162. Kapitel – Fahrradtour im Achertal

Unsere wunderschöne Fahrradtour im Murgtal letzte Woche war viel zu schnell vorübergegangen. Im Nu war der Tag dahingeflogen. Anatol hatte daher vorgeschlagen, nicht bis zum nächsten Jahr zu warten, sondern noch in diesem Sommer zu einer weiteren Tour aufzubrechen. Dem war nichts entgegenzusetzen – und so hatten wir einen zweiten Fahrradausflug geplant und vorbereitet.

Schon am Vorabend der Radtour hatte Anatol auf der gepackten Fahrradtasche gesessen und wäre am liebsten in der Nacht schon losgefahren. Irgendwann war der Saurier jedoch völlig übermüdet wie ein reifer Apfel vom Baum von seinem Taschensitz heruntergefallen – ich hatte ihn in sein Nestchen setzen und selbst auch endlich schlafen gehen können.

Früh klingelt der Wecker. Der Morgen unserer Achertal-Tour ist gekommen! Schon um 5 Uhr 20 sind Anatol und ich auf, um den Zug in Kehl rechtzeitig zu erreichen. Heute geht es sehr frühzeitig los, um auch nicht eine Minute des großen Tages zu verpassen.

Um kurz nach 8 sind wir Kehl, wenig später in Appenweier. Dass wir noch sehr müde sind, sieht man uns an.

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Als wir in Achern mit unserer Freundin T. zusammentreffen, verkriecht sich Anatol in den Rucksack und schläft augenblicklich ein. Er schafft es noch, zu murmeln „Weckt mich auf, wenn es was zu Sehen gibt!“, dann druselt er ein. Dem Saurier fehlen mindestens 5 Stunden Schlaf.

Da seit dem Frühstück mehrere Stunden verstrichen sind, kehren wir als erstes in einem Café ein und nehmen Laugencroissant und Kaffee zu uns. Eine große Tour kann man nur gestärkt antreten!

Danach brechen wir auf – in Richtung Sasbach/Ottersweier/Sasbachwalden. Der Saurier ist unterdessen erwacht und studiert die Fahrradkarte. Er meldet Zweifel an, ob wir es denn bis nach Sasbachwalden schaffen könnten. Dennoch fahren wir fröhlich pfeifend los – der Weg ist das Ziel!

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Unser erster Stopp ist der Querfeldein-Hofladen in Ottersweier. Hier ersteht Anatol eine Erdbeer-Stachelbeer-Marmelade und mehrere milde Chilis. Diese bekommt der Saurier sonst nur schwer.

Die freundliche Dame vom Querfeldein-Hof sieht es als ausgeschlossen an, dass wir es bis Sasbachwalden schaffen. „Jesses, des is glei bei de Hornisgrinde!“ ruft sie entsetzt aus. „Do gehts steil hoch!“ Sie schüttelt den Kopf, als sie in unsere jetzt schon hochroten Gesichter blickt.

Wir entscheiden, dass wir heute keine sportlichen Höchstleistungen bringen müssen und disponieren kurzerhand um. Der Verlauf der Tour wird leicht korrigiert und soll nun  über Oberachern bis nach Kappelrodeck führen, wo wir das weltberühmte Café Zuckerbergschloss ansteuern wollen.

„Fahren Sie am Kloster Erlenbad vorbei!“ ruft uns die Dame vom Querfeldein-Hof nach. „Das können Sie nicht verfehlen!“

Nach mehreren unangenehmen Steigungen, die wir aber problemlos meistern, fahren wir durch Obsthaine und Streuobstwiesen. Wie aus dem Nichts kommt eine schlanke, ganz nackte Katze auf uns zu. Eine Art Sphynx – was tut sie hier? Bevor ich noch herausfinden kann, ob das Tier sich wohl inmitten der Natur verlaufen hat, ist die grazile Gestalt schon wieder im tiefen Gras verschwunden. Meine Rufe verhallen ungehört. Das Tier scheint zumindest von uns keine Hilfe zu erwarten. Vermutlich genießt es gerade nur den Freigang in den Streuobstwiesen.

Wir fahren weiter. Bald ist es 13 Uhr – und Zeit für unser Picknick!

Nun erreichen wir Kloster Erlenbad. Hier bietet sich ein wunderbares Picknick-Plätzchen im Schatten, welches der Saurier sofort für uns reklamiert. „Hier bleiben wir!“ befiehlt er. Jede Widerrede verbietet sich.

Während wir entkräftet und müde auf der Bank sitzen und unsere schmerzenden Glieder strecken, packt der Saurier das Picknick aus und tischt wahre Köstlichkeiten auf.

Hungrig stürzen wir uns auf die Leckereien. Der Saurier sorgt dafür, dass alles gut erreichbar ist und wir ohne große Verrenkungen ganz bequem an die Delikatessen kommen. Fast könnte man unseren Picknickplatz als das Schlaraffenland bezeichnen!

Ein hässliches „Plopp“ reisst uns aus der bukolischen Stimmung. Die Käsedose mitsamt Inhalt ist dem Saurier bei einer ungeschickten Bewegung – natürlich mit der falschen Seite – in den Schotter unter der Parkbank gefallen. Der von Laub, kleinen Kieselsteinen und Erde überzogene Käse sieht nun nicht mehr ganz so appetitlich aus wie vorher. Anatol steigen Tränen in die Augen.

Bevor der Saurier in Verzweiflungsgeheul ausbrechen kann, klaube ich den Käse vom Boden auf und schaffe es, bevor er mir zwischen den Fingern zerfließt, ihn vom Schotter und Laub zu befreien. Den notdürftig gereinigten Rest kann ich in die Dose zurückbefördern.

In Windeseile findet sich eine Armee von Ameisen ein, die auf dem Waldboden verbliebenen Brotkrümel und Käsereste unter Aufbietung aller Kräfte in ihren Ameisenbau transportieren.

Als wir eine Stunde später aufbrechen, sind wir gestärkt und ausgeruht.

Immer weiter in den Wald führt uns unser Weg. Bald ist der Wald so dicht, dass wir kaum noch den Pfad vor uns sehen. Wurzeln und Dickicht überdecken den Weg.

Als wir unschlüssig unsere Karte studieren, kommen zwei Wanderer mit ihrem Hund auf uns zu. Als wir sie nach dem Weg nach Kappelrodeck fragen, schütteln sie den Kopf. „Dahin kommen Sie auf diesem Weg auf keinen Fall.“

Nach kurzer Beratung schlagen uns die freundlichen Wanderer vor, uns durch den Wald zu führen, um dann auf den Waldweg nach Kappelrodeck zu gelangen.

Der Weg durch den Wald ist kühl und schattig. Der Tannenduft ist köstlich. Etwa eine Viertelstunde durchwandern wir den dichten Wald. Dann können wir bergab rollen – gen Kappelrodeck!

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Nach einer anstrengenden Strecke unter der gleißenden Sonne erreichen wir schließlich Kappelrodeck.

Nun gibt es für uns nur noch ein Ziel: das Café Zuckerbergschloß! Dort kommen wir nach einer letzten Steigung, die wir schiebend bewältigen, an.

Fast erscheint es uns, als hätten wir das Paradies erreicht.

Erschöpft lassen wir uns auf der herrlich schattigen Terrasse an einem Tisch nieder. Anatol will ein Eis – am liebsten einen Rieseneisbecher! Ich bestelle einen Erdbeerbecher: Vanilleeis mit Erdbeeren. Dieser erscheint mir eher zu bewältigen als ein Rieseneisbecher.

Ein Herr mittleren Alters sitzt allein an einem anderen Tisch und scheint – von unserer Freundin unbemerkt – nur Augen für uns zu haben. Unbeirrbar fixiert und – so scheint es mir – taxiert er uns.

„Was will der Kerl !?“ zetert Anatol, dem der vermeintliche Lüstling nicht entgangen ist. „Ruhe jetzt !“ schimpfe ich den Saurier an. Satyr oder nicht – ich will uns nicht noch dem Gelächter der anderen Gäste aussetzen, sollte der Butler in einem Anfall falsch verstandener Ritterlichkeit den Wüstling in seine Schranken verweisen wollen.

In diesem Moment wird unser Eisbecher serviert. Nun gibt es bei Anatol kein Halten mehr – er springt mit einem Satz aus dem Rucksack heraus und brüllt: „Das ist meiner!“

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Das konsternierte Aufstöhnen des Glotzers ist bis an unseren Tisch zu vernehmen. Der mutmaßliche Lüstling hat offenbar schlagartig verstanden, dass sein Ansinnen hoffnungslos ist. Er wirft etwas Kleingeld auf den Tisch, steht auf und geht.

Schmatzend feixt der Saurier: „Den wären wir los!“

Erleichtert lehne ich mich in meinen Sessel zurück. Ganz unbehelligt können wir nun Eis und Kuchen genießen!

Zwei Stunden verbringen wir auf der schattigen Terrasse, plaudernd beim Plätschern des Springbrunnens und dem Rauschen des uns umgebenden Waldes.

Als wir aufbrechen, nehmen wir uns fest vor, wiederzukommen.

Den Weg bis Achern legen wir ohne Schwierigkeiten zurück. Müde und glücklich erreichen wir den Bahnhof von Achern, wo zuerst T. auf mein Anraten in unseren Zug einsteigt, was glücklicherweise noch rechtzeitig bemerkt wird. Nachdem Anatol und ich im richtigen Zug sind und nicht T. im falschen, beginnt die Rückfahrt.

Bei unserer Ankunft in Kehl ist es schon fast dunkel.

Um 21 Uhr sind wir zu Hause.

Sicher werden wir schon bald wieder zu einer Tour aufbrechen. Der Herbst bietet bestimmt noch schöne Fahrrad-Tage!

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159. Kapitel – Die Tour de Murg

Was vorher geschah, findet Ihr hier !

Als ich am Bahnhof in Kehl ankomme, ist es kurz nach 9. Ich kaufe unser Baden-Württemberg-Ticket, mit welchem Fahrrad, Dinosaurier und ich innerhalb des Ortenaukreises den ganzen Tag mit der Bahn fahren dürfen. Dann setze ich mich ins Bahnhofs-Café und würde am liebsten einschlafen.

Nun rumort es im Rucksack. Der Saurier erwacht – und will sofort einen Espresso. Diesen bekommt er. Immerhin kann ich so das zu erwartende Genörgel im Keim ersticken.

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Ich trinke indessen einen Ristretto mit viel Zucker. Mit etwas Glück verhilft mir das zu neuen Kräften. Allerdings bin ich wirklich sehr müde. Ich wäre am Vorabend besser beizeiten ins Bett gegangen!

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Wir steigen in den Zug nach Offenburg und ergattern sogar eine Art Sitzplatz. Ab Offenburg ist es noch komfortabler. Das Rad steht im Fahrradabteil, Anatol und ich können ganz bequem auf richtigen Sesseln sitzen. Hier schaffe ich es, ein paarmal die Augen zu schließen. Der Saurier überwacht währenddessen die Strecke.

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Eine Durchsage unterbricht mein Dösen. „Reisende nach Freudenstadt, bitte verlassen Sie den letzten Waggon. Ich wiederhole: bitte verlassen Sie den letzten Waggon. Dieser wird abgekoppelt und fährt weiter nach Hornberg“.

Ich stöhne. Wir müssen unseren wunderbaren Sitzplatz verlassen und in den jetzt schon überfüllten Wagen vor uns einsteigen – besser: versuchen einzusteigen, denn ob dort noch Platz ist für ein weiteres Fahrrad, ist ganz unklar …

Als der Zug hält, schaffe ich es, den Wagen zu verlassen und das Fahrrad in eine winzige Lücke in Waggon 1 zu quetschen. Einen „Sitzplatz“ finden wir nur auf einem kleinen Treppchen. Dies ist suboptimal – aber immerhin sind wir im Zug. Um 11 Uhr 17 werden wir in Freudenstadt ankommen, daran kann kein Zweifel bestehen.

Nach einer etwas holprigen Reise treffen wir tatsächlich fast planmäßig in Freudenstadt ein. Treffpunkt mit unserer Freundin und Fahrradkumpanin T. ist der Marktplatz. Um diesen zu erreichen, haben wir eine steil ansteigende Strecke von etwa einem Kilometer vor uns.

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Kurze Zeit später sind wir am Treffpunkt – am Marktplatz Freudenstadt unter der Venusstatue. Nach einem gemeinsamen Eiscafé sind wir gestärkt und können unsere Tour antreten. Ich lasse mir nur zu gern erklären, dass diese vorwiegend „abwärts“ führt. Zu sportlichen Höchstleistungen bin ich heute nicht fähig.

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Wir fahren nun durch die herrliche Gegend ins Tal. Der Saurier sitzt im Rucksack, immer die Nase im Wind: so entgeht seinen scharfen Stegosaurier-Augen keine Einzelheit.

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Unten im Tal fließt die Murg – durch die Bäume hindurch sieht man das glitzernde Wasser und die großen, glattgeschliffenen Steine, zwischen denen der Fluss sich ins Tal ergießt.

Nach zwei Stunden, während derer wir vorwiegend bergab gerollt sind, stellt sich Hunger ein. Der Saurier, der nicht einmal in die Pedale tritt, verlangt lautstark sein Picknick:

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Zum Glück bekommen wir auch etwas davon ab!

Ein Bild sagt mehr als viele Worte:

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Unter diesem alten Obstbaum machen wir etwas später Rast und genießen die herrliche Aussicht.

Viel zu schnell sind wir in Gernsbach angelangt. Hier wartet der Höhepunkt des Tages auf Anatol.

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Es ist ein Glück, dass der Saurier meist nach drei Happen so satt von der mächtigen Schwarzwälder-Kirschtorte ist, dass mir gnädigerweise der „Rest“ zufällt.

Und schon neigt sich unsere Tour ihrem Ende zu… die schönen Dinge vergehen immer zu schnell. Wieder ist es Zeit, sich zu verabschieden …

Um 19 Uhr stehe ich in Rastatt auf dem Bahnhof, einen wohlig schnurchelnden Anatol im Rucksack und eine hier nicht gültige Ortenaukreis-Fahrkarte in der Hand. Wieviel muss ich nachlösen? Wo kann ich nachlösen? Der Automat gibt hierzu keine Auskunft, und menschliche Bahnbedienstete sind nicht mehr zugegen.

Meine zukünftigen Mitreisenden auf dem Gleis sind sämtlich fremdsprachige Mitbürger, die mir freundlich zulächeln, aber meine Frage natürlich nicht beantworten können.

Mit einem mulmigen Gefühl, dafür ohne Fahrkarte steige ich in den Zug. Das Fahrradabteil ist voller Kinderwägen, ich muss daher auf ein nicht für Fahrräder zugelassenes Abteil ausweichen. Da ich bereits ohne Fahrkarte bin, ist dies nun auch egal, sage ich mir beklommen.

Kurz vor Baden-Baden sehe ich einen Schaffner sich einen Weg durch das Kinderwagendickicht im Radabteil bahnen. Zu diesem wühle ich mich meinerseits hin, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass ich zwar kein Billet habe, aber gewillt bin, sofort eines zu kaufen.

Der Schaffner winkt ab und ruft durch das Stimmengewirr, ich solle da bleiben, wo ich sei, er würde mir die Fahrkarte dort verkaufen.

Wenig später kann ich ihm klarmachen, dass ich keine gemeine Schwarzfahrerin bin, sondern nur nicht weiss, wie weit mein bereits gelöstes Ticket reicht. Dies weiss jedoch der Schaffner – es reicht bis Achern – und so erstehe ich für 4 Euro 10 den noch notwendigen Fahrschein.

Wir sind indessen in Baden-Baden eingetroffen, aber der Zug steht wie angeklebt im Bahnhof. Offenbar werden Anschlüsse erwartet. Ein recht armselig aussehender Mann steigt ein und überschüttet den Schaffner mit einem Wortschwall im ortsansässigen Dialekt. Nach einem für mich unverständlichen Dialog steigt der Mann wieder aus.

„Umsonsch mitfarre wolle de! Jesses Gott, nei wo simme!“

Ich bin froh, dass das geballte Regelwerk der Deutschen Bahn nicht auf meinen Fall angewendet wird – stehe ich doch mitsamt meinem Fahrrad in einem Abteil, das nicht für Fahrräder zugelassen ist.

Ein pingelig sauber gekleideter Herr mit weissem Hemd und Anzugshose sowie Stahlhelm betritt das Abteil und wendet sich wutschnaubend an den Schaffner.

„Sie sind sich bewusst, dass dieses Fahrrad hier nichts zu suchen hat?“ Er zeigt wütend auf mein Victoria Fahrrad.

Der Schaffner brummt. Ich sehe den Herrn so freundlich an, wie einem das bei einem wutentbrannten Stahlhelmträger nur möglich ist und rechtfertige mich mit sanfter Stimme: „Im Fahrradabteil vorn bin ich nicht reingekommen … leider!“

„Genau!“ brüllt der Stahlhelm zornbebend. Mir fällt erst jetzt auf, dass es sich um einen Fahrradhelm handelt. „Ich auch nicht! Alles voll mit Kinderwägen und undisziplinierten Leuten! Die gehören dort nicht hin! Ich schwöre Ihnen – wenn Sie als Deutsche Bahn die Leute nicht entfernen, dann werfe ich sie eigenhändig raus!“ Hier schnappt dem Herrn vor Erzürnung die Stimme über.

Der Schaffner macht den ungehaltenen Fahrgast darauf aufmerksam, dass er keineswegs die Deutsche Bahn vertrete, sondern von dieser nur „ausgeliehen“ sei. Wie dies arbeitsrechtlich zu beurteilen sei, mag ich mir nicht vorstellen. Ich vermute, der gute Schaffner drückt damit aus, dass er nicht gut genug bezahlt sei, um derlei Ärgernisse auf sich zu nehmen.

Indessen wird unser Stahlhelmträger immer wütender. Ich ziehe mich vorsichtig aus der Diskussion heraus, in die ich unfreiwillig geraten bin – offenbar ist es dem Schaffner aber ganz lieb, dass ich mit meinem Fahrrad zwischen ihm und dem Wüterich stehe.

Letzterer schafft es, den Schaffner dazu zu bringen, mit ihm in das Fahrradabteil zu gehen. Hier weist der Schaffner die Reisenden darauf hin, dass es sich um ein Fahrradabteil handele … was diese geduldig anhören.

Dann geschieht – nichts.

Zeternd läuft unser Stahlhelm durch den Waggon und verschwindet unter lautem Schimpfen in den Tiefen des Zuges.

Fassungslos sehen die anderen Reisenden mich an. Ich zucke mit den Schultern. „Die Hitze…?“ versuche ich ein Erklärung. Ausnahmsweise hatte ich mit dem Wutausbruch sogar nichts zu tun … Anatol flüstert durch den Rucksack: „War wohl besser, dass ich nicht rausgekommen bin, oder?“

Zwei mitleidige Mitreisende helfen mir schließlich, das Rad in die obere Etage zu tragen – dies ist streng verboten – aber so kann ich für den Rest der Reise sitzen.

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Zurück in Kehl – die restlichen Kilometer bis nach Hause fährt das Fahrrad fast von allein.

Als Elie uns gegen 21 Uhr heulend die Tür aufmacht, schlägt uns der altbekannte Geruch entgegen.

Elie war auf seiner Demo gewesen, aber Anna hatte nur Augen für Angelo gehabt. Könnte Elies politisches Engagement möglicherweise doch nicht allein von humanitären Gesichtspunkten motiviert sein? Die Frage erscheint berechtigt, ich stelle sie indessen nicht.

Anatol ist nicht gewillt, den Gestank weiter zu ertragen. „Ich räum alles aus. Wenn ich die Quelle nicht finde, ziehe ich aus!“

Ich gehe in die Dusche und überlasse Anatol seiner Küche. Das Rauschen der Dusche übertönt bald das Sauriergezeter und das Möbelrücken.

Als ich aus der Dusche steige, ertönt ein markerschütternder Schrei aus der Küche. Der Schrei verstummt, dann folgt ein zweiter – lauter, verzweifelter und durchdringender. Ich wickele mir notdürftig ein Handtuch um und stürze in die Küche.

Dort präsentiert der Saurier mir das Grauen.

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Der Kondenswasserablaufbehälter an der Rückseite des Kühlschranks ist zweifelsohne die Quelle des Übels.

Als ich nähertrete und den Inhalt des Behälters sehe – leider auch rieche – dreht sich mein Magen um und ich würge unwillkürlich.Es erscheint, als wäre etwas oder jemand in dem Behälter erst gestorben, verfault, dann aber, wenn auch in anderer Form, wieder lebendig geworden.

„Mach das weg, Anatol!“ schaffe ich noch zu rufen. Vom Ekel überwältigt renne ich aus der Küche.

Der Saurier hat eine Wäscheklammer auf der Nase und reicht mir ebenfalls eine.

„Ich kann das unmöglich heute abend noch beseitigen. Wir müssen uns bis morgen gedulden.“ Und dann, als habe er meinen Gedanken erraten: „Die Katzen habe ich durchgezählt. Sind vollzählig. Was auch immer das ist in dem Behälter – es ist keine Katze.“

Das Ergebnis unserer Radtour lässt sich indessen sehen:

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148. Kapitel – Die Fahrradkette

Ein verregnetes, kaltes Osterwochenende hat Anatols Laune auf den Nullpunkt sinken lassen.

Zeternd und schimpfend ist er in der Küche verschwunden, nachdem ich die alljährliche Ostereiersuche im Park wegen Dauerregens abgesagt und mich dann auch noch ins Büro verabschiedet hatte, um dort endlich mehrere liegengebliebene Akten zu ordnen und wegzuräumen.

Gegen 17 Uhr – pünktlich zum Tee – erscheine ich wieder zu Hause, in der Hoffnung, eine gemütliche Teestunde mit den Sauriern zu verbringen.

Anatol sitzt indessen griesgrämig am Schreibtisch – in die Monatsabrechnung vertieft. Elie hat sich mit seinem Buch – „Kapitän Bontekoes Schiffsjungen“ – in sein Nestchen verkrochen und schmökert. „Ist gerade ganz spannend!“ ruft er. „Ich will keinen Tee – muss weiterlesen!“

Ich setze das Teewasser auf und stelle die Tassen auf den Tisch. „Gibt es denn keinen Kuchen …?“ frage ich Anatol, meine Enttäuschung kaum verbergend.

„Nein, es gibt keinen Kuchen!“ pampt mich der Saurier an. „Ich habe auch noch anderes zu tun, als Kuchen zu backen und den Haushalt zu führen! Deine Monatsabrechnung ist diesmal eine einzige Katastrophe. Für die werde ich noch bis heute abend brauchen! Ist es denn zu fassen – Du hast diesen Monat nicht eine, auch nicht zwei, sondern gleich drei – in Worten: DREI! – neue Jeans gekauft! Wie geht das eigentlich mit Deinem angeblichen Minimalismus zusammen?“

Wutschnaubend vertieft sich das Untier wieder in Kassenzettel, Quittungen und Kontoauszüge – und unterstreicht seine Rage durch penetrantes Rascheln in dem Papierberg.

Ein wenig beschämt sehe ich an mir herunter und betrachte meine wunderschöne neue Jeans. Sie sieht nicht nur großartig aus, sie passt auch vorzüglich. Nichts engt ein, nichts kneift. Eine Offenbarung, nachdem ich meine geliebten alten Jeans nur noch unter Qualen und massiver Kraftaufwendung hatte anziehen und zumachen können – von Wagnissen wie sich damit hinzusetzen ganz zu schweigen.

Ich setze zur Gegenwehr an. „Du bist schuld, Anatol! Wenn Du nicht ständig diese fettigen Bratkartoffeln … “ hier werde ich werde unterbrochen: der Saurier stößt einen Wutschrei aus.

„Ja ist es denn zu fassen?“ poltert er los. „Du hast schon wieder eine neue Fahrradkette aufziehen lassen!? Die letzte war doch erst im Oktober! Das ist einfach nicht möglich – drei Fahrradketten in nicht mal anderthalb Jahren!“

Anatol hat den Kassenzettel des Fahrradladens entdeckt.

Ich hatte mich selbst gewundert, dass die Fahrradkette schon wieder hatte gewechselt werden müssen. Am Samstag war ich mit dem Fahrrad in der Stadt gewesen und hatte es bei dieser Gelegenheit bei der Radwerkstatt vorbeigebracht. Seit einiger Zeit war mir nämlich aufgefallen, dass in manchen Gängen die Kette (oder der Zahnkranz? das war schwer auszumachen…) etwas durchrutschte. Um keinen größeren Schaden zu erleiden hatte ich das Rad lieber dem Spezialisten gezeigt und ihm das Problem beschrieben.

Der Reparateur war kategorisch gewesen: laut Verschleißlehre sei die Kette abgenutzt und müsse ausgetauscht werden. Seufzend hatte ich der Reparatur zugestimmt und war 15 Minuten später mit einem neu beketteten, geölten und perfekt aufgepumpten Rad fröhlich pfeifend direkt zum Jeansladen weitergefahren.

Die dabei produzierten Kassenzettel hatte das Untier nun in meinem Portemonnaie entdeckt – gehört doch die monatliche Abrechnung zu seinen Aufgaben.

„Wenn Du mir jetzt weismachen willst, die Kette sei auch durch meine „fettigen Bratkartoffeln“ abgenutzt worden, werde ich wütend!“ zischt der Butler giftig.

Nun pfeift zum Glück der Wasserkessel – ich eile in die Küche und brühe den Tee auf.

Dann erkläre ich dem Saurier mit Nachdruck, dass sowohl der Jeanskauf als auch die Reparatur der Fahrradkette unabdingbare Investitionen gewesen seien und dass ich darüber nun weiter nicht diskutieren werde. Allerdings schlage ich dem Butler vor, wegen der Fahrradkette im Radforum nachzulesen – dort fände sich vielleicht eine Lösung? In der Tat erfreut mich die Aussicht auf einen halbjährlichen Kettenwechsel nicht. Das Kettenproblem muss gelöst werden.

Anatol lässt die Monatsabrechnung auf dem Schreibtisch liegen und setzt sich zu mir an den Teetisch. Obwohl ich das normalerweise nicht dulde, knipst er das Laptop an und sucht die Webseite des Radforums. Da seine geradezu unterirdische Laune sich nun zumindest etwas hebt, lasse ich ihn diesmal gewähren.

Nachdem eine kurze Suche nach „Kettenwechsel“ und „Kettenabnutzung“ nicht erfolgreich ist, entschließt sich Anatol, ein neues Thema zu erstellen und die Frage des ständigen Kettenverschleißes direkt an die Spezialisten zu richten. Da ich bereits im Radforum Mitglied bin, kann Anatol problemlos unter meinem Pseudonym posten.

Dann genießen wir endlich in Frieden unseren Tee.

Als ich noch einmal zum Teeaufbrühen in die Küche gehe, wirft Anatol einen Blick in das Radforum. Ob wohl schon jemand auf seine Frage geantwortet hat? Aufgeregt rutscht der Saurier auf seinem Stuhl herum. „Da steht was!“ ruft er in die Küche. „Es hat jemand geantwortet!“

Gespannt gieße ich das kochende Wasser in die Teekanne, als ein markerschütternder Wutschrei aus dem Wohnzimmer ertönt. Ich lasse beinahe den Wasserkessel fallen und verschütte das restliche heisse Wasser – glücklicherweise nur über die Küchenanrichte. Fluchend suche ich nach einem Lappen. Es ist glimpflich ausgegangen – ich hätte mich selbst oder einen der Saurier, hätte er auf der Anrichte gestanden, böse verbrühen können. Ich wische die Überschwemmung auf und kehre mitsamt der Teekanne zu einem tobenden Anatol ins Teezimmer zurück.

„Bist Du von allen guten Geistern verlassen, Anatol? Was soll das Gebrüll?“

Anatol antwortet nicht. Voller Wut tippt er auf die Tastatur ein. Da ich nichts Gutes ahne, drücke ich ungerührt den „Aus“-Knopf. Mit einem melodiösen Summen verabschiedet sich der Laptop in den Ruhezustand.

Ein lauter Fluch des Sauriers ist die Antwort. „Jetzt ist mein Beitrag weg! Dabei muss ich darauf reagieren, was der da geschrieben hat! Das glaubst Du nicht!“ Anatol springt aufs Laptop und versucht, das Gerät wieder zum Laufen zu bringen. Ich nehme den Computer an mich und stelle ihn auf den Schrank.

„Schluss jetzt damit. Hat jemand unser Fahrrad wieder als alten Schrott bezeichnet? Das kennst Du doch schon. Darüber braucht man sich nicht aufzuregen.“

„Nein! Das war es nicht. Der hat geschrieben, meine Frage sei wieder mal typisch Frau und unverständlich! Männer könnten kurz und knapp das Problem beschreiben, bei Frauen müsse man das erahnen! Den nehm ich mir vor! Erstens ist das total frauenfeindlich! Und zweitens bin ich keine Frau! Ich kann technische Zusammenhänge erklären!“

Mit einer spitzen Bemerkung mache ich Anatol auf den leichten Widerspruch des eben Gesagten aufmerksam. Anatol wird puterrot und murmelt etwas von „nicht so gemeint!“.

Dann kommt die Wut wieder durch: „Dem erzähl ich was!“

Da Anatol unter meinem Pseudonym geschrieben hatte, mussten die Forenmitglieder fälschlicherweise glauben, hier schreibe eine Frau. Dass dies kein Grund für Macho-Bemerkungen ist, versteht sich von selbst. Leider ist das Miteinander im Internet nicht immer so, wie man es gern hätte.

Ich erkläre Anatol, dass – wie er ja bereits aus dem Woodworkerforum wisse – der Umgangston in manchen Foren sehr rauh sei. Dass das Beste immer noch sei, darauf nicht einzugehen. Schließlich stünde man über derlei Gerede.

Indessen hat es weitere Kommentare gegeben, darunter auch sehr hilfreiche für unser Problem. Ein freundlicher und kompetenter Fahrradkenner schreibt, dass Radlerinnen oft geduldiger und genauer die aufgetretenen Probleme schildern. Hier atmet Anatol auf!

Als Quintessenz ergibt sich, dass wir nun häufiger die Kette werden schmieren und pflegen müssen, und zwar mit Trockenschmierstoff – nicht mit dünnem Nähmaschinenöl.

Da sich die Saurier ihre perfekt manikürten Plüschpfoten nicht mit Kettenfett beschmutzen wollen, wird dies wohl meine Aufgabe sein.

127. Kapitel – Back to blue Victoria

Das ersehnte lange Wochenende ist endlich da. Heute kann ich schon um 13 Uhr von der Arbeit nach Hause gehen – und am Nachmittag habe ich frei.

Die Sonne scheint, es ist warm – meine Laune könnte besser gar nicht sein. Heimlich nehme ich mir vor, nach Erledigung aller meiner heute noch anstehenden Termine bei Amorino ein Eis zu essen.

Mit dieser schönen Aussicht im Sinn komme ich zu Hause an. Elie ist nicht da – er macht heute seine Hausaufgaben bei Anna und bleibt dann den ganzen Nachmittag dort. Seit Angelo in Amerika sein „Auslandssemester“ absolviert, ist Elie wieder viel häufiger bei Anna. Anatol und ich beobachten die komplizierte Freundschaft, mischen uns aber nicht ein.

Anatol stellt fest, dass ich auf keinen Fall heute allein in die Stadt gehen kann. Er habe auch Dinge zu erledigen, werde mich also im Rucksack begleiten.

Ich seufze. Mein erster Termin heute Nachmittag ist beim Hautarzt; hier wünsche ich keine neunmalklugen Einmischungen des Sauriers, der dem Arzt erklärt, welche Behandlung er an mir durchführen soll und welche nicht. Ich ermahne den Butler daher auf das Schärfste, sich während meines Arzttermins entweder ruhig zu verhalten oder am besten gleich draußen zu bleiben.

Anatol brummelt etwas, das sowohl Zustimmung als auch Widerspruch bedeuten kann. Ich nehme mir also vor – um jedes Risiko auszuschließen – den Saurier vor der Arztpraxis aus meiner Handtasche zu werfen und ihn nach dem Termin wieder einzusammeln. Einen Eklat beim Arzt mag ich mir nicht vorstellen.

Um 15 Uhr 30 fahren wir mit dem Fahrrad los – Anatol halb im Rucksack, halb auf meiner Schulter sitzend, immer die Nase im Wind.

Mein Termin ist erst um 16 Uhr 30. Wir müssen zwar die ganze Stadt durchqueren, da wir aber noch viel Zeit haben, fahre ich ganz gemütlich an den Quais entlang, bevor wir an einen großen Platz kommen. Unzählige Radfahrer aus allen Richtungen treffen hier aufeinander – zum Glück gibt es gleich mehrere Radwege.

Als wir an einer gut besuchten Café-Terrasse vorbeiradeln, fällt mein Blick auf ein am Straßenrad stehendes, blaues Fahrrad. Traurig denke ich „So sah unser schönes altes Victoria-Fahrrad aus. Es hatte genau diese strahlend blaue Azurfarbe…“.

Melancholisch sehe ich das Rad im Vorbeifahren genauer an – und mich durchfährt ein Schock. Das IST unser altes Victoria-Fahrrad! Zumindest sieht es genau so aus!

Ich bremse – und im selben Moment beginnt der Saurier hinten im Rucksack an, Kobolz zu schießen. Mit seinen scharfen Stegosaurier-Augen hat der das Fahrrad ebenfalls erblickt, und zischt mir zu „Halt an!! Stopp! Da ist unser Rad!“

Augenblicklich kommen wir zum Stehen. Ich sehe das Fahrrad nun aus der Nähe und mir ist sofort klar, dass hier kein Irrtum vorliegt. Es handelt sich um unser altes Victoria-Fahrrad aus den 70er Jahren, das im letzten Sommer gestohlen worden war.

Traurig, verschmutzt und offensichtlich auch beschädigt steht es da – mit einem abscheulichen Bügelschloß an einen Pfosten fest angekettet.

Ohne nachzudenken nehme ich schnurstracks unser Granit-Faltschloss und sichere unser altes Rad damit.

Dann wähle ich mit zitternden Händen die Notrufnummer auf meinem Handy, während ich mich unauffällig vom „Tatort“ entferne.

Ein freundlicher Polizist antwortet mir. „Bitte nennen Sie die Art des polizeilichen Notfalls,“ fordert er mich auf. Aufgeregt ringe ich nach Luft – und um Worte. Dann sprudelt es aus mir heraus: das im letzten Sommer gestohlene Fahrrad, meine polizeiliche Anzeige, deren Abschrift ich sogar dabei habe – das wiedergefundene Rad – und schließlich mein Hilferuf: ich brauche dringend polizeiliche Unterstützung!

Der Freund und Helfer am anderen Ende der Leitung sichert mir sofortigen Beistand zu. Ich muss ihm eine Beschreibung meiner Person geben – Jeans, blauer Kapuzenpulli, rosa Rucksack mit grünem, nervösem Saurier (letzteres sage ich natürlich nicht) – damit die Kollegen mich finden. Seine weitere Anweisung: ich solle mich unauffällig verhalten und von einem etwas entfernteren Standpunkt, nämlich der Straßenseite gegenüber, den Tatort weiter beobachten.

Dies befolgen Anatol und ich. Vor Aufregung bebend setzen wir uns auf ein Holzbänkchen und versuchen, uns zu beruhigen. Das gelingt indessen nicht.

„Anatol, das Rad war doch graviert! Wir hatten extra diesen Code bei Bicycode einstanzen lassen, der auch in unserem Fahrradpass steht! Nun habe ich eben beim Anschließen den Code aber nicht mehr gesehen!“

Panik bemächtigt sich meiner. Habe ich mich geirrt? Ist es doch nicht unser Rad?

Anatol stammelt, er habe die Gravur auch nicht gesehen! Aber es sei 100% unser Rad. Die kleinen blauen Lack-Flecken, mit denen wir die Roststellen zu verdecken versucht hatten, die alte Sachs-Gangschaltung, der immer an der gleichen Stelle ausgefranste Bremszug – hier sei keine Verwechslung möglich. Ob man die Gravur hatte entfernen können?

Anatol schluchzt laut auf – wie sollen wir ohne die Gravur zweifelsfrei beweisen, dass es wirklich unser Fahrrad ist?

Vier junge und sehr kräftige Männer – man könnte sie auch als „Gorillas“ bezeichnen – kommen plötzlich direkt auf uns zu. Das Herz rutscht mir tief in die Hosen. Ist das die Fahrrad-Diebesbande? Haben sie mich beobachtet und kommen nun, um mich zu zwingen, das Rad wieder aufzuschließen?

Einer der jungen Männer streckt den Arm aus und gibt mir die Hand. Er stellt sich als Kriminalkommissar vor. Seine drei Kollegen nicken mir freundlich zu. Wir brauchen keine Angst zu haben – sie sind von der Kriminalpolizei.

Schnell schildere ich die Lage, weise meine polizeiliche Anzeige des Diebstahls vor und zeige den Polizisten das Corpus delicti aus sicherer Entfernung.

Die Kripobeamten erklären mir in knappen Worten das weitere Vorgehen. Sie würden nun versuchen, den Fahrraddieb – oder Käufer des Diebesgutes – zu überführen. Dazu würden sie den ganzen Nachmittag bei dem fest angeschlossenen Fahrrad bleiben – in der Hoffnung, dass der Dieb kommen und es aufzuschließen versuchen werde. Der Fahrraddiebstahl habe mittlerweile Ausmaße organisiserter Kriminalität angenommen und man setze daher alles daran, die Vergehen aufzuklären – um den Diebes- und Hehlerbanden das Handwerk zu legen.

Bang frage ich, ob mein Fahrrad hierbei keiner weiteren Gefahr ausgesetzt sei. Die Polizisten verneinen dies. Ich solle beruhigt zu meinem Termin fahren und danach wieder hier zum Treffpunkt kommen. Dann werde man sich auch über die Rückgabe des Rads an mich verständigen.

Da im Rucksack stark randaliert wird, versetze ich selbigem einen leichten Schlag. Irritiert sehen die Polizisten mich an. „Führen Sie ein Tier mit?“ fragt der Kommissar. Ich verneine dies unsicher und entferne mich schnellstens – nicht ohne versprochen zu haben, so bald wie möglich wiederzukommen. Dann werfe ich einen letzten Blick auf das blaue Fahrrad …

Bevor ich losradle, höre ich den Kommissar sagen „Leute, das ist die beste Überwachung, die ich seit Jahren hatte. Kommt, wir setzen uns da auf die Caféterrasse und warten. Ich nehme eine Cola.“

50 Meter weiter öffne ich den Rucksack und schnauze das grüne Untier an. „Bist Du verrückt, so einen Lärm zu machen! Wenn wir unser Rad wiederhaben wollen, hast Du Dich ab jetzt ruhig zu verhalten!“

Kleinlaut verspricht Anatol, dass man von ihm nun nichts mehr hören werde. Er wolle ja nur sein Rad! Das geht mir genauso…

Beim Arzt warten wir bis fast 18 Uhr auf meinen Termin. Wie auf heissen Kohlen sitze ich im Wartezimmer.

Um 18 Uhr 30 treffen Anatol und ich wieder am Tatort ein. Das Fahrrad steht weiterhin am Platz, die Kripobeamten sind bei ihrer 5. Limonade. Im Dienst wird selbstverständlich kein Alkohol getrunken.

Leider hat sich niemand dem Fahrrad genähert. Die Überwachung soll daher noch etwa anderthalb Stunden laufen. Danach würde man sich bei mir melden. Ich solle nun nach Hause fahren und auf weitere Weisung warten.

Enttäuscht entferne ich mich. Was soll ich tun? Entgegen dem Rat des Polizisten fahre ich nicht nach Hause, sondern begebe mich zu Amorino, wo ich für Anatol und mich ein veganes Eis kaufe.

Dann beratschlagen wir.

Ich bin dafür, so lange in unmittelbarer Nähe des Rades zu bleiben, bis die Polizei das Schloß des Diebes aufsägt und wir das Rad entweder mitnehmen können oder aber es in polizeilichen Gewahrsam genommen wird. Anatol teilt diese Meinung. Wir fahren nicht nach Hause, bevor das Rad nicht in Sicherheit ist!

Um kurz vor 20 Uhr finden wir uns erneut am Tatort ein. Der Kommissar ist nicht mehr zugegen, auch die anderen Polizisten sind weg. Das Rad steht indessen am Platz: weiterhin durch mein Schloß gesichert.

Wieder setzen wir uns auf das Holzbänkchen und warten. Wir werden unser Fahrrad nicht mehr aus den Augen lassen, bis es in Sicherheit ist – wie lange auch immer das dauern wird.

Etwa eine Viertelstunde später schrillt mein Handy. Der Kommissar ist am anderen Ende der Leitung. Er habe die Angelegenheit mit seiner polizeilichen Hierarchie geklärt und könne mir nun verbindliche Anweisung zum weiteren Vorgehen erteilen. Die Gravur des Rades sei zwar durch Einwirkung des Diebes auf den ersten Blick entfernt worden – bei genauer Betrachtung habe man die Ziffern jedoch ablesen und mit meinem Fahrradpass abgleichen können. So sei ohne jeden Zweifel bewiesen, dass es sich hier um mein altes, gestohlenes Fahrrad handele. Das Aufbrechen des Schlosses des Diebes sei indessen nicht Aufgabe der Polizei – dies müsse ich selber vornehmen, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Schlossers. Sobald ich das Rad an mich genommen habe, solle ich mich kurzfristig – mitsamt dem Rad – auf der Wache vorstellen, wo man mir die weiteren Schritte erklären werde. Hierauf verabschiedet sich der Kommissar und lässt mich mit dem Problem allein, mein Fahrrad „loszueisen“.

Was ist zu tun? Wie knacke ich – um 20 Uhr 15 mitten in Stadt – ein Fahrradschloß – ohne jegliche schriftliche Berechtigung dazu …? Unschlüssig kratze ich mich am Kopf.

Anatol zetert aus vollem Halse los: „Nun ruf schon Deinen Schlosser an! Der soll kommen und das Schloss aufsägen! So hat es doch der Kommissar gesagt!“

Ich wähle die Nummer des Schlossers. Keine Antwort. Ich hinterlasse eine Nachricht. Dann suche ich – meinem Smartphone sei dank – im Internet nach Schlossern, die 24h/24 intervenieren…

Nach dem ersten Anruf bei einem Schlüssel-Notdienst wird mir klar, warum die Polizei dies nicht durchführen will: der Einsatz soll 169 Euro kosten. Ich lehne dankend ab.

Nach mehreren Anrufen ohne Erfolg treffe ich auf den Schlüsseldienst der Grand Rue. Dieser sagt zu, für 65 Euro mein Fahrrad freizusägen – und zwar in einer Viertelstunde. Dieses Angebot nehme ich ohne zu zögern an.

Eine halbe Stunde später liegt das Schloss des Übeltäters aufgesägt auf der Straße und ich halte mein gutes altes blaues Victoria-Fahrrad in Händen. IMG_3656

Nun fällt mir auf, dass sich das Hinterrad nicht dreht. Dies macht den Transport nach Hause (auf dem neuen Fahrrad fahrend, das alte nebendran mit der anderen Hand lenkend) überaus schwierig, da ich das alte Rad quasi neben mir herschleifen muss.

Nach 500 Metern ist der Hinterreifen durch das Gezerre über den Asphalt durchgewetzt und platt. Mein rechter Arm, der das Fahrrad neben uns herschiebt, fällt fast schon ab … und wir haben noch etwa 3 Kilometer vor uns.

Trotz aller Widrigkeiten schaffen wir es bis nach Hause.

Dort klingele ich die Nachbarn heraus, die damals – unwillentlich – das Abhandenkommen des Rades verursacht hatten. Sie wollen uns sogar die Kosten für den Schlosser ersetzen!

Ich bin sehr gerührt.

Kurze Zeit später fallen wir vollkommen erschöpft ins Bett und wachen erst um 8 Uhr des nächsten Morgens wieder auf.

Anatols erste Handlung besteht darin, das schöne alte Rad von dem hässlichen Sattel zu befreien, den der Dieb ihm aufgesetzt hatte. Danach wird das Rad mit Motorradshampoo eingehend gewaschen. Leider fallen uns hier diverse Beschädigungen auf – wir hoffen, dass unser trefflicher Fahrrad-Reparateur dies alles wird beheben können.

82. Kapitel – Das neue Victoria-Fahrrad

Unsere Fahrt nach Offenburg beginnt mit einer Pleite – der Besuch bei Dr. Anselm, den ich schnell vor der Abfahrt des Zuges erledigen wollte, dauert unvorhergesehenerweise deutlich länger als geplant. Anatol und ich verpassen den 9:34er Zug – und müssen erfahren, dass vor 11 Uhr 04 gar kein weiterer Zug mehr fährt.

Anatol hätte nun normalerweise begonnen, lauthals zu schimpfen. Da wir aber auf der Reise zu seinem eventuellen neuen Rad sind, hält er weise den Schnabel. Statt zu zetern schlägt er vor, gleich bei DM noch einige kleine Einkäufe zu tätigen. Und warum nicht danach einen Tee bei Armbruster am Bahnhof trinken?

Genau dies tun wir. Da eine Reise mit der Bahn immer für Hunger sorgt – auch wenn sie noch gar nicht begonnen hat – genehmigen wir uns ein Pflaumenteilchen zum Tee.IMG_2986

Derart gestärkt können wir anderthalb Stunden später unsere Reise nach Offenburg antreten.

Vorher finde ich allerdings beim Besuch der Bahnhofsbuchhandlung ein sehr interessantes Literaturmagazin, welches ich kaufe. Es handelt sich um die neue Ausgabe von „Das Buch als Magazin“ und beschäftigt sich mit der Traumnovelle von Arthur Schnitzler – einem meiner Lieblingsbücher. Das Magazin geht daher mit uns auf die Reise – ich werde später noch genauer darüber berichten.

Um 11 Uhr 22 erreichen wir Offenburg – und wenig später unser Ziel: den Fahrradladen, der die begehrten Victoria-Räder führt.

Warum ist diese Marke Anatol und mir so wichtig? Wir sind sonst keine Marken-Fetischisten – im Gegenteil bevorzugen wir bis auf wenige Ausnahmen No-Name-Produkte.

Der Name „Victoria“ steht für eine lange, traditionsreiche Geschichte. Schon 1886 wurden von der Firma Victoria Fahrräder hergestellt – gegründet wurde sie damals von zwei Radsportlern. Der Radsport war damals ganz neu – gerade Frauen, die für Emanzipation kämpften, fuhren Fahrrad! Diese ersten Radfahrerinnen sind selbstverständlich unsere Vorbilder.

Das Victoria-Fahrrad gehört jedoch auch zