgang mit Argusaugen, denn was wäre peinlicher, als das falsche Geschenk zur falschen Weihnachtskarte zu stecken – und an den falschen Empfänger zu versenden.

Nachdem alles im hoffentlich korrekten Päckchen sicher verpackt ist, kommen wir zum Höhepunkt des heutigen Tages: der Bestellung des Mittagessens.

Anatol sucht einen überbackenen Toast aus, der mit frischem Salat serviert wird und den ich eigentlich gar nicht essen dürfte. Da meine Diätvorstellungen aber heute bereits einmal zu Verwerfungen geführt haben, sage ich lieber nichts.

Das Festmahl wird gebracht. Anatol scheint mir die Plätzchenaffäre glücklicherweise nicht mehr übel zu nehmen – IMG_3294jedenfalls beteiligt er sich gebührend an den Toasts, die in Rekordzeit verschwinden.

Unsere Parkzeit ist abgelaufen. Eilig verlassen wir den gastlichen Ort, um noch vor dem Auge des Gesetzes am Auto einzutreffen, was auch gelingt.

Die Paketaufgabe bei der Post verläuft reibungslos, nachdem wir die neue Post in der Blumenstraße gefunden haben. Das alte, große Postgebäude ist vor kurzem abgerissen worden. Die neue Filiale ist allerdings deutlich angenehmer als die frühere Hauptpost.

Wir treffen einen freundlichen Kollegen aus dem Büro, der ebenfalls heute seine Weihnachtspäckchen verschickt. Nach einem kurzen Plausch treten wir die Heimreise an.

Müde, aber glücklich betreten wir die Wohnung. Anatol nuschelt etwas von „Mittagsschlaf“ und will in seinem Nestchen verschwinden, da vernehmen wir ein leises Wimmern.

Elie ist schon wieder zu Hause. Wollte er nicht den Nachmittag mit Anna und den Schulkameraden verbringen?

„Was ist denn los, Elie …“ frage ich bang.

„Sie will nichts von mir“ schluchzt Elie. „Sie hat es mir gesagt. Sie mag mich einfach so – „als Freund“. In Wirklichkeit ist sie immer noch in Angelo verliebt!“ Elies Stimme versagt.

Offenbar müssen sich Anna und Elie ausgesprochen haben – und dies war nicht im Sinne von Elie verlaufen. Die Geschichte zwischen den beiden war nie ganz klar gewesen … schon im letzten Sommer hatte es sich indessen abgezeichnet, dass Anna sich für den „Bad Boy“ – den schillernden, undurchschaubaren Angelo – entscheiden würde. Elie war immer schon ihr bester Freund gewesen. Dass dies viel mehr bedeutet und dass eine solche Freundschaft Jahrzehnte, ja ein ganzes Leben überdauert, kann Elie heute jedoch nicht trösten.

„Sie wird Weihnachten bei Angelo feiern!“ weint Elie. „Dabei habe ich doch so ein schönes Geschenk für sie, das ich ihr selbst überreichen wollte – und da soll Angelo NICHT dabei sein!“

Einen Trost habe ich für Elie nicht. Nur eins kann ich ihm ans Herz legen: Zeit vergehen lassen … und ein neues Kapitel seines Lebens schreiben.

98. Kapitel – Anatol auf dem Weihnachtsmarkt

Heute habe ich dem Gequengel endlich nachgegeben: Anatol will seit Tagen auf den Weihnachtsmarkt. Nicht für Geld und gute Worte ist er davon abzubringen – nein: der Weihnachtsmarkt muss besucht werden, findet Anatol.

Dabei hatte ich gewichtige Argumente gegen diese Veranstaltung vorgebracht, nämlich:

  • Es ist dort so voll, dass man die Stände nicht einmal sehen kann
  • In Strasbourg gibt es kein Weihnachtskarussell
  • Alles auf dem Weihnachtsmarkt ist überteuert
  • Es ist kalt
  • Der Weihnachtsmarkt dient (fast) nur dem Kommerz.

