57. Kapitel – Das Referat

Bald sind Schulferien. Für Anatol steht vorher noch das große Physik-Referat an, das er vor der ganzen Klasse – und insbesondere vor Angelo, dem Physikcrack – halten muss. In wenigen Tagen ist es soweit. Anatol ist sehr aufgeregt.

Warum das Referat? Anatol ist in Physik nicht sonderlich begabt. All meine Versuche, ihm Nachhilfe zu geben, sind kläglich gescheitert. Das Schuljahr zog sich mit Vieren und Fünfen in Physik hin, bis der Physiklehrer Herr Hildebrandt endlich im 2. Halbjahr ankündigte, man werde nun bis zum Ende des Schujahres Atomphysik durchnehmen.

Obwohl ich es mir mit rechten Dingen nicht erklären kann, schreibt Anatol in Physik plötzlich Einsen. Das Gebiet macht ihm Spaß, und immer öfter sehe ich ihn in sein Physikbuch und diverse andere Physik-Unterlagen vertieft am Schreibtisch sitzen. Woher die Begeisterung für dieses Fach kommt, kann ich nicht nachvollziehen. Anatol meint dazu nur „Ich verstehe das einfach. Atomphysik ist ganz logisch aufgebaut. Deshalb sind die Physikarbeiten für mich nicht schwierig. Bei der schreckliche Elektrophysik habe ich nie auch nur das Mindeste begriffen.“

In der Tat denke ich mit Grauen an die tränenverschmierten Physikarbeiten zurück, unter denen in großen roten Buchstaben das vernichtende Urteil „Ungenügend!“ stand. Die letzte Arbeit, die ungläubig mit einer „Eins“ unterzeichnet war, war hingegen ein Fest gewesen.

Herr Hildebrandt hatte die Wandlung Anatols vom Klassenletzten zum Einserkandidaten mit Freude beobachtet und war nun gewillt, Anatol in Physik eine glatte Eins im Schulzeugnis zu geben. Da aber ein Schüler von einer Vier minus nicht auf eine Eins hochgesetzt werden kann, ohne dass das Lehrerkollegium einbezogen wird, hatte Herr Hildebrandt eine Konferenz einberufen, auf der Anatols Fall besprochen wurde. In der folgenden Physikstunde hatte er dann erklärt, Anatol habe einen zusätzlichen Leistungsnachweis zu erbringen, sprich ein Referat über Atomphysik zu halten. Wenn dieses ebenfalls mit einer Eins bewertet würde, stehe der Eins im Jahreszeugnis nichts mehr im Wege. Dies habe das Lehrerkollegium entschieden.

Angelo, der Überflieger, hatte in der Pause verkündet, ein solches Referat sei außerhalb Anatols intellektueller Reichweite. Wer die letzten zwei Schuljahre in Physik nur mit Mühe die Vier habe halten können, der käme nicht auf eine Eins, das sei ausgeschlossen.

Angelo darf, obwohl mehrere Jahre jünger als Anatol, am Physikunterricht der Oberstufe teilnehmen, da er vor einem Jahr den ersten Preis bei „Dinojugend forscht“ gewonnen hat.

Anatol hatte voller Wut geantwortet „Wir werden ja sehen!“ und war dann schnell nach Hause gegangen. In Wirklichkeit befürchtet er natürlich, dass Angelo Recht behält. Das ist auch der Grund, warum er nun in jeder freien Minute sein Physikreferat überarbeitet. Leider kann ich ihm auf diesem Gebiet nicht wirklich helfen, und Elie öffnet nur große Augen, wenn er das Wort „Atom“ hört.

IMG_2457„Das Zeug haben sie doch in diesen Atomkraftwerken, die wir alle nicht mehr wollen! Das ist es doch? Ich will darüber lieber gar nichts wissen, ich habe Angst vor den Atomen! Deshalb habe ich auf meinem Ranzen ja auch einen Aufkleber mit „Atomkraft nein Danke“ drauf, und mein Zimmer ist zur atomwaffenfreien Zone erklärt!“

Elie hat vor kurzem „Die Wolke“ von Gudrun Pausewang gelesen und ist seitdem erklärter Gegner von Atomwaffen und Kernkraft. Zum Glück weiss er nicht so genau, woher unser Strom kommt.

Anatol stöhnt. „Elie, ich beschäftige mich rein theoretisch mit Atomphysik. Da ist nichts mit nuklearer Strahlung oder so. In meinem Referat geht es nicht um Kernspaltung. Es ist völlig ungefährlich. Du brauchst nicht mal in Deine atomwaffenfreie Zone zu gehen, um in Sicherheit zu sein. Außerdem bist Du sowieso die ganze Zeit von Atomen umgeben – selbst in Deinem atomwaffenfreien Zimmer. Alles besteht aus Atomen. Übrigens kann man sogar Atomphysiker sein und sich trotzdem gegen Atomwaffen und Kernkraftwerke aussprechen.“

Elie leuchtet dies nicht ein. Seine große Angst – neben der vor einem Atomkrieg – ist die, dass Anatol sich bei seinem Referat unendlich blamieren und Angelo ihn in Elies Klasse, in die er eigentlich geht, zum allgemeinen Gespött machen könnte – womit dann auch Elie der Lächerlichkeit preisgegeben wäre.

Diese Sorge ist durchaus berechtigt – hat doch Angelo angekündigt, dass er jetzt schon Zwischenfragen für das Referat im Sinn habe, von denen er ausginge, dass Anatol sie jedenfalls nicht werde beantworten können.

Heute ist der große Tag. In der Physik-Doppelstunde soll Anatol sein Referat halten. Gefasst, den Ranzen fest auf den Rücken geschnallt verlässt er das Haus. Das Lampenfieber sieht man ihm von weitem an.

Am Tag zuvor hatte Anatol darauf bestanden, das Referat einmal vor Elie zu halten – zur Probe. Ich durfte dabei nicht anwesend sein; angeblich hätte ich sowieso nichts verstanden. In Wirklichkeit war Anatol die Probevorlesung peinlich gewesen und so kam allein Elie in ihren Genuß. Eine dreiviertel Stunde hatte das Ganze gedauert, denn Anatol soll mit dem Referat eine Schulstunde füllen. Das war die Vorgabe von Herrn Hildebrandt gewesen. Nach 45 Minuten hatte ich verstohlen ins Dino-Zimmer geguckt: Anatol hatte mit hochrotem Kopf seine Unterlagen studiert, in denen er irgendeine Gleichung zu suchen schien; Elie war eingeschlafen und schnurchelte auf dem Sofa vor sich hin. Das hochwissenschaftliche Thema sei für Elie offenbar zu komplex gewesen, so Anatol. Nun gut.

Heute ab halb 11 heisst es also Daumen drücken. An der Physikstunde kann ich natürlich nicht teilnehmen.

Gegen 13 Uhr, kurz vor Schulschluss, stehe ich aber dennoch vor dem Max-Planck-Gymnasium, um die beiden Dinos auf dem Nachhauseweg abzufangen und zu erfahren, wie das Referat verlaufen ist.

Die Schultüre öffnet sich, und unzählige Schüler verlassen lachend und lärmend die Schule. Wo sind Anatol und Elie? Die Schule leert sich – ein paar Nachzügler verlassen das Gebäude noch, dann fällt die Tür mit einem Knarren ins Schloss.

Wo sind meine beiden Saurier?

Ich betrete die Schule, auf die ich selbst vor Jahren gegangen bin: ein eleganter Bau der Gründerzeit mit einem atemberaubend schönen Treppenaufgang.

Heute habe ich allerdings für die Treppe keine Augen, denn ich suche meine Butler.

Eine Lehrerin kommt mir entgegen – ich frage sie nach den beiden Dinos. Sie wirft mir einen strengen Blick zu. „Elie sitzt nach. Er hat einen anderen Schüler angegriffen. Das Lehrerkollegium erwägt einen Schulverweis.“

Mir rutscht das Herz in die Hose. „Elie??“ frage ich entsetzt. „Elie hat sich noch nie aggressiv verhalten. Es muss sich um ein Missverständnis handeln! Und was ist mit Anatol?“

Die Dame führt mich zum Lehrerzimmer. „Anatol hatte heute ein Referat, in dem seine Fähigkeiten in Physik überprüft werden sollten. Da das Referat auf Grund eines Zwischenfalls nicht ordnungsgemäß zuende geführt werden konnte, hält er es nun noch einmal im Lehrerzimmer. Bitte warten Sie hier, bis Anatol fertig ist.“

Davon kann keine Rede sein. Ich warte hier auf keinen Fall, während Elie in Einzelhaft nachsitzt. Ich verlange, Elie sofort sehen zu dürfen. Die Lehrerin will dies zunächst nicht gewähren, nachdem ich aber mit Nachdruck darauf bestehe, werde ich in den „Karzer“ geführt. Ich bin schockiert. Eine solche Einrichtung gab es zu meiner Zeit nicht in dieser Schule.

Die Dame mustert mich scharf. „Sie müssen in den 70er und 80er Jahren zur Schule gegangen sein. Damals war ja alles erlaubt. Sogar Schulbesetzungen wurden geduldet. Diese Zeiten sind vorbei!“

Ich schlucke. Das ist nicht die Schule, die ich einmal gekannt habe.

Die Lehrerin öffnet ein kleines Schulzimmer – den „Karzer“. Erleichtert sehe ich Elie an einer Schulbank sitzen, ein freundlicher Lehrer muss ihm Papier und Wachsmaler dagelassen haben. Elie springt von der Bank auf und ist mit einem Satz auf meinem Arm. Um seine Fassung ist es geschehen: hemmungslos beginnt er zu weinen.

„Sie wollen mich von der Schule werfen!“ schluchzt er. „Dabei ist es alles nur Angelos Schuld!“

„Elie, beruhige Dich. Ich bin sicher, dass sich alles klären lässt. Warum ist Anatol nicht bei Dir geblieben? Ich hätte das eigentlich von ihm erwartet!“

„Anatol ist in die Lehrerkonferenz einbestellt worden, sie wollten ihm noch Fragen stellen. Da konnte er nicht weg. Ich habe dann in dem Raum hier gesessen und gemalt. Herr Hildebrandt war gar nicht besonders böse auf mich. Er hat mir erlaubt, ein paar Bilder zu malen, während ich auf Anatol warten sollte. Nur die neue Lehrerin, die immer so streng ist, war sehr ungehalten mit mir. Sie spricht immer von Disziplin und Ordnung. Wir sollen lernen, Autoritäten anzuerkennen, sagt sie. Ich verstehe das nicht!“

Ich bin fassungslos. Was ist mit meiner alten Schule geschehen? Als ich 1979 dort in die 5. Klasse kam, sprach niemand von Autorität und Disziplin … wir hatten ein gutes Verhältnis zu allen Lehrern. Nicht einmal der Direktor hatte mit mir geschimpft, als er mich eines Tages von der großen Linde herunterholen musste, auf die ich in der Pause geklettert war. Er hatte nur gesagt „Kleines, das ist gefährlich. Tu das bitte nicht. Du könnstest Dich verletzen.“

Eine antiautoritäre Reformschule war das MPG nicht, das stimmt. Aber eine Disziplinaranstalt mitsamt einem Karzer – das hatte es hier nie gegeben.

Ich nehme mir vor, der autoritären Lehrerin bei Gelegenheit einen Vortrag über Reformpädagogik zu halten, obwohl ich weiss, dass diese zur Zeit alles andere als in Mode ist. Aber dafür habe ich im MPG gelernt, dass man manchmal gegen den Strom schwimmen muss.

Ich will nun wissen, was vorgefallen ist.

Elie schildert mir die Ereignisse des Vormittags. Anatols Referat habe in der 6. Stunde, der letzten Stunde vor Schulschluss stattgefunden. Er – Elie – habe in dieser Stunde frei gehabt, und da er Anatols Referat im Original habe miterleben wollen, habe er sich heimlich in den Physikraum eingeschlichen. Einigen Schülern aus Anatols Klasse sei er natürlich aufgefallen, aber die hätten ihn hinter ihren Büchern und Federmäppchen versteckt gehalten. So habe Herr Hildebrandt nichts gemerkt.

Anatol habe kaum angefangen zu sprechen, da habe Angelo ihn bereits unterbrochen, und eine Zwischenfrage zur Quantenphysik gestellt. Er hoffe doch, dass Anatol auch dieses Thema behandeln werde? Anatol habe geantwortet, sein Referat widme sich selbstverständlich auch der Quantenphysik. Er werde etwas später dazu kommen und bitte um ein wenig Geduld. Herr Hildebrandt sei außerordentlich beeindruckt gewesen, denn Quantenphysik steht nicht einmal ansatzweise auf dem Lehrplan.

Zunächst habe Anatol die verschiedenen Kernmodelle dargestellt – das sei offenbar für Anfänger gewesen, denn Angelo habe ungeduldig mit seinem Bleistift auf die Schulbank getrommelt. Kurze Zeit später kam die nächste Zwischenfrage. Ob Anatol denn nicht bald auf die Relativitätstheorie zu sprechen kommen wolle? Anatol habe dies bejaht. Das komme gleich!

Herr Hildebrandt habe sich verwundert am Kopf gekratzt. Er hatte sichtlich nicht erwartet, dass Anatol in seinem Referat so weit ausholen würde.

Die nächste Frage von Angelo habe nur kurz auf sich warten lassen. Mit Nachdruck forderte er, dass Anatol an dieser Stelle die berühmte Schrödingergleichung erläutere, und zwar im Hinblick auf nichtrelativistische Quantensysteme – falls Anatol denn wisse, was das sei.

Hier habe Elie sich nicht mehr zurückhalten können. Zum einen habe er die ständige Fragerei als unfair empfunden, zum anderen habe er aber auch befürchtet, dass das Referat sich so noch weit in den Nachmittag hineinziehen würde. Er habe eine solch unbändige Wut auf den smarten Überflieger – Preisträger von Dinojugend forscht und Dinojugend musiziert, schlimmer noch: neuer Schwarm von Anna, Elies heimlicher Liebe – bekommen, dass er das Physikbuch seines Banknachbarn ergriffen, sich mit dem heiseren Schrei „Deine Quanten werd ich Dir zeigen!“ auf Angelo gestürzt und unter Gebrüll mit dem Physikbuch auf den Primus eingeprügelt habe.

Anatols Referat sei damit beendet gewesen. Da es unmöglich erschien, die Aufmerksamkeit der johlenden Schulklasse wieder zu Anatols Vortrag zurückzuholen, seien die Schüler nach Hause geschickt und Anatol ins Lehrerkollegium gebracht worden, wo er das Referat zuende halten durfte.

Elie habe indessen die Zeit mit Malen überbrücken sollen. Die gestrenge Lehrerin habe ihm gesagt, er könne für den Vorfall mit dem Physikbuch von der Schule geworfen werden. Das habe ihm große Angst gemacht. Er habe doch nur Anatol verteidigen wollen … und er habe es nicht mehr ausgehalten, dass das Referat sich länger und länger dahingezogen habe.

Die Tür öffnet sich. Herr Hildebrandt tritt ein, Anatol neben sich. „Anatol hat seine Eins im Zeugnis!“ verkündet er freudestrahlend. „Sein Referat war eine großartige Leistung. Mit Elie sollten Sie hingegen einmal ein ernstes Wort reden. Und nun dürfen Sie endlich in die Mittagspause.“ Er hält uns die Tür auf, flüstert Elie zu „Elie, Schulbücher sind zum Lesen da – nicht zum Schlagen!“ und entlässt uns mit einem Zwinkern in die Freiheit.

Elie will nun doch etwas wissen. „Die ganzen Fragen von Angelo – die zur Quantenphysik, zur Relativitätstheorie und dieser komischen unrealistischen Gleichung – hattest Du das denn alles in deinem Referat drin?“

„Nein.“ sagt Anatol. „Die Fragen von Angelo konnte ich unmöglich beantworten. Das war mir von vorneherein klar. Deshalb hatte ich mir überlegt, ihn mit den Antworten auf später zu vertrösten. Solange, bis mich die Schulklingel irgendwann gerettet hätte. Nun ja, das hast Du ja dann übernommen …“

IMG_1939Elie ist zutiefst zerknirscht. Er möchte am liebsten im Erdboden versinken.

„Du hast also nur geblufft, als Du behauptet hast, das käme alles noch? Und ich dachte, ich sitze da um vier Uhr nachmittags noch … Oh Mann… “

Nun können die Ferien beginnen.

56. Kapitel – Intendanzprobleme II

Nach dem Frühstück begebe ich mich als erstes zu meinem Hausarzt, zur Akupunktur.

IMG_2316Dort treffe ich Fridolin, der wie üblich damit beschäftigt ist, Krankenakten zu sortieren, die im Wartezimmer ausliegenden Zeitschriften zu ordnen und Termine zu vergeben. Fridolin erledigt seine Aufgaben zügig und unaufgeregt – er strahlt Ruhe und Souveränität aus. Es heisst, dass manche Patienten nur hier zum Arzt gehen, um Fridolin zu treffen. Allein seine Anwesenheit scheint sich auf viele Patienten positiv auszuwirken.

Dennoch habe ich auch heute wieder den Eindruck, dass Fridolin angespannt ist – so gut er es zu verbergen sucht. Aber auch diesmal ergibt sich leider keine Gelegenheit, ihn diskret darauf anzusprechen.

Die Sommerkollektion von Somewhere erwähne ich aber – ich weiss, dass Fridolin samstags nach Praxisschluss zu Somewhere geht, um dort im Lager zu arbeiten. Zudem ist er auch für die Dekoration der Boutique zuständig – daher kennt er die Kollektion perfekt.

„Fridolin, Anatol und Elie haben alle meine Sommertops in die Kleidersammlung gegeben.“ Hier flunkere ich ein klein wenig. „Es wird jetzt Sommer – letzte Woche hatten wir ja schon 28°C. Ich brauche also dringend ein paar anständige Sommersachen. Habt Ihr so etwas in der Kollektion? Es sollte auch bürogeeignet sein. Am liebsten aus Leinen – das kühlt am besten.“

Ich weiss, dass ich dabei bin, mein „Konsum-Verzichts-Gelübde“ sträflichst zu missachten. Aber was soll ich tun – ich habe kaum noch Sommertops, und schon bald wird es wieder warm werden.

Fridolin denkt kurz nach. „Ja, ich denke, da müssten wir ein paar hübsche Sachen haben. Die aktuelle Sommerkollektion ist eine der schönsten, die ich dort gesehen habe. Wenn Du nicht so viel Geld loswerden möchtest, rate ich Dir, die Schals und Halstücher lieber nicht anzusehen. Sie sind absolut tödlich. Aber auch wenn es nur ein oder zwei schöne Tops sein sollen, dann wirst Du sicher Dein Glück finden.“

Ich danke Fridolin und suche nach einer Rechtfertigung vor mir selbst… soll ich mir die Tops ansehen? Ich weiss, dass ich dann sicher etwas kaufen werde. Schließlich habe ich zum Geburtstag etwas Geld geschenkt bekommen, mit der Auflage, davon etwas Schönes zu erstehen …

IMG_2319Vor der Boutique zögere ich. Soll ich das Geschäft wirklich betreten?

Kurzentschlossen drücke ich die Tür auf – und bin von wunderschönen Kleidungsstücken umgeben, die ich unmöglich alle ansehen, geschweige denn anprobieren kann.IMG_2323

Der eigentliche Zweck meines Besuchs in dem Modetempel ist es ja, die fehlenden Sommertops zu ersetzen – und zwar durch etwas, das ich auch im Büro tragen kann. Gleich finde ich zwei wunderschöne Oberteile in hellgrau und weiss, die ich sofort zurücklegen lasse.

IMG_2324

Wie Fridolin bereits andeutete, sind die Halstücher bestrickend schön. Ich erliege einer dieser Kostbarkeiten, und verlasse schließlich mit Sommertops, einer Matrosenbluse aus Leinen und einem exotisch eleganten Foulard die Boutique. Aufgrund meiner Geburtstags-Punkte und der hier sogenannten „Ventes privées“ zahle ich nur die Hälfte des eigentlichen Preises. Das wird den Butlern sicher gefallen !IMG_2353

Mit einer nicht exzessiv großen Tüte komme ich nach Hause.

„Anatol! Elie!“ rufe ich. „Fridolin hat mich großartig beraten. Ich habe ein paar wunderschöne Teile als Ersatz für die weggegebenen Tops gefunden!“

Anatol guckt betreten aus dem Schlafzimmer. Elie sitzt auf dem Kleiderschrank und sieht ebenfalls recht verlegen aus. Kleinlaut meint Anatol, man habe nach der morgendlichen Kontroverse etwas aufräumen wollen und dabei auch weniger genutzte Fächer des Schrankes ausgeräumt. Hierbei sei eine Kiste aufgefallen, die man geöffnet habe.

Die Kiste habe alle vermissten Tops – fein säuberlich zusammengelegt – beherbergt. Offenbar habe man letztere nämlich nicht in die Kleidersammlung gegeben, sondern in der Kiste verwahrt.

Ich muss mich setzen.

„Heisst das, dass ich nicht nur neue Klamotten in einen dem Minimalismus verpflichteten Haushalt gebracht habe, sondern dass die gesamten Altlasten immer noch da sind?“ frage ich entsetzt.

„Ja, genau das heisst es“ gibt Anatol beschämt zu.

„Tja.“ sage ich nur. „Daran kann man wohl nun nichts mehr ändern.“

Überglücklich, dass mein geliebtes, altes, grünes Top, dass so perfekt zu meinem Lieblingsanzug passt, wieder da ist, beginne ich, die neu erstandenen Oberteile auszupacken.

Minimalismus ist toll. Aber manchmal darf er auch etwas warten.

IMG_2345

55. Kapitel – Intendanzprobleme I

Fassungslos durchwühle ich meine T-Shirt-Schublade.

„Anatol!“ rufe,  nein: schreie ich. „Wo sind meine Trägertops!?“ Ich bin außer mir.

Verschlafen reibt Anatol sich die Augen. Der Faulpelz hatte noch geschlafen – obwohl es schon 7 Uhr 30 durch ist!

„Deine Trägertops…? Wo die sind? Ja keine Ahnung! Woher soll ich das denn wissen. DU trägst die doch.“

„Sieh Dir meine Schublade an! Sie ist leer!! Hier sollten alle meine Tops drin sein – die grünen, die in rosa und die weissen. Aber jetzt liegen hier nur noch 3 weisse Tops drin! Wo sind die anderen?!“

Anatol zuckt die Schultern.

„Oh Du Spitzbube, Du weisst es doch ganz sicher!“ rufe ich und will den Butler packen. In Windeseile ist er da aber schon aufs Regal geklettert – und befindet sich außerhalb meiner Reichweite. Er weiss, dass ich sehr ungemütlich werde, wenn es um meine Klamotten geht.

Elie lugt aus der Küche hervor. Zumindest er hat sich schon am Kühlschrank zu schaffen gemacht – ich denke, um das Frühstück vorzubereiten.

„Ist heute dicke Luft?“ fragt er schüchtern.

Anatol gibt – vom sicheren Regal aus – ein Schnauben von sich. „Sie hat ihre Sachen nicht aufgeräumt, findet nichts mehr und ICH soll Schuld sein.“

Elie druckst herum. Irgendetwas will er uns nicht sagen. „Elie!“ sage ich mit drohendem Unterton. „Wo sind meine Sachen!?“

„Aber die haben wir doch alle aussortiert. Für die Kleidersammlung. Weisst Du noch – als wir entrümpelt haben. Im März. Du hast noch einen ganzen Blogeintrag dazu geschrieben, und sogar eine Kategorie „Entrümpeln“ in den Blog eingefügt.“

Siedend heiss fällt es mir ein. Ja, da war etwas gewesen. Kann es sein, dass ich selbst meine guten alten Trägertops aussortiert habe??

Anatol krabbelt vom Regal herunter. „Ich bin dann ja wohl entlastet. Gibt es mal einen Kaffee für mich, bitte? So ein böses Erwachen an einem Samstag Morgen hatte ich lange nicht.“ Er wirft mir einen scharfen Blick aus dem Augenwinkel zu.

So geht es nun nicht. „Wieso hast Du mich nicht davon abgehalten, all die schönen Sachen wegzugeben, Anatol! Das gehört klar zu Deinen Aufgaben!“ Ich bin außerordentlich aufgebracht.

Anatol schüttelt den Kopf. „Wenn DU etwas weggeben willst, dann ist das Deine Entscheidung. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören. Die alten Klamotten waren sowieso zu klein geworden – und ich kann nichts dafür, dass Du Dir dieses Jahr keine neuen kaufen willst. Nun musst Du den Sommer eben mit 3 Trägertops überstehen.“

Ich würde am liebsten in Tränen ausbrechen. Mein schönes grünes Top, das ich mir 2001 gekauft hatte, und das so gut zu dem einen Anzug passte – das konnte ich doch unmöglich weggegeben haben…

Elie gießt mir einen Tee ein. Er meint, es sei doch gut, in der Schublade wieder soviel Platz zu haben. Ich sollte mich nicht so grämen wegen der alten Klamotten. Er selbst trage außer seinem Chèche oder meinem Kapuzenschal eigentlich nie Kleider. Sowas sei ganz überflüssig.

Letzterem kann ich mich nicht anschließen. Mir fällt aber ein, dass ich gerade erst einen Gutschein für meinen Lieblingsladen Somewhere bekommen habe… aber da gibt es ja noch meine Kleider“diät“ … was soll ich tun?

Elie flüstert mir zu: „Fridolin hat mir gesagt, dass sie bei Somewhere eine wunderschöne Sommerkollektion haben. Du kannst doch heimlich da mal gucken …? Vielleicht haben sie das eine oder andere kleine Trägertop für Dich.“

Elie ist ein Schatz. Ich weiss allerdings noch nicht, ob ich seinen Rat befolgen werde.

Nun gibt es Frühstück – ohne dicke Luft.

Hier geht es zur Fortsetzung: Intendanzprobleme II

 

54. Kapitel – Am Starnberger See

Seit mehreren Monaten liegt sie mir auf der Seele – die unerbittlich näherrückende Dienstreise zum Starnberger See. Zwei ganze Tage und eine Nacht werde ich verreist sein – Katzen und Dinosaurier sind allein zu Haus !

Heute ist es so weit: Meine Reisetasche ist gepackt. Anatol hat mehrmals kontrolliert, ob ich auch alles habe. Schlafanzug, Seife, Shampoo … etwas Wäsche zum Wechseln und eine warme Jacke : alles hat er erst in einer Liste zusammengestellt und dann in Windeseile in die Tasche gepackt.

Ich hoffe, dass er nichts vergessen hat.

Für die Katzen ist gesorgt : eine liebe Freundin kommt zum Catsitten. Aber wird Tonio sein Medikament nehmen ? Werden Loup und Riri sich nicht hauen ? Und wird Noah die armen Katzenmädchen, die er so gern durch die Zimmer jagt, in Frieden lassen ?

All dies geht mir durch den Kopf – aber ich weiss ja, dass immer noch die beiden Butler da sind und notfalls eingreifen können.

Mein Zug geht um kurz vor 14 Uhr. Ich habe genügend Zeit, um vor der Abfahrt noch einmal nach Hause zu gehen, die Katzen zu füttern und mein glücklicherweise leichtes Reisegepäck abzuholen. Zum Bahnhof kann ich sogar mit dem Fahrrad fahren.

Von den Butlern keine Spur, als ich aus dem Haus gehe. Ich vermute, sie haben sich in den Park verdrückt, um meiner Reisenervosität zu entrinnen. Seit gestern schimpft Anatol, ich sei so aufgeregt, als ginge es auf eine Weltreise! Dabei würde ich nur für anderthalb Tage an den Starnberger See fahren – dies sei nun wirklich nichts, weshalb man sich so beunruhigen müsse.

Sicher hat er Recht. Aber derlei Reisen bringen mich einfach aus dem Konzept – immer befürchte ich, irgend etwas Wichtiges vergessen zu haben. Nun bin ich aber unterwegs – und üblicherweise legt sich die Aufregung, sobald ich losfahre.

IMG_2265Mein Fahrrad schließe ich am Bahnhof im überwachten Fahrradparkplatz an, und begebe mich dann aufs Gleis. Kurze Zeit später kommt der Zug. Ich steige ein – die Reise hat begonnen !

Meine freundliche Kollegin aus dem Büro hat mir einen komfortablen Fensterplatz reserviert, den ich schnell finde.

Meine Nervosität ist einem ordentlichen Hunger gewichen. Anatol hatte das vorhergesehen und mir deshalb schon heute morgen ein reichlich bemessenes Lunchpaket mit Butterbroten und etwas Salat eingepackt. Auf diesen Proviant freue ich mich nun sehr.

IMG_2277Ich öffne meine Tasche – und sehe entsetzt, dass ich nicht allein auf Reisen gegangen bin.

Gleich obenauf, in meinen Pulli eingemummelt, befinden sich zwei blinde Passagiere, für die ich keinerlei Reisegepäck geschweige denn eine Fahrkarte habe: Anatol und Elie haben sich in die Reisetasche hineingeschmuggelt und sind mitgekommen!

Anatol guckt mich spitzbübisch an. « Glaubst Du wirklich, wir hätten Dich allein zum Starnberger See fahren lassen ? Wir wollen schließlich auch etwas sehen von der Welt, und am Starnberger See soll es wunderschön sein ! » Elie fügt fröhlich hinzu :  « Wir wollen mit auf die Abenteuerreise! »

Mir verschlägt es die Sprache. Mit den beiden Burschen kann ich auf dieser Reise überhaupt nichts anfangen ! Wie soll ich den anderen Teilnehmern der juristischen Konferenz erklären, dass ich mit zwei Stoffdinosauriern anreise ?

« Anatol, was hast Du Dir dabei gedacht ! Ihr fahrt gerade schwarz in der Bahn! Und das hier ist keine „Abenteuerreise“ – ich bin dienstlich unterwegs! Morgen findet eine Markenrechtskonferenz statt, an der ich teilnehme! Da könnt Ihr unmöglich auftauchen. Zudem werde ich den heutigen Abend und den ganzen Tag morgen mit meinen Kollegen verbringen – was wollt Ihr denn in der Zeit machen ? Allein am See lasse ich Euch auf keinen Fall ! Und wer passt jetzt auf die Katzen auf ? »

Ich bin außer mir.

Elie findet, dass ich wieder einmal überreagiere. « Wir sind absolut brav während Deiner Konferenz. Notfalls schlafen wir einfach in Deiner Tasche. Aber heute abend und morgen früh können wir doch an den See ! Warum soll das nicht möglich sein ? »

« Und die Fahrkarte, die Ihr beiden nicht gelöst habt ? Was machen wir, wenn Ihr kontrolliert werdet ? » flüstere ich – denn wer weiss, wer hier gerade mithört!

IMG_2272Anatol behauptet schlichtweg, die Beförderung von Dinosauriern mit der Bahn sei kostenlos. Er habe die allgemeinen Beförderungsbedingungen der Deutschen Bahn genauestens studiert – und nirgendwo stünde, dass Dinosaurier einen Fahrschein zu lösen hätten.

Ich bin mir nicht sicher, ob diese Argumentation frei von Denkfehlern ist, vermute aber, dass es wohl das Beste sein wird, wenn wir dem Schaffner nicht sagen, dass noch zwei Dinos mitreisen. Auch wenn mir nicht sehr wohl dabei ist, denke ich aber doch, dass wir so einigen Problemen aus dem Weg gehen werden.

Der Zug kommt in Stuttgart an ; die Butler haben sich nun wieder brav im Koffer versteckt. Wir müssen hier nach München umsteigen – aber die Bahn macht uns einen Strich durch die Rechnung : der Anschlusszug ist über eine halbe Stunde verspätet. Wo er abfahren wird und wann genau – es kann uns niemand sagen. Ziellos irren wir durch den Bahnhof, der einer Großbaustelle gleicht – es muss doch hier eine Auskunft geben… !

Ein freundlicher junger Mann versichert mir, dass der Zug nach München ganz bestimmt auf Gleis 15 abfährt – allerdings erst in etwa einer halben Stunde.

IMG_2267Wir setzen uns auf eine Bank und warten. Der Wind pfeift über die Gleise – es ist kalt geworden. Ich bin froh, dass Anatol heute morgen darauf bestanden hat, dass ich doch die warme Jacke mitnehme. Die Butler sitzen in der Reisetasche, weich und warm in meinen Pulli eingekuschelt. Mittlerweile freue ich mich, dass sie mitgekommen sind. Bald werden wir zu dritt den Starnberger See unsicher machen !

Endlich fährt unser Zug ein – und wenige Stunden später sind wir an unserem Ziel angekommen. Ich befehle den Butlern, sich in meiner Reisetasche zu verstecken und dort mucksmäuschenstill zu sein. Ich werde nämlich am Bahnhof von einer Kollegin abgeholt, die mich nicht in Begleitung von zwei Stoffdinosauriern in Empfang nehmen soll.

Unsere erste Fahrt geht in die Kanzlei meiner Kollegin. Dort sind bereits alle anderen Teilnehmer der Konferenz versammelt.

Da es in der Tasche fiept und rumort, tippe ich leicht mit dem Fuß daran. Nun muss absolute Ruhe herrschen ! Ich kann mich hier nicht zum Spott aller Kollegen machen. Schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren.

Die Tasche bleibt nun still – in einem unbeobachteten Moment kann ich aber doch einen Blick hineinwerfen, mich überzeugen, dass dort alles ok ist, und eine weitere eindringliche Ermahnung an die Saurier aussprechen !

Das Abendprogramm der Konferenz beginnt.

Zunächst steht ein Besuch im weltberühmten Buchheim-Museum an. Das Museum, welches unter anderem eine beeindruckende Sammlung expressionistischer Gemälde beherbert, liegt direkt am Starnberger See. Um es zu erreichen, müssen wir durch einen Park spazieren – da ich allerdings nicht allein, sondern mit meinen Juristenkollegen unterwegs bin, können die Butler hier nicht mit.

Oder doch? Ich habe eine Idee. Unter dem Vorwand, etwas im Auto vergessen zu haben, laufe ich noch einmal zurück zum Parkplatz. Dort lasse ich die beiden Saurier aus der Reisetasche heraus und schärfe ihnen ein, der Gruppe – und vor allem mir! – in gebührendem Abstand zu folgen und dann vorsichtig mit ins Museum zu kommen, immer gut versteckt. Schließlich möchte ich ihnen den Besuch dieses außergewöhnlichen Ortes mit so unterschiedlichen Kunstsammlungen nicht vorenthalten. Außerdem befürchte ich, dass die beiden Butler, wenn sie zu lange in der Tasche eingeschlossen sind, doch irgendwann anfangen, zu randalieren – eine Situation, deren Peinlichkeit ich mir gar nicht vorstellen möchte.

IMG_2283Der Parkweg führt uns durch einen Wald vorbei an einem chinesischen Pavillon herunter zum See und zum Museum. Unsere Konferenzleiterin macht ein Photo von mir.

Die Reise beginnt, mir Spaß zu machen. Ich denke, man sieht es auf dem Photo.

Etwa 50 Meter hinter uns sehe ich die Saurier durchs tiefe Gras schleichen. Sie sind außerordentlich vorsichtig und diskret – niemand bemerkt die beiden, nicht einmal, als sie hinter einem Museumstransporter versteckt durch eine Nebentür heimlich ins Museum schlüpfen.

Das Museum hat für gewöhnliche Besucher bereits geschlossen. Wir bekommen eine eigens für uns bestellte Privatführung – außer uns befindet sich niemand im Museum! Die Räume sind hoch und sehr hell, die Architektur erinnert an das berühmte Bauhaus. Wenn man das Museum vom See aus betrachtet, stellt man fest, dass es die Form eines Schiffes hat. Die streng moderne, vollkommen schnörkellose Bauweise lässt für unsere Saurier fast keine Verstecke.

Ich beginne, mir Sorgen zu machen: und wenn meine Idee, die beiden mit ins Museum zu lassen, uns nun auffliegen lässt?

Mit einem mulmigen Gefühl sehe ich, wie die beiden Spitzbuben sich zunächst in der völkerkundlichen Sammlung afrikanischer Stammesmasken verbergen. Regungslos verharren sie hinter und neben den Masken – sie fügen sich so gut in die Sammlung ein, dass niemand sie bemerkt. Ich atme etwas auf.

Wir erfahren, dass Lothar-Günther Buchheim der Autor des Romans „Das Boot“ ist. Den gleichnamigen Film von Wolfgang Petersen kennt wohl jeder – ein weiterer meiner Lieblingsfilme. Das Museum hat ein nachgebautes U-Boot ausgestellt, welches die beklemmende Atmosphäre des Films sehr eindrucksvoll wiedergibt. Besucher dürfen den Nachbau allerdings nicht betreten – dies beruhigt mich, denn Anatol und Elie haben sich in einer der U-Boot-Kojen versteckt – keck schielen sie aus ihrem Schlupfwinkel hervor. Ich merke, dass es bald Zeit für eine Ermahnung ist! Die beiden werden mir etwas zu übermütig

Die Museumsführerin, die mitreissend Lebenslauf und künstlerischen Werdegang Lothar-Günther Buchheims erzählt, zeigt uns nun die spektakuläre Expressionisten-Sammlung, die das Museum ausstellt. Diese zieht meine Kollegen und mich so in ihren Bann, dass wir keine Augen mehr für anderes haben. Die Butler nutzen dies aus und stromern ganz unbehelligt durch das Museum, hier und da ein expressionistisches Werk bewundernd. Besonders Elie bleibt bei manchen Bildern der Mund offenstehen. Er wird mich später fragen, ob er auch Maler werden dürfe – so wie Emil Nolde und Ernst Ludwig Kirchner, deren Bilder es ihm besonders angetan haben.

Viel zu schnell ist die Führung vorbei. In einem unbeobachteten Moment sammle ich meine Butler auf, wickle sie in meinen Pulli ein und stopfe sie – „Keine Widerrede!“ – in meine Handtasche. Wir können jetzt kein Risiko eingehen.

IMG_2285Kurze Zeit später sind wir im Restaurant, direkt am Seeufer. Anatol und Elie bleiben brav in meiner Handtasche versteckt; schließlich sitzen sie jetzt inmitten einer größeren Juristenrunde – das macht ihnen ausreichend Angst, um sie ruhig zu halten. Von Zeit zu Zeit stecke ich ihnen einen Leckerbissen zu, was glücklicherweise unbemerkt bleibt.

Der Abend ist sehr gesellig und geht erst gegen Mitternacht zuende.

Müde stolpere ich in mein Hotelzimmer – unser Hotelzimmer, um genau zu sein.

Dort stelle ich mit Entsetzen fest, dass die Heizung auf Hochtouren läuft und sich weder durch Drehen am Thermostat noch durch gutes Zureden davon abbringen lässt, weiter zu heizen.

Ich kann allerdings nur ohne Heizung schlafen – wenn es nicht sehr kühl in meinem Zimmer ist, brauche ich an Nachtruhe nicht zu denken.

Anatol werkelt noch eine Weile an der Heizung herum, gibt dann aber zu, dass er hier nichts ausrichten kann. Es ist halb ein Uhr Nachts. Die Heizung glüht.

In meiner Verzweiflung begebe ich mich zurück ins Restaurant, das zum Hotel gehört. Ein freundlicher Herr sagt zu, die Heizung sofort zu reparieren – also abzustellen.

Eine halbe Stunde später scheint der Thermostat-Schaden behoben, und ich falle beruhigt ins Bett.

Früh werde ich durch eindringliches Zureden geweckt. Die Butler sind schon länger wach und möchten nun zum See.

IMG_2311Am liebsten möchte ich mich auf die andere Seite drehen und weiterschlafen, aber um 10 Uhr wird die Konferenz beginnen, und vorher will auch ich unbedingt an den See. Ich springe auf, mache mich fertig, und schon sind wir auf dem Weg ans Seeufer:

IMG_2289

 

IMG_2292

IMG_2295

 

IMG_2296

IMG_2309

 

IMG_2306

IMG_2293

 

Anatol und Elie können gar nicht genug vom See bekommen. Aber um 10 Uhr beginnt meine Konferenz, und wir haben noch nicht gepackt.

Den Rest des Tages werde ich nur eingeschränkt mitbekommen. Kurze Zeit, nach dem die Konferenz angefangen hat, setzt unvermittelt eine Migräne ein, wie ich sie in dieser Intensität selten erlebe. Von Medikamenten zeigt sie sich vollkommen unbeeindruckt, vermittelt mir aber bald, dass alles bisher Eingenommene schnellstens und auf dem gleichen Weg, wie es in meinen Magen gekommen ist, wieder heraus muss.

Ich schaffe es noch, mich bei meinen Kollegen zu entschuldigen und verbringe die Mittagspause abwechselnd auf einer Bank liegend hinter ein paar Tischen versteckt und in den sonstigen in solchen Fällen einschlägigen Örtlichkeiten.

Anatol und Elie sind außer sich vor Sorge, und sie sind damit nicht allein, denn meine liebe Kollegin, die die Konferenz leitet, möchte einen Arzt rufen, so verheerend sehe ich aus. Zum Glück kann ich das verhindern.

An Peinlichkeit ist die Situation dennoch nicht mehr zu überbieten.

Zum Glück geht es mir am späteren Nachmittag zumindest so weit besser, dass ich den Rest der Konferenz am Tisch sitzend mitverfolgen kann.

Erst im Zug, als wir in München Pasing einfahren, sagt eine Kollegin „Sie fangen gerade an, wieder ein wenig Farbe ins Gesicht zu bekommen. Geht es Ihnen besser?“ Ich kann dies bejahen; wirklich gut geht es mir allerdings erst in Stuttgart.

Im Nachhinein möchte ich vor Scham in den Boden versinken, aber die Kollegen sagen einhellig, für Migräne könne niemand etwas, und sie hofften, mich beim nächsten Treffen bei besserer Gesundheit begrüßen zu können.

Anatol schimpft allerdings, ich hätte den Termin beim Neurologen schon vor Monaten ausmachen sollen. Ich weiss, dass er wieder einmal Recht hat, und bin zum ersten Mal froh darüber, dass der Termin nun endlich näher rückt.

Um eine Geschichte der Kategorie „Dein peinlichstes Erlebnis mit der Migräne“ reicher, gedenke ich, Violetta in ihrem Migräne-Blog recht bald von der blamablen Begebenheit zu erzählen: Wenn man schon Migräne hat, muss man zumindest ab und zu mal darüber lachen können.

Um 21 Uhr treffen wir in Strasbourg ein; die Katzen sind wohlauf und haben sich mit meiner Freundin sichtlich wohl gefühlt.

Wir können also demnächst wieder auf Reisen gehen – nur bitte ohne Migräne.

 

53. Kapitel – „Die schwarze Katze“

10. Mai, 23 Uhr 15. Mein Geburtstag ist fast vorbei – und eine lange, aufreibende Nacht liegt vor uns.

Elie ist, nachdem er mit seinem Freund Mirko „Eyes wide shut“ gesehen hat – ein Film, den er laut FSK frühestens in 10 Jahren zu Gesicht bekommen dürfte – davongelaufen, um im Strasbourger Nachtleben seinen Liebeskummer zu betäuben.

Anatol und ich sind in höchster Sorge. Wie sollen wir Elie wiederfinden? Er kann im Grunde überall sein – wir müssen die einschlägigen Lokale eines nach dem anderen abklappern.

Die Polizei will ich nicht einschalten – mit dem Auge des Gesetzes haben wir, was Dinosaurierfragen angeht, keine allzuguten Erfahrungen gemacht. Wir müssen mit Bordmitteln arbeiten.

Welches Etablissement suchen wir zuerst auf? Anatol schlägt das Café des Anges vor. Dort werde Salsa getanzt – vielleicht habe Elie den Tanz lernen wollen, um Anna später damit zu beeindrucken? Wer seinerseits perfekt Salsa tanzt, brauchen wir nicht näher zu erwähnen: Angelo – Elies Erzrivale.

Innerhalb von 5 Minuten sind wir beim Café des Anges. Der Türsteher mustert mich abschätzig. Sieht man mir an, dass ich überhaupt nicht tanzen kann?

Nein, er habe keinen kleinen Plüschdinosaurier hereingelassen. Ja, da sei er sich ganz sicher. Auf weitere Nachfrage beginnt der Videur, wie man hier sagt, an seinem Handy herumzufingern. Ich halte dies für kein gutes Zeichen und ziehe es vor, mich zu verabschieden – bevor der gute Mann Verstärkung holt, um die sichtlich etwas derangierte, nicht mehr ganz so junge Dame aus dem Eingangsbereich des exquisiten Clubs zu entfernen.

Auf der Straße frage ich Anatol, ob er einen anderen Club kenne, der es Elie vielleicht angetan haben könne? Finde gar heute Nacht möglicherweise ein Kostümball in Strasbourg statt …? Das wäre sicher eine Adresse, die man aufsuchen müsse.

Anatol ist nichts dergleichen bekannt. „Lass uns noch mal im Salamandre gucken. Das ist ein Club, in den Studenten gehen. Angelo kann durchaus mal dagewesen sein – vielleicht hat er das in der Schule erzählt?“

Mir ist jeder Vorschlag recht. Auch vor diesem Etablissement steht ein Videur und kontrolliert, ob die Kleidervorschriften eingehalten werden. Allein dies deutet bereits darauf hin, dass Elie – soweit er sich nicht ganz neu eingekleidet hat! – hier im Grunde keinen Einlass gefunden haben kann. Dennoch befrage ich den Türsteher.

„So so. Sie suchen also einen Stoffdinosaurier, der Ihnen ausgebüxt ist. Warum lassen Sie ihn sich nicht mal ordentlich amüsieren?“ Der Muskelprotz bricht in ein hämisches, heiseres Lachen aus. Frostig stelle ich klar, dass mein Stoffdinosaurier heute bereits genügend Gelegenheit hatte, sich zu „amüsieren“ – und dass ich dem gnädigen Herrn außerordentlich verbunden wäre, wenn er mir die gewünschte Auskunft nun bitte erteilen würde. Der Videur durchbohrt mich mit einem stahlharten Blick, der mir Angst machen soll. Nein, da sei kein Stoffdinosaurier im Club. So etwas hätte er im Übrigen gar nicht erst hereingelassen. Bevor ich mich mit dem Gorilla darüber anlegen kann, was das „so etwas“ zu bedeuten habe, zerrt Anatol mich weg. Er flüstert wütend: „Merkst Du nicht, dass der Kerl es auf Dich abgesehen hat? Mit derlei Typen ist nicht zu spaßen!“

Verzweifelt konsultiere ich mein iPhone nach weiteren Bars und Nachtclubs. Wir können unmöglich all diese Örtlichkeiten nach Elie durchkämmen! Da hat Anatol eine Idee: Fridolin arbeite nachts in einem Club als Kellner. Den sollten wir sofort aufsuchen und fragen, ob er über seine Verbindungen Elie lokalisieren könne.

Kurze Zeit später betreten wir das berühmte „Le Trou „. Interessanterweise scheint Anatol hier nicht unbekannt zu sein – ich nehme mir vor, ihn danach später genauer zu befragen – zumindest werden wir sofort eingelassen und sehr zuvorkommend behandelt. Augenblicklich sitzen wir an einem Tisch – zwei Cocktails, deren Genuß ich Anatol sofort verbiete, vor uns. Der Servierer teilt uns mit, Fridolin sei gerade in der Pause, er werde ihn aber rufen.

Die Cocktails duften verführerisch, aber gefährlich hochprozentig. Ich lasse sie zurückgehen und bestelle Anatol einen Apfelsaft und mir ein alkoholfreies Bier. Wir müssen einen klaren Kopf bewahren.

Da setzt sich Fridolin auch schon an unseren Tisch. „Was für ein seltenes Vergnügen, Euch hier zu sehen!“ Fridolin freut sich sichtlich, zwei bekannte Gesichter begrüßen zu können. „Ihr könnt die Cocktails auch ohne Alkohol bekommen – ich bestelle sie Euch sofort. Ihr seid natürlich eingeladen – noch dazu an Deinem Geburtstag!“ Fridolin macht dem Kellner ein Zeichen.

„Fridolin, wir sind nicht zum Feiern da. Elie ist getürmt, und wir vermuten, dass er sich in einem Nachtclub herumtreibt.“ Anatol sieht Fridolin besorgt an.

Fridolin versteht sofort. „Es gibt da eine oder zwei Personen, die ich kontaktieren könnte. Allerdings nicht offiziell. Namen kann ich keine nennen. Vielleicht finden wir so etwas heraus … ja könnte klappen. Komme gleich wieder. Ihr trinkt jetzt Eure Cocktails – so etwas Verkrampftes wie Euch beide habe ich hier lange nicht bewirtet. Nein, keine Angst: kein Alkohol, keine Drogen.“

Er verschwindet hinter dem Tresen und flüstert dem zweiten Kellner etwas zu. Dieser nimmt den Hörer eines altertümlichen, fest an der Wand installierten Telephons mit Wählscheibe ab und wählt eine Nummer. Dann spricht er eindringlich in den Hörer. Was er sagt, hören wir nicht. Anatol leert seinen alkoholfreien Cocktail in einem Zug – ich lasse mir etwas mehr Zeit. Unter anderen Umständen hätte ich den Cocktail genossen. Heute Nacht überwiegt die Angst um Elie.

Leutselig kehrt Fridolin an unseren Tisch zurück. Er reibt sich die Hände: „Elie ist tatsächlich gesehen worden. Fragt mich bitte nicht nach meinen Quellen – die kann ich Euch nicht offenlegen. Elie muss versucht haben, zu verschiedenen Clubs Zutritt zu bekommen – im Aviateurs haben sie ihn nicht hereingelassen, im Seven ebenfalls nicht. Einen weiteren Kontakt ruft mein Kollege gerade an – allerdings hoffe ich, dass Elie dort nicht hingegangen ist.“

Der Schreck fährt mir in die Glieder. „Was wäre denn dabei so schlimm, an diesem „Lokal“…?“ frage ich besorgt.

„Es handelt sich um Die Schwarze Katze„, sagt Fridolin. „Das ist ein Club, in dem junge Leute wie Elie überhaupt nichts zu suchen haben – wenn Ihr versteht, was ich meine.“

Ich verstehe – und hoffe inständig, dass wir Elie in einem harmlosen Café bei einem Kakao oder meinetwegen auch einem alkoholfreien Cocktail auffinden mögen …

Fridolin wird nun ans Telephon gerufen. Er nimmt den Hörer, erstarrt kurz – und gestikuliert dann wild: offensichtlich wurde Elie gesichtet! Anatol und ich stürzen zu Fridolin ans Telephon.

Der Geschäftsführer der Schwarzen Katze ist am Apparat: vor etwa 10 Minuten sei ein mit einem dunklen Kapuzenschal bekleideter beigefarbener Plüschdinosaurier am Eingang erschienen, habe ein dem Türsteher gänzlich unbekanntes „Passwort“ geflüstert und um Einlass gebeten. Da dem Türsteher die Angelegenheit nicht geheuer gewesen sei, habe er das Stofftier nicht hereinlassen wollen. Da dieses aber auf Zutritt bestanden habe, habe sich der Aufpasser den Dinosaurier kurzerhand geschnappt und ihn in den Gewahrsam der Barkeeperin gegeben – um genauer zu sein, in deren Kanarienvogelkäfig gesperrt. Darin sitze er auch jetzt noch und könne abgeholt werden.

Anatol und ich umarmen Fridolin – unser Dank lässt sich nicht in Worte fassen. Im Handumdrehen sitze ich auf dem Fahrrad, Anatol in meiner Tasche, und fliege förmlich in Richtung „Schwarze Katze „.

Der dortige Türsteher ist freundlicher als seine Kollegen, die wir heute im Laufe der Nacht kennenlernen durften. Er führt uns an die Bar des in der Tat für Jugendliche nicht geeigneten Etablissements, wo ein altmodischer, gusseiserner Vogelkäfig von der Decke herabhängt – einen Stoffkanarienvogel und Elie mitsamt meinem Kapuzenschal beherbergend. Anatol wollte das unglaubliche Bild, das sich uns hier bot, photographieren – aber Photos sind in der Schwarzen Katze streng verboten.

Die Barkeeperin bietet uns sehr liebenswürdig einen Tisch an – auch Getränke stehen schon bereit. Ich will jedoch diesen – obwohl tatsächlich sehr gastfreundlichen – Ort schleunigst verlassen.

Es ist mittlerweile 3 Uhr morgens. Elie hat sich in meinen Kapuzenschal gekuschelt und war offenbar direkt nach seiner Arretierung in der Volière eingeschlafen. Von dem fröhlichen Treiben in der Schwarzen Katze hat er sichtlich nichts mitbekommen. Ich werde ihm morgen gehörig den Kopf waschen.

Auch ein ernstes Gespräch mit Mirko nehme ich mir vor.

Endlich sind wir zu Hause – Anatol schlummert nun auch in meiner Tasche.

Ich setze die Butler in ihr Nest und decke sie zu. Dann lege ich mich auf mein Bett und schlafe augenblicklich ein.

IMG_1928

52. Kapitel – Geburtstag mit Überraschungen

Nach einem etwas holprigen Start in meinen Geburtstag beginne ich, mich auf das heutige Programm zu freuen. Als erstes gehe ich zur Bäckerei und bestelle für Montag einen Himbeerkuchen, den ich meinen Freunden bei der Arbeit mitbringen möchte. Anatol backt zur Zeit nicht – er ist in sein Physikreferat vertieft und wird daran wohl auch die nächsten Tage arbeiten. Zum Glück ist auf meinen Bäcker an der Ecke Verlaß.

IMG_2249Bei der Akupunktur treffe ich Fridolin. Er gratuliert mir herzlich zum Geburtstag – anders als meine Butler hat er mich nicht vergessen! Fridolin bemüht sich, professionell und gutgelaunt wie immer aufzutreten. Dennoch bemerke ich, dass ihn etwas bedrückt. Leider bleibt bis zu meinem Termin nicht ausreichend Zeit, um nachzufragen – auch sind andere Patienten anwesend, und ich möchte Fridolin in dieser Umgebung nicht mit möglicherweise privaten Dingen belästigen. Ich nehme mir aber vor, Anatol heute abend zu bitten, sich um Fridolin zu kümmern – wenn sein leidiges Referat endlich abgeschlossen ist.

Nach der Akupunktur bekomme ich einen Geburtstagstee bei einer lieben Freundin, und dann gibt es Spaghetti a l´arrabiata – meine Lieblingsnudeln.

IMG_2258Das Highlight des Tage steht mir jedoch noch bevor: der Geburtstagsnachmittag bei meiner besten Freundin. Hier werde ich mit Kuchen, Erdbeeren und Schlagsahne verwöhnt – und bekomme eine herrlich rosa-weiss blühende Phalaenopsis geschenkt.

Der Nachmittag vergeht viel zu schnell – nach einem Spaziergang ist es 18 Uhr 30 und ich muss schleunigst nach Hause zurück, mich um die Katzen kümmern. So wie es aussieht, werden meine Saurier wohl nichts weiter erledigt haben. Die sich anbahnende unumgängliche Aussprache gedenke ich, morgen zu führen – heute will ich nichts Unangenehmes mehr in Angriff nehmen.

Um 19 Uhr betrete ich die Wohnung. Wie ich schon erwartet habe, ist nichts aufgeräumt. Die Küche präsentiert sich so, wie sie auch heute nachmittag schon ausgesehen hatte. Immerhin ist Marmelade gekauft worden – ansonsten ist im Haushalt überhaupt nichts geschehen.IMG_2251

Als ich die beiden Übeltäter zur Rede stellen will, bemerke ich, dass weder Elie noch Anatol zu Hause sind. Am Kühlschrank klebt ein Zettel:

„Bin bei Edouard, das Referat besprechen. Elie ist zu Mirko, einen Film gucken. Bin nicht vor 20 Uhr zurück. Anatol“

Diese Nonchalance geht mir nun doch zu weit. Kurzerhand rufe ich Anatol auf dem Handy an und beordere ihn unverzüglich nach Hause. Elie hat noch kein eigenes Handy. Also wähle ich die Nummer von Mirkos Eltern (zum Glück finde ich sie in den Schulunterlagen) – aber es geht dort niemand ans Telephon.

Ich beruhige mich, indem ich mir einrede, dass Mirkos Eltern Elie vermutlich gerade nach Hause bringen.

Es klingelt. „Das muss Elie sein“ denke ich – aber es ist Anatol, der allein die Treppe hochspringt – etwas bockig ob der Unterbrechung seines Abends bei Edouard. Wütend herrsche ich den Butler an: „Wo ist Elie? Wieso seid Ihr nicht schon längst zu Hause? Ihr wisst ganz genau, dass Ihr um 18 Uhr 30 nichts mehr draußen zu suchen habt – und nun ist es schon fast 20 Uhr!“

Anatol verteidigt sich. „Elie ist um drei zu Mirko gegangen – ich weiss nicht, warum er noch nicht wieder da ist! Die beiden wollten einen Film gucken und dann spielen gehen. Über das Referat habe ich die Zeit vollkommen vergessen.“ Anatol ist zerknirscht.

„Es ist schon gut,“ beruhige ich Anatol, da er sichtlich nichts falsch gemacht hat. „Ich war ja auch nicht zu Hause. Ich verstehe nur nicht, warum bei Mirko niemand ans Telephon geht – ich mache mir Sorgen!“

Anatol meint, vielleicht seien Elie und Mirko zu Anna gegangen? Anna wohne im selben Haus wie Mirko – möglicherweise seien sie dort zum Abendessen eingeladen worden?

Ich halte das für höchst unwahrscheinlich – schließlich ist Anna der Grund für Elies Liebeskummer – aber ich rufe dennoch Annas Eltern an. Diese sind ausgegangen: Anna ist am Telephon. „Nein, Elie und Mirko sind nicht hier. Mirkos Eltern sind heute Abend gar nicht da: sie sind bei der selben Feier eingeladen wie meine Eltern. Mirko ist vorhin zu seiner Großmutter gegangen – aber Elie ist nicht dabeigewesen, das habe ich gesehen.“

Ich bedanke mich bei Anna für die Auskunft. Meine Sorgen werden von Minute zu Minute größer.

„Anatol, Elie ist verschwunden. Er ist nicht bei Mirko, und bei Anna auch nicht. Gibt es etwas, was Du mir verschwiegen hast? Das solltest Du mir nun allerschnellstens sagen!“

Anatol beteuert, Elie habe ihm nur gesagt, er wolle zu Mirko – einen Film gucken. Da Elie sowieso fast jeden Nachmittag bei Mirko verbringe, habe er sich nichts dabei gedacht! Anatols Stimme zittert.

Mir kommt ein Verdacht. „Was wollten die beiden denn eigentlich für einen Film gucken, Anatol? Hat Elie Dir etwas gesagt?“

„So genau nicht … es war ein englischer Titel … den Regisseur kannte ich nicht – kann also nichts so Besonderes gewesen sein. Irgendwas mit „K“ … Kubus oder so.“

Mir schwindelt. „Kubrick …?“ frage ich – und hoffe, dass Anatol das verneint. Die Hoffnung wird enttäuscht. „Ja, das muss der Name gewesen sein. An den Titel des Films kann ich mich nicht mehr erinnern – irgendwas auf englisch; wenn ich es richtig verstanden habe, ging es um geschlossene Augen … für einen Film ja ein total blöder Titel!“

Ich muss mich setzen. Elie hat mit seinem außerordentlich frühreifen Freund Mirko „Eyes wide shut“ gesehen – um danach spurlos zu verschwinden.

„Anatol, wir müssen Elie sofort suchen gehen. Und ich glaube, ich weiss, wo wir suchen müssen.“ Anatol springt mit einem Satz in meine Tasche – ich werfe meine Jacke über und verlasse eilig das Haus.

Es ist kurz nach 23 Uhr. Mit etwas Glück können wir Elie abfangen, bevor die in Frage kommenden Etablissements ihre Pforten öffnen.

Ein nächtlicher Gewaltmarsch durch die einschlägigen Bars und Nachtclubs beginnt. Um seinen Liebeskummer zu betäuben, muss Elie in die Rolle des Bill Harford aus Eyes wide Shut geschlüpft sein.

Diese Rolle sollte er nicht zu lange spielen.

=> hier geht’s zur Fortsetzung!

51. Kapitel – Der 10. Mai

Heute ist mein Geburtstag! Schon ganz früh bin ich auf – an meinem Geburtstag habe ich immer sehr viel zu tun.

Eigentlich hatte ich mich auf ein schönes Frühstück mit den Butlern gefreut. Aber was muss ich sehen, als ich verschlafen in die Küche komme?

Nichts ist vorbereitet. Gar nichts. Die Katzen sind nicht gefüttert, die Klos nicht gemacht, der Boden nicht gewischt. Mein Geburtstagsfrühstück werde ich mir selbst zubereiten müssen.

Was ist los mit den Butlern?

Elie sitzt bekümmert im Nestchen. Er ist seit mehreren Tagen nicht ansprechbar. Anna, die verwegene Piratin von nebenan, geht mit Angelo, dem Rivalen aus Elies Klasse (zumindest vermutet Elie das) – und Elie versinkt im Liebeskummer.

Anatol sitzt schon seit 6 Uhr wieder an seiner Physik-Schulaufgabe. Er ist in Physik keine besondere Leuchte, aber der Ehrgeiz hat ihn gepackt. In einer Woche soll er ein wichtiges Referat halten, und unter den Zuhörern wird auch – ja wer wohl – Angelo sein. Anatol will sich auf keinen Fall blamieren und fürchtet nichts mehr als die bohrenden Nachfragen des Überfliegers.

Nachdem ich die Küche, den Flur und das Bad geputzt habe (die Katzen haben die Örtlichkeiten recht extensiv genutzt), setze ich mich auf die Trittleiter an der Küchenablage und will zumindest einen schönen Jasmintee und die leckeren Vollkornbrötchen von Dreher genießen… Und da sehe ich das gesamte Ausmaß der heutigen Morgenkatastrophe: die Marmelade ist alle. Nicht mal darum haben sich die Butler gekümmert!Nun gibt es also trockene Brötchen, und danach muss ich bügeln, bevor ich mich ins Getümmel des Samstagseinkaufs stürze.

Zurück bleiben ein geknickter Elie und der in seine Physik-Unterlagen vertiefte Anatol. Nicht einmal gratuliert haben sie mir.

Ich werde mit den Guten heute abend ein ernstes Wort reden müssen!

50. Kapitel – Frau Holle in der Waschmaschine

Letzte Woche hätte ich meine Butler am liebsten auf den Mond geschossen. Ich hatte Anatol morgens gebeten, sich um die Bettwäsche und die Bettdecken zu kümmern. Die Bettsachen brauchten eine ordentliche Wäsche, und das sollten die Butler an diesem Tag erledigen.

Ich muss zugeben, dass ich mich schon mittags darauf gefreut hatte, an diesem Abend in ein komplett frischgewaschenes und flauschig weich-getrocknetes Bett fallen zu können. Wir haben nämlich seit kurzem eine Waschmaschine, die auch trocknen kann – Anatol hat mich zu diesem Kauf genötigt. Jahrelang hatte ich mich gegen einen Trockner gewehrt. Warum Energie verschwenden, wenn die Wäsche auch ganz kostenlos und umweltfreundlich an der Luft trocknen kann?

Hier hatte Anatol Argumente vorgebracht. An regnerischen Tagen, wenn er die Wäsche nicht auf den Balkon stellen könne, sei es ihm ganz unmöglich, große Wäscheteile wie gerade die Bettsachen trocken zu bekommen. Tagelang stünden die Wäscheständer in der Wohnung – und die Katzen trieben ihr Schindluder mit der herunterhängenden Wäsche! Er sei dann hauptsächlich damit beschäftigt, die Katzen von der Wäsche fernzuhalten – und könne sich nicht um den restlichen Haushalt kümmern. Das habe er endgültig satt!

Zudem sei die Energiebilanz der heutigen Waschtrockner nicht mehr ganz so verheerend wie das früher der Fall gewesen sei. Auch könne man die Trockenfunktion sparsam und immer nur dann einsetzen, wenn Lufttrocknung nicht möglich sei. So würde man die Wäsche durchaus verantwortungs- und umweltbewusst trocknen.

Als die alte Waschmaschine endgültig ihren Geist aufgab, wurde der heißersehnte Waschtrockner angeschafft.

Dieser – so hatte Anatol mir versprochen – sollte nun an diesem großen Waschtag eingesetzt werden.

Als ich aus dem Haus ging, war Anatol schon damit beschäftigt, die Bettdecken abzuziehen und die Wäsche zu sortieren – Anatol ist sehr darauf bedacht, dass alles mit der richtigen Temperatur und nach Farben getrennt gewaschen wird. Nichts hasst er mehr als ungepflegte, verfärbte Wäsche.

Am Abend hatte ich ausnahmsweise schon etwas früher von der Arbeit gehen können. Ich freute mich auf einen schönen Abend mit den Butlern und den Katzen, der heute wegen der gewonnenen Zeit hoffentlich etwas entspannter würde ablaufen können als normalerweise.

Gerade stehe ich vor der Wohnungstür und will aufschließen – da dringen seltsame Geräusche aus der Wohnung! Ich vernehme ein metallisches Klappern und durcheinandersprechende, hallende Stimmen, die sich so anhören, als kämen sie aus einem riesigen Klangkörper. Schnell betrete ich die Wohnung, um nach dem Rechten zu sehen – und entdecke schockiert diese Szene:

IMG_2234

Was muss ich sehen:

Anatol auf einem Kopfkissenbezug, offensichtlich damit beschäftigt, die Füllung meines armen Kopfkissens aus der Waschmaschine in den Bezug zu schaufeln; Elie in der Waschmaschinentrommel, einen kleinen Handfeger in der Hand – Polyesterbällchen aus der Trommel fegend, und die winzige Mina, die weisse Polyesterfetzchen aus der Gummidichtung der Waschmaschinentrommel herausprokelt!

IMG_2231Ich bin entsetzt! Was war nur passiert? Elie nimmt kein Blatt vor den Mund: „Frau Holle hat vorhin versucht, sich in der Waschmaschine umzubringen. Wir konnten sie gerade noch retten und sammeln nun die Reste Deines Kopfkissens hier raus. Wir sind fast fertig!“

Mir stockt der Atem. „Anatol, was hat das zu bedeuten? Habt Ihr etwa mein wunderbares, einzigartiges, fast neues Kopfkissen geschreddert? Wie konnte das passieren!?“

Anatol antwortet recht zerknirscht. „Ich hatte die ganze Bettwäsche sortiert. Das Weisse mit dem Weissen, das Farbige zum Farbigen. Die bunte Bettwäsche habe ich mit dem Colorwaschpulver gewaschen. Sie ist sogar schon trocken. Aber die Bettdecken und das Kissen – die sind weiss. Sie müssen mit Vollwaschmittel gewaschen werden – bei 60°. Und da habe ich also den farbigen Bezug von dem Kopfkissen abgenommen, denn ich wollte das ganze Kissen mit Vollwaschpulver waschen. Am liebsten hätte ich es gekocht – das hätte es jedenfalls dringend nötig gehabt!“

Langsam aber sicher redet sich Anatol in Rage. „Man darf nur ganz stark geschleuderte Wäsche in den Trockner stecken. Sonst verbraucht er zuviel Energie! Du hast mir selbst gesagt, dass alles, was in den Trockner soll, vorher mit 1400 Umdrehungen zu schleudern ist! Wegen der Umwelt! Und daran habe ich mich nur gehalten. Dass Dein altes Kissen das nicht überleben würde, das kann ich ja nicht wissen! Es ist im Schleudergang von der Waschmaschine aufgerissen und zerfetzt worden. Die ganze Trommel war voll mit dem Zeug! Seit einer Stunde sind wir jetzt mit Mina dabei, die Waschmaschine wieder klarzukriegen von dieser Polyesterfüllung. Mina ist sogar hinter die Trommel gekrochen, um dort Polyesterbällchen zu entfernen! “ Vorwurfsvoll – ja geradezu kampflustig sieht mich der Butler an. In seinen Augen funkelt Wut.

Ich widerspreche: „Das Kissen ist nicht alt! Es ist sogar fast noch neu – Mama hat es mir erst 1992 geschenkt!“

Anatol schnaubt. „Dein Kissen ist 22 Jahre alt! Denk doch mal nach, wie alt Kissen normalerweise werden!“

Ich bin pikiert, aber auch etwas verzweifelt. Mehrfach schon habe ich versucht, das Kissen gegen ein neueres auszutauschen. Jedoch konnte ich auf keinem noch so teuren Kissen schlafen. Nackenschmerzen und Verspannungen trieben mich jedesmal zurück in die Arme meines guten alten Kissens von 1992.

IMG_2233Anatol weiss das. „Wir haben uns eine Notlösung überlegt. Eigentlich dachten wir, wir können die ganze Misere vor Dir verstecken. Ja, ich weiss, dass das nicht ok ist. Aber wir wollten Dir keine Sorgen bereiten.“

Mina habe die zündende Idee gehabt. Sie habe vorgeschlagen, das Innenleben des zerfetzten Kissens einfach in einen der Reissverschlußbezüge einzufüllen – ohne das aufgerissene Kisseninlet. So würde ich nicht einmal einen Unterschied bemerken. Von außen würde das Kissen so aussehen wie immer – frisch gewaschen und weich.

Ich gebe zu, dass es sich zumindest nicht schlecht anhöre – füge aber hinzu, dass das auf keinen Fall eine Dauerlösung sein könne. Wie wolle man schließlich den Kissenbezug wechseln, wenn sich darin Millionen von winzigen, losen Polyesterbällchen tummelten.

Ein neues Kopfkissen muss angeschafft werden, das ist unumgänglich.

Ich begebe mich also am Sonnabend früh zu Betten Leitermann in Kehl, und schildere die missliche Lage. Der freundliche Herr bescheinigt meinem Kopfkissen ein „biblisches Alter“ – und bezeichnet es als ein Wunder, dass es überhaupt so lange gehalten habe.

Leider hat er kein für meinen schwierigen Nacken geeignetes Kissen auf Lager. Allen neuartigen Kissen, die er mir mit der Begeisterung des Fachmanns zeigt, stehe ich mehr als misstrauisch gegenüber.

Mina, die mich begleitet, hat auch hier die rettende Idee. Sie schlägt vor, einfach nur einen weissen, dünnen Bezug mit Reissverschluss zu kaufen, diesen zum Kisseninlet umzufunktionieren und mit den Polyesterballresten meines alten Kissens zu befüllen.

Der zuvorkommende Herr von Betten Leitermann ist ob der unorthodoxen Methode schockiert, sucht mir aber doch den für diesen Zweck am besten geeigneten Bezug aus – einen herrlich glatten, feinen Baumwollsatin. Er schlägt mir sogar vor, noch zusätzliches Füllmaterial, was man dort in 100g Packungen erstehen kann, hinzuzufügen. Die fachmännische Beratung gefällt mir. Ich mag Betten Leitermann. Leider kann ich mir die wunderschönen Bettsachen, die es dort gibt, nicht leisten – zumal sowieso alles den Krallen der bepelzten Massenvernichtungswaffen zum Opfer fallen würde.

Den neuen Kissenbezug in der Tasche verlasse ich das schöne Geschäft. Mina und ich haben eine absolut minimalistische Lösung gefunden – ich bin stolz auf uns. Wir mussten nur einen Bezug kaufen, und nicht gleich ein ganz neues Kissen.

Nun muss ich nur noch eine Schlafprobe auf dem „neuen“ Kissen machen. Die wird mir nicht schwerfallen!