Seit Jahren, fast Jahrzehnten gehört er zu unserem Viertel: der stattliche schwarze Kater Paul. Ursprünglich von den Nachbarn schräg gegenüber angeschafft – sie leben schon lange nicht mehr hier – hat er nun seine Bleibe am Mehlspeicher unserer Bäckerei gefunden, den er seither sehr erfolgreich gegen Ungeziefer jeglicher Art verteidigt: Pauls Spezialität ist die Mäusejagd.
In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass Paul oft auf seiner Decke in der Sonne liegt. Er ist seltener in der Dämmerung auf Mäusefang zu sehen – dennoch bringt er immer noch eine beachtliche Anzahl Mäuse zu Strecke, wie mir die Bäckersfrau erzählt.
Der Bäcker hingegen findet, Paul sei faul geworden: er schlafe bald mehr als dass er jage. Er werde ihm daher die Decke wegnehmen – wenn er es weniger bequem habe, werde er schon öfter jagen gehen. Als ich lautstark protestiere, wiegelt der Bäcker ab: das sei selbstverständlich nur ein Scherz gewesen.
Ein paar Tage später ist die Decke indessen verschwunden.
Auf meine Anweisung hin legen Anatol und Elie unauffällig ein weiches Kissen neben den Speicher – in der Hoffnung, dass Paul es finden und auch nutzen werde. Ein Schälchen Katzenmilch lassen die beiden auch da, denn diese liebt der alte Kater.
Am Mittag kommen die Butler aufgewühlt nach Hause. „Paul soll weg!“ rufen sie mir entsetzt bereits auf der Treppe entgegen. „Die Bäckersfrau hat es gesagt, als wir eben dort Bonbons gekauft haben! Ihr Mann sei nicht umzustimmen. Paul sei ja auch gar nicht ihr Kater, eigentlich…“
Elie weint. „Können wir Paul nicht aufnehmen?“
Ich seufze und schüttle den Kopf. Die Katzendichte in unserer Wohnung hat jedes vernünftige Maß längst überschritten, und Auslauf in einem eigenen Garten können wir dem alten Paul auch nicht bieten.
Ich verspreche den Sauriern, gleich nach der Mittagspause zur Bäckerei zu gehen und alles zu versuchen, um Paul ein weiteres Leben im Viertel zu ermöglichen. Ein gutes Gefühl habe ich aber nicht.
Das Gespräch mit dem Bäcker gestaltet sich in der Tat unschön. Der sonst so zuvorkommende Händler macht mir unmissverständlich klar, dass es für Paul in seinem Mehlspeicher keine weitere Zukunft gebe.
„Ich brauche einen dynamischen Mäusefänger, keinen Schläfer von vorgestern!“ erklärt er unumwunden. Als ich bemerke, dass Paul – obwohl mindestens 15 Jahre alt – immer noch eine hohe Mäusefang-Quote aufweise, beendet der Bäcker das Gespräch mit einer kategorischen Handbewegung. „Die Entscheidung ist gefällt. Paul kommt auf den Reiterhof am Park. Dort bekommt er – so wollte es meine Frau – das Gnadenbrot und darf im Stroh bei den Pferden schlafen.“
Auf meinen fassungslosen Blick hin setzt der Bäcker nach, andernorts hätte man sich nicht so viel Sorgen um das weitere Wohl des Katers gemacht und ihn schlicht weggejagt. Ich verlasse wortlos die Bäckerei. Unser Brot werden wir in Zukunft nicht mehr hier kaufen.
Als ich in unsere Straße einbiege, sehe ich Paul – gut versteckt unter einem Busch – zusammengeringelt auf unserem Kissen liegen. Er ist alt geworden, etwas struppig sein Fell. Dennoch ist er immer noch ein großartiger Mäusefänger, und ein gern gesehener Bewohner des kleinen Stadtteils. Ohne ihn wird das Viertel ein anderes sein.
Seufzend steige ich die Treppe hoch in unseren vierten Stock. Zu Hause wähle ich als erstes die Nummer des Reiterhofs und bringe in Erfahrung, wie die hauseigenen Katzen dort untergebracht sind – und ob Paul dort überhaupt willkommen ist.
Die Antwort fällt überrascht positiv aus. Es gebe ein Katzenhaus am Reiterhof: die Katzen würden dort nicht nur gefüttert, sondern auch bei Bedarf vom Tierarzt versorgt. Natürlich würden sie nicht im Stroh bei den Pferden schlafen, sondern hätten ihre eigene Katzenunterkunft mit Bettchen und Decken. An Paul sei man sehr interessiert, da ein guter Mäusefänger im Reiterhof dringend benötigt werde. Das einzige, was man Paul nicht bieten könne, sei ein echtes Familienleben – aber das habe er offenbar bisher auch nicht gehabt…
Dass Paul in jedem Haus unseres Viertels sein Zuhause mit ausgiebigen Streicheleinheiten gehabt hatte, erzähle ich der jungen Dame vom Reiterhof nicht. Ich lege auf – wohlwissend, dass der Hof nicht die schlechteste Lösung für Paul ist. Dennoch macht es mich innerlich rasend, dass nach all den Jahren treuer und guter Dienste der alte Kater nun abgeschoben wird, anstatt seinen Lebensabend in Frieden in seinem Zuhause verbringen zu können.
Der Tag von Pauls Umsiedlung kommt schnell. Als hätte der alte Kater es geahnt, sitzt er an diesem Morgen stolz vor der Bäckerei – so als wolle er sich von jedem in Viertel verabschieden. Er steigt freiwillig in das Auto, das ihn zum Reiterhof bringt. Das Kissen, das wir Paul an den Speicher gelegt hatten, geben wir ihm für sein neues Zuhause mit.
Wir nehmen uns vor, Paul dort bald zu besuchen – und uns zu versichern, dass es ihm an nichts fehlt.
Bereits am selben Abend zieht Pauls Nachfolger in den Mehlspeicher ein. Ein junger, roter Kater – offenbar aus einem Vermehrerhaushalt. Nun gut, dafür kann das Tier, welches uns die Bäckerin als „Tino“ vorstellt, nichts.
Tino ist äußerst umtriebig, fängt aber außer einigen Nacktschnecken nichts.
Nachdem der Mehlvorrat im Speicher von Mäusen vernichtet und die Hygienebehörde mehrfach erschienen ist, wird die Bäckerei geschlossen.
An einem Sonntag rufe ich den Reiterhof an, um mich nach Kater Paul zu erkundigen. Ich habe, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte, nicht übers Herz gebracht, Paul zu besuchen. Das junge Mädchen sagt mir, Paul läge wie so oft auf seinem Kissen, draußen in der Sonne. Mäuse gebe es im Reiterhof keine mehr, seit Paul da sei. Ich lasse ihm Streicheleinheiten ausrichten und lege auf.
In der Woche darauf berichtet mir der freundliche Herr, der den Schreibwarenladen führt, Paul komme regelmäßig zu Besuch in unser Viertel – meist am frühen Abend, wenn ich noch bei der Arbeit sei. Deshalb hätte ich Paul wohl nicht gesehen. Er wechsle dann gern ein paar Worte mit Paul und streichle den alten Kater über das struppige Fell.
Aber wie früher sei es nicht mehr.