Elie hatte mir beigepflichtet. Er wolle nicht auf den Weihnachtsmarkt mit uns, hatte er schon vor der Eröffnung erklärt – weshalb, verstanden wir gestern: Anna, Elies beste Freundin (und heimliche Geliebte) hat auf dem Weihnachtsmarkt einen kleinen Stand, an dem sie für ein Kinderhilfswerk Plätzchen verkauft. An diesem Stand verbringt Elie nun jede freie Minute – da kann er natürlich nicht mit uns über den Weihnachtsmarkt schlendern.

Anatol hatte meine Argumente mit einer Handbewegung hinweggewischt. „Papperlapapp! Wenn wir recht spät am Abend hingehen, sind die meisten Leute schon weg. Ich möchte so gern wieder mal einen Glühwein (ohne Alkohol versteht sich) trinken… und dann gibt es da die leckeren Bredele … Strasbourg ist schließlich DIE Weihnachststadt. Das will ich mir nicht entgehen lassen!“

Schweren Herzens hatte ich mich daher bereiterklärt, am heutigen Sonntagabend mit Anatol und einer lieben Freundin den Strasbourger Weihnachtsmarkt zu besuchen.

Um 18 Uhr ist es soweit: Anatol und ich betreten die Innenstadt. Menschenmassen ungeahnten Ausmaßes strömen aus der Stadt heraus und wälzen sich durch die engen Straßen. Ich schlucke. „Anatol, Du hattest gesagt, ab 18 Uhr sei es hier ganz menschenleer!“

Ungehalten brummelt Anatol, dass in 10 Minuten sicher viel weniger Leute unterwegs wären. Ich solle mich „gefälligst nicht so anstellen.“ Nach diesem wenig freundlichen Hinweis versuche ich, bis zum Hauseingang unserer Freundin vorzudringen, was glücklicherweise auch gelingt.

Etwas später lassen wir uns zu dritt von der Menschenmenge in Richtung Weihnachtsbaum am Place Kleber schieben. Hier schaffen wir es leider nicht, bis zur Krippe vorzustoßen – immerhin glückt es uns, ein Photo von Anatol unter dem großen Strasbourger Weihnachtsbaum zu schießen.IMG_3247

Da Anatol doch etwas Angst bekommen hat wegen der vielen Menschen um uns herum, lässt er sich lieber von uns festhalten.

Wir beratschlagen. In der Nähe des Weihnachtsbaums ist nicht nur kein Fortkommen – die Geräuschkulisse ist auch ganz unerträglich. Attraktion des Weihnachtsmarkts ist nämlich unter anderem ein Lichtspiel, welches mit lautstarker Musikuntermalung mehr an ein Science-Fiction-Kinoerlebnis erinnert als an eine Weihnachtsvorstellung.

Ein kleiner Platz in der Nähe beherbergt auch einige Weihnachtsstände – dort hoffen wir eine etwas entspanntere und vor allem geräuschärmere Umgebung vorzufinden.

Der Saurier ist begeistert – und unverfroren: Kaum sind wir am Ziel angekommen, entwischt er aus meiner Handtasche und versucht, einen der Weihnachtsstände zu erklimmen! IMG_3253Im letzten Moment bekommt meine Freundin ihn am Schwanzzipfel zu fassen und kann das Biest festhalten – die hübschen Christbaumkugeln hatten es ihm offenbar sehr angetan.

Der Butler gelobt nun Mäßigung – allerdings erst nach einer gebührenden Maßregelung. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn der Saurier auf dem überfüllten Weihnachtsmarkt verloren ginge!

Wir besuchen einen Stand mit Weihnachtsfigürchen, Anatol ist hier glücklicherweise brav und lässt sich ohne weiteres photographieren. IMG_3254

Nun verlangt das Tier allerdings etwas zu essen. Man könne nicht auf einen Weihnachtsmarkt gehen, ohne Weihnachtsgebäck zu sich zu nehmen!

Hier wartet die nächste Enttäuschung auf uns. Die Stände, an denen Bredele und Glühwein verkauft werden, sind so beliebt, dass sich endlose Schlangen davor gebildet haben. Da ich keine Viertelstunde auf ein paar Bredele und etwas warmen Orangensaft mit Gewürzen warte, spreche ich ein Machtwort: Es gibt heute weder Bredele noch Glühwein, sondern – mangels Warteschlange vor dem entsprechenden Stand – etwas, was wir früher ohne Hintergedanken, politisch jedoch gänzlich unkorrekt „Negerkuss“ genannt hätten und was hier auf dem Weihnachtsmarkt in den köstlichsten Varianten dargeboten wird: Rum-Rosine, Zimt, Mokka, weisse Schokolade … einen solchen spendiere ich Anatol.

Noch bevor ich ein Photo machen kann, hat der Saurier die Süßigkeit vertilgt. Ich bin enttäuscht – wollte ich doch die Szene der Nachwelt erhalten.

„Dann müssen wir wohl noch mal herkommen, wenn Du davon unbedingt ein Photo willst!“ feixt das Untier frech. Ich bin sprachlos ob dieser Unverschämtheit!

Nun ist es auch Anatol kalt geworden. Wir knipsen ein letztes Photo vor einem wunderschön dekorierten Uhrengeschäft und machen uns auf den Rückweg. IMG_3255

Bis zu Annas Stand sind wir nicht durchgedrungen. Vermutlich müssen wir als tatsächlich noch einmal auf den Weihnachtsmarkt.

Ob ich mich wirklich darauf freue, weiss ich heute Abend allerdings noch nicht.

78. Kapitel – Verlust… das geliebte Victoria-Fahrrad

Anatol weint seit vorhin nur noch. Sein wunderschönes azurblaues Victoria-Fahrrad ist weg – für immer.

Er hatte das Fahrrad in den Keller gestellt und es dort sicher geglaubt. Normalerweise war es immer abgeschlossen – aber für die Fahrt nach Montbard vor 10 Tagen hatten wir das Schloss von Anatols Rad genommen, um mein Fahrrad damit zu sichern. Anatol hatte dann vergessen, sein Rad wieder abzuschließen…

Ein früherer Nachbar war gestern im Haus gewesen, um Sachen abzuholen. Diese Gelegenheit hatte er genutzt, um den Leuten aus dem ersten Stock zu sagen, dass das blaue Fahrrad offenbar herrenlos sei – jeder könne es benutzen.

Meine Nachbarn aus dem ersten Stock hatten das Rad daher gestern ihrer Tochter geliehen. Diese war damit zu einem Open Air Konzert gefahren, hatte es dort mit anderen Rädern anschließen lassen, aber nicht aufgepasst, als die anderen Räder aufgeschlossen worden waren.

Als sie um 5 Uhr früh das Fahrrad suchte, war es weg.

Anatol hatte es 1979 geschenkt bekommen. Zu Weihnachten. Seitdem hatte es ihn nicht mehr verlassen. Der Butler weint und weint und weint – Ihr könnt es Euch gar nicht vorstellen.

Morgen gehe ich zur Polizei und erstatte Anzeige, aber ohne Hoffnung.

Was mache ich nur mit Anatol… das Fahrrad ist unersetzlich. Ein neues Rad wollten die Nachbarn bereits beschaffen, um Anatol zu trösten, oder ihm Geld für ein neues Rad geben – aber darum geht es nicht. Kein Geld dieser Welt wird jemals Anatols Fahrrad, das 1979 unter dem Weihnachtsbaum stand, ersetzen können.

Ich habe Anatol nun gesagt, dass es ok ist, wenn er um sein Fahrrad weint. Als meinem Vater 1984 sein Fahrrad – auch ein Victoria-Rad – gestohlen wurde, habe er auch geweint. Obwohl er schon 45 Jahre alt war.

Das Fahrrad meines Vaters habe ich jedoch ein Jahr später wieder gefunden… und zwar hatte ich jemanden damit durch die Stadt fahren sehen: diese Person hatte ich damals gestellt, das Fahrrad gesichert und die Polizei gerufen … so bekam mein Vater sein Rad wieder. Wunder geschehen manchmal.

Ich konnte Anatol mit dieser Geschichte etwas beruhigen. Vielleicht geschieht ja noch einmal ein Wunder. Andernfalls muss Anatol sich damit abfinden, dass unser schönes blaues Fahrrad in die ewigen Jagdgründe der Fahrräder eingegangen ist und nur in seiner Erinnerung weiterleben wird.

Eben ist Anatol in sein Nestchen gekrochen und will jetzt versuchen, zu schlafen. Dieser Tag hat ihn sehr mitgenommen.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich, bleib wach und munter!

Joseph von Eichendorff