173. Kapitel – Wie viele Jahre Einsamkeit ?

Eine Chronik

I. Prélude

Das Jahr 2019 war in Trauer zu Ende gegangen. Freunde waren gestorben – Marc, den ich seit Kindertagen kenne, und Isabelle, unsere Strasbourger Freundin. Was es bedeutet, nun ohne sie weiter in die Zukunft zu gehen, und dass der Abschied für immer ist, wird uns erst nach und nach klar. Der Schlag war plötzlich und überraschend gekommen und hatte uns gänzlich unvorbereitet ereilt.

Meine erste Reaktion ist die übliche: das Schreckliche verdrängen und in Arbeit ertränken. Als ich eines Morgens beim Frühstück wie aus dem Nichts weinend zusammenbreche, ist klar, dass der Tod sich nicht verdrängen lässt.

2020 begrüßen wir zurückhaltend. Wenn das vorhergehende Jahr uns unsere Freunde nimmt – was würde das folgende tun? Ich verbringe die Feiertage im Büro. Elie und Anatol versuchen, zumindest ein wenig Neujahrsambiance aufrecht zu erhalten. Ein paar Wunderkerzen liegen noch im Keller.

Wann wir das erste Mal davon hören, weiss ich nicht mehr. Es muss in einer der ersten Januarwochen gewesen sein, denn ich erinnere mich daran, wie Anatol an einem frühen Samstag im Januar pfeifend auf den Markt geht

I had a little bird, its name was Enza …

Der schaurige Refrain gellt mir bis heute in den Ohren. Damals hoffe ich ich noch, dass das, was sich in China als durchaus ernstzunehmende Krankheit zu entwickeln schien, eben dies auch bleiben würde: eine schwere Grippe, von der die Menschen in China bald geheilt sein würden.

Anatol ist sich da weitaus weniger sicher. Mit zusammengebissenen Zähnen knurrt er Unverständliches, während er das Internet studiert. In China scheinen immer mehr Menschen krank zu werden – und zu sterben. Sorgenvoll sehen wir die Nachrichten im Fernsehen – zunächst noch eine Sorge, wie man sie für andere hat. Dann fragt Elie bang: „Wir können das nicht bekommen, oder?“ Ich schweige. Anatol vertieft sich in seine Lektüre. Heimlich suche ich das Internet nach Informationen ab, wenn die Dinos schlafen. Die Informationen sind entweder Entsetzen erweckend, oder aber von einlullender Beschwichtigung. Was ist richtig? Das Robert-Koch-Institut schreibt auf der Homepage nichts dazu – man muss die Informationen suchen, um dann zu lesen, dass in Deutschland kein Risiko besteht. Auf der Webseite der WHO finde ich gar nichts.

Wieso mich das nicht beruhigt, verstehe ich selbst nicht.

Ende Januar treten in Deutschland – bei Starnberg – Fälle der Krankheit auf. Die Erkrankten haben eine leichte Grippe und erholen sich. Uns fällt auf, dass alle Betroffenen in Quarantäne kommen, man verfolgt sogar einen Kranken bis in seinen Urlaub und holt ihn aus dem Ausland zurück. „Das macht man doch nicht wegen einem Schnupfen !?“ fragt Elie. „Wegen eines Schnupfens,“ korrigiert Anatol. „Nein, wegen eines Schnupfens tut man das nicht.“

Im Büro spreche ich die Sorgen an, die wir hegen. Man guckt mich mit großen Augen an. Niemand sieht ein Problem auf uns zukommen. Die Behörden haben alles im Griff, da braucht man sich nun wirklich keine Sorgen zu machen. Es geht um einen Schnupfen – medial aufgeplustert.

Teilweise schaffe ich es, mich davon zu überzeugen, dass die Leute recht haben. Die Grippe rafft jedes Jahr unzählige Opfer dahin. Das ist nichts anderes. Insgeheim weiss ich, dass es nicht stimmt. Aber was tun?

Wir können gar nichts tun.

Im Fernsehen sehen wir ein Ballett von Baggern, die innerhalb von Tagen zwei Notkrankenhäuser für mehrere tausend Patienten aus dem Boden stampfen, ein gruseliger Tanz… Ende Januar wird die gesamte Region in China unter Quarantäne gestellt. Für einen Schnupfen. Im Internet sieht man Videos der zu Hause eingesperrten Menschen, die sich Mut machen und gemeinsam singen.

„Sowas kann hier nicht passieren, nicht …?“ fragt Elie. Ich schweige wieder. Das Robert Koch Institut sieht keine Gefahrenlage für Deutschland, die WHO zeigt sich ob der Entwicklung in China besorgt.

Anfang Februar 2020 stirbt der junge Doktor Li im abgeriegelten Wuhan an der Krankheit. Er ist 33 Jahre alt. Wir wissen jetzt, dass es sich nicht um einen Schnupfen handelt.

Anatol ist der erste, der ausspricht, was uns klar ist. „Die WHO sagt es nicht, und das RKI auch nicht. Aber ich bin lange genug dabei, um eine Pandemie zu erkennen, wenn ich eine sehe. Dies ist eine. Und wenn kein Wunder geschieht, wird es hier in ein paar Wochen genau so aussehen wie in China. Wir müssen uns vorbereiten. Sofort.“

Wie bereitetet man sich auf eine Pandemie vor? Dazu gibt es auf Youtube kein Tutorial. Anatol und ich gehen nach der Liste des Bundesamts für Katastrophenschutz vor – eine sinnvolle Vorratshaltung soll man immer betreiben, warum also nicht jetzt. Wir stellen eine Liste dessen zusammen, was wir unbedingt brauchen, darunter Tonios Insulin und unsere diversen Medikamente. Unser Leitfaden ist: was passiert, wenn wir mehrere Wochen nicht rausgehen können oder wollen. Die Einkaufsliste ergibt sich fast von selbst.

Die Sorge, die Anatol und ich teilen, und die deutlich weiter geht als die Angst vor der Krankheit, ist die vor dem „danach“. Was passiert, wenn ein auf Hochtouren laufendes, gut geöltes globales Wirtschaftssystem ins Stocken gerät? Wenn die ineinandergreifenden Zahnrädchen des globalisierten Wirtschaftskreislaufs plötzlich wegbrechen – und die ganze, schon heute nicht perfekte Maschinerie zum Stillstand kommt? Ich versuche, diesen Gedanken nicht zuende zu denken. Dennoch ist uns klar, dass das, was da auf uns zukommt, möglicherweise deutlich schlimmer ist als eine böse Krankheit. Ein offenbar von einer Expertengruppe durchgespieltes Szenario titulierte nach Presseberichten diese Eventualität als „den Abgrund“. Näheres hatte die Presse nicht dazu gesagt; wir hätten in jedem Fall dankend auf weitere Informationen verzichtet.

Als Anatol und ich nun Mitte Februar mit unserer Vorratsliste einkaufen fahren, befürchten wir einen riesigen Ansturm. Das Gegenteil ist der Fall. Niemand scheint sich um Vorräte zu kümmern, alles geht seinen gewohnten Gang. Wir kaufen zur Sicherheit diesmal zwei Pakete Klopapier. Man weiss nie. Masken kaufen wir absichtlich keine. Wir wissen, dass es davon für Ärzte, Schwestern und Pfleger zu wenig gibt. Mir reicht ein Schal, und die Dinos haben für den Fall des Falles ihre Tücher.

Am einem Sonntag im Februar besuche ich meine Freundin Mariette. Als ich in die Wohnung komme, begrüßt mich Katze Miesele – Mariette ist vor dem Fernseher eingedöst. Sie freut sich, mich zu sehen und möchte dann ihre Sendung doch weitergucken. Ich bleibe nicht lang und überlasse Mariette dem Vorabendprogramm – ich komme ja bald wieder. Mariette sagt wie immer „Au revoir – si Dieu le veut!„. Er will nicht. Es wird unser letztes Treffen sein.

Die für Ende Februar geplante Dienstreise nach Berlin sage ich ab. Den Kollegen teile ich mit, es sei etwas dazwischen gekommen. Alle anderen fahren selbstverständlich. Ich komme mir im Nachhinein übervorsichtig vor.

Ein längeres Gespräch mit meiner Schwester lässt uns an unserem Verstand zweifeln. Meine Schwester ist fachlich hochkompetent. Sie erklärt uns ganz sachlich, dass jede Grippewelle schlimmer sei als die jetzige Krankheit. Und dass uns die mediale Begleitung offenbar gar nicht gut tue – wir seien im Bias. Sicher hat sie Recht. Sind Anatol und ich hysterisch? Elie kräht fröhlich „Und wenn schon! Ich esse jetzt die Schokobrownies aus dem Notvorrat! Ist doch gut, dass Ihr die gekauft habt.“

Es stimmt. Außer, dass wir jetzt eine Weile nicht einkaufen müssen, ist nichts passiert durch unsere Bevorratung. Doch – wir haben uns uns selbst gegenüber ein wenig lächerlich gemacht. Aber davon stirbt keiner.

Am nächsten Tag werden in Oberitalien mehrere Städte abgeriegelt, dann steht die gesamte Region unter Quarantäne – den Bewohnern wird eine sogenannte Ausgangssperre auferlegt. „Das ist doch illegal!“ wettert eine Freundin am Telephon. „Das dürfen die gar nicht!“

Wir sehen Videos aus italienischen Krankenhäusern, die in unserem so hochentwickelten Europa niemand je gesehen hat. Jedenfalls bei keiner Grippewelle, die ich bisher erlebt habe.

Für den 5. März ist eine weitere Dienstreise geplant, diesmal zu einer Konferenz nach Wien. Reisen ist ganz normal möglich – allerdings sperrt Österreich plötzlich den Brenner für mehrere Züge. Hotels werden unter Quarantäne gestellt – weil Krankheitsfälle auftreten. Meine Dienstreise wird dennoch ohne Murren aufrechterhalten. Ich gebe zu bedenken, dass dies im Falle des Falles bedeuten würde, dass meine „Reise“ sich ggf. um mehrere Wochen verlängert, wenn ich überhaupt dann noch zurückreisen kann. Man sieht mich verständnislos an – wie ich denn auf so etwas komme? Schließlich wird die gesamte Konferenz auf mein Anraten bis auf weiteres abgesagt.

Das Robert Koch Institut sieht weiterhin eine geringgradige Gefährdung, die es in den darauffolgende Tagen auf eine mäßige Gefährdung hochstuft.

Südlich von Strasbourg, in Mulhouse, treten nun gehäuft Fälle der Krankheit auf. Ein Lehrer stirbt daran. Das Robert Koch Institut stuft das gesamte Elsaß jetzt als Hochrisikogebiet ein. Zwei Tage vorher war meine geplante Dienstreise nach Wien noch Normalität. Plötzlich stehen Grenzschließungen im Raum.

Kollegen wehren sich gegen die so empfundene „Krankheitshysterie“ und bestehen auf der traditionellen „Bise“. Am 7. März treffe ich einen Freund zum Mittagessen in der Stadt – der Freund ist fiebrig und hustet ohne Unterlass.

In der Firma kommen Überlegungen zu etwas mehr Homeoffice auf. Ich sorge mich um meine Mitarbeiter. Habe ich mich bei dem Freund angesteckt und gebe das an mein Team weiter? Soll ich mich selbst isolieren? Mir geht es gut.

Am 9. März höre ich den Podcast von Christian Drosten. Er rät eindringlich dazu, Mitarbeiter mit Vorerkrankungen oder Risikofaktoren nur noch im Homeoffice arbeiten zu lassen. Ich denke an zwei Kollegen aus meinem Team und bekomme eine Panikattacke. Tags darauf veranlasse ich, dass alle gesundheitlich Gefährdeten des Teams mit sofortiger Wirkung ins Homeoffice gehen. Die Firma findet das „erstaunlich“, hat aber grundsätzlich nichts dagegen.

Einen weiteren Tag später bin ich krank. Es ist nicht schlimmer als eine böse Erkältung – man rät mir, zur Arbeit zu kommen, dort aber auf Abstand zu den Kollegen zu bleiben. Tests sind in Frankreich nirgends verfügbar, ebensowenig wie Masken.

Ich rufe meinen Freund an, der am Samstag davor so krank war. Er ist nicht erreichbar. Ich versuche es mehrmals, aber er ist nicht in seinem Atelier. Schließlich erreiche ich ihn zu Hause. Er kann kaum sprechen und ist schwer krank. Der Arzt weiss nicht, was er hat. Eine andere Freundin ist ebenfalls sehr krank. Ich versuche, zu arbeiten.

Am darauffolgenden Tag, es ist der 12. März, heisst es, man solle sich aufs Homeoffice vorbereiten. Meine Mitarbeiter sind in heller Aufregung – wie solle das gehen? Und wie lang? Es wird gemunkelt, das Homeoffice könne bis zu einer Woche dauern. Das sei ganz undenkbar!

Am Freitag, den 13. März wird das Arbeiten im Homeoffice für alle Mitarbeiter zur Norm erklärt, und zwar bis auf weiteres, mindestens aber für die nächsten 6 Wochen. Für meine Mitarbeiter ist es ein Schock. Ich lasse eine Messengergruppe einrichten, in der wir alle jederzeit kommunizieren können, wenn gewünscht. Ich bin sowieso ständig erreichbar. Aus dem Büro nehme ich meine Tintenfässer mit. Ich weiss, dass ich sie zu Hause brauchen werde.

Mein engster Mitarbeiter, den ich schon Anfang der Woche ins Homeoffice geschickt hatte, ist nun auch krank. Vor Sorge weiss ich nicht mehr aus noch ein. Was wird aus meinem Team? Habe ich meine eigenen Mitarbeiter angesteckt? Was, wenn… das könnte ich mir nie verzeihen. Anatol und Elie versuchen, mich mit Späßen abzulenken, aber es gelingt nicht.

Meine deutsche Mitarbeiterin und den Referendar schicke ich nach Hause nach Deutschland. Homeoffice kann man von überall aus erledigen. Noch sind die Grenzen offen – aber wie lange?

Am Sonntag, den 15. März sind Kommunalwahlen in Frankreich. Ich kenne kaum jemanden, der hingeht.

Die Angst ist nun angekommen. Menschenmassen stürmen die Geschäfte und Supermärkte, die DM-Läden in Kehl werden vollkommen überrollt. Die Menschen kaufen kopflos alles, was sie finden – und das ist vor allem Klopapier. „10-15 Pakete auf einmal, und dann kloppen sie sich noch um ein weiteres!“ stöhnt Anatol. „Dies spinnen doch…“ Ich schiele auf unsere zwei Pakete. Hätten wir doch mehr kaufen sollen…?

Montag der 16. März ist unser erster Tag im Homeoffice – hier télétravail genannt. Ich rufe alle meine Mitarbeiter reihum an – die Organisation ist gewöhnungsbedürftig. Alle sind pünktlich am Platz. Niemand lässt sich hängen. Ich bin stolz auf mein Team. Aber mein Kollege ist immer noch schwer krank, und es wird nicht besser.

Am Dienstag, den 17. März verkündet der französische Präsident den kompletten Lockdown von ganz Frankreich.

Die Krankheit ist da.

II. Confinement

Der erste Tag des Confinements, der über ganz Frankreich verhängten Ausgangssperre, ist ein wundervoller sonniger Märztag. Ich beginne ihn damit, meine Computerinstallation, die ich des Nachts vor den Katzen in Sicherheit bringen muss, wieder aufzubauen. Mein viel zu kleines 13er MacBook habe ich über das von unserem Referendar irgendwoher organisierte Verbindungskabel an meinen Fernseher angeschlossen und kann über den großen Bildschirm deutlich besser in meine Mails gucken.

Seit langer Zeit gelingt es mir erstmals wieder, ein ganzes Arbeitsdokument an einem Stück zu lesen – und somit zu verstehen – ohne alle 3 Minuten von jemandem unterbrochen zu werden. Das Homeoffice hat definitiv nicht nur schlechte Seiten.

Bang rufe ich nacheinander alle meine Mitarbeiter an. Wenn jemand nicht gleich ans Telephon geht, steigt Panik in mir hoch. Ich selbst bin immer noch krank, Tendenz: es wird schlimmer.

Die Ausgangssperre ist keine totale Quarantäne. Für drei wichtige – lebenswichtige – Bedürfnisse darf man das Haus verlassen: absolut unerlässliche Arztbesuche, Einkäufe von lebensnotwendigen Dingen und zur „körperlichen Ertüchtigung“. Letzteres heisst: man darf eine Stunde pro Tag spazierengehen/joggen, aber nur allein und nur in unmittelbarer Nähe der eigenen Wohnung.

Die Stadt ist so ruhig wie noch nie. Meine sowieso schon sehr verlassene Straße ist totenstill. Wir hoffen, dass sie nur still ist.

Am Mittag des ersten Tages des Confinements öffnet Anatol eine unserer Dosen mit vegetarischem Chili. Wir sehen uns wortlos an. Dies haben wir kommen sehen – seit dem Lockdown in Wuhan im Januar. Dass wir damit recht behalten haben, freut uns nicht eine Sekunde.

Die Dinos finden das Chili unglaublich lecker – ich selbst finde, dass es nur nach Pappe schmeckt. Ich habe rasende Kopfschmerzen und fühle mich unsagbar schlecht. Zum Arzt will ich nicht gehen. Was, wenn ich mich dort mit der Krankheit anstecke? Was, wenn ich die Krankheit schon habe, und meinen Arzt anstecke?

Im Elsaß sind die Krankenhäuser nah am Zusammenbruch. Neue Patienten können nicht mehr versorgt werden, sie werden nach Luxembourg, Deutschland und in die Schweiz ausgeflogen. TGV-Züge transportieren Schwerstkranke in Kliniken, die noch Kapazitäten haben. Die Armee baut ein Feldlazarett bei Mulhouse auf, um weitere Patienten zu versorgen. Es wird gemunkelt, Menschen über 80 würden gar nicht mehr behandelt. Wir wollen so etwas nicht glauben.

Ich warte noch einen Tag ab, dann geht es mir so schlecht, dass ich doch zum Arzt fahre.

Mein Hausarzt, der bisher – wiewohl selbst Chinese – von der „ganzen Krankheitsgeschichte“ aus China nicht viel wissen wollte und die Sache für aufgebauscht hielt, empfängt mich in voller Schutzmontur. Kittel, Maske, Desinfektionsgel – er nennt es Weihwasser und verwendet es für alles, womit er mich berührt. Ich bin froh, dass er für mich Zeit hat. Er attestiert mir eine gemeine Nasennebenhöhlenentzündung, verschreibt Antibiotika und entlässt mich zurück ins Homeoffice. Ursache meiner Beschwerden sei vermutlich ein schnöder grippaler Infekt. Nichts Ungewöhnliches!

Meine junge Mitarbeiterin ruft mich an. Sie hustet und bekommt keine Luft. Ich erschrecke in einem noch nie dagewesenen Maße. Ein Test kann nicht gemacht werden – wozu auch – denn es gibt keine Tests. Meine Mitarbeiterin soll sich zu Hause ausruhen, und den Arzt anrufen, falls es schlimmer wird. Mehr kann nicht getan werden.

Von anderen Kollegen heisst es, sie haben die Krankheit und befänden sich im Krankenhaus. Wie schlimm es ist, weiss niemand.

Mariette, die alte Dame, ist gestürzt. Sie hat Schmerzen und wird vom Hausarzt ins Krankenhaus überwiesen. Die Sanitäter, die sie in die Klinik bringen sollen, attackiert sie mit ihrem Stock. Sie will nicht ins Krankenhaus. Ich selbst liege mit Fieber und starken Kopfschmerzen darnieder und kann nicht helfen.

Ich schaffe es nur, Katze Miesele, die allein in der Wohnung zurückgeblieben ist, vor der weiteren Verschärfung des Lockdowns, die wenige Tage später ausgerufen wird, mit dem Fahrrad zu einem Freund zu bringen. Miesele will nicht weg aus ihrer Wohnung. Ich bin sicher, dass sie bald zurück darf – wenn Mariette wieder da ist.

Im Krankenhaus wird Mariette zunächst attestiert, dass sie bei ihrem Sturz nichts gebrochen habe. Das zeige das Röntgenbild. Sie bleibt dennoch zur Beobachtung dort. Am nächsten Tag heisst es, ihre Hüfte sei gebrochen, zudem habe sie die Krankheit. Ein Besuch ist nicht möglich. Ich kann im Krankenhaus auch niemanden anrufen. Die Isolierstation, auf der Mariette untergebracht wird, ist vollkommen überlastet.

Alles, was wir noch hören, ist, dass Mariette mit niemandem mehr kommunizieren will.

Am 22. März kommt der Anruf. Mariette ist am Sonntagnachmittag an der Krankheit gestorben. Sie hat nie mehr einen bekannten Menschen gesehen. Es wird sie auch nach ihrem Tod niemand mehr sehen oder Abschied nehmen. Wie so viele Menschen ist Mariette allein gestorben und dann ebenso eingeäschert worden. Ein Beisetzung hat es bis heute nicht gegeben.

Das Einzige, was ich noch für Mariette habe tun können, ist es, eine neue Familie für ihr Miesele zu finden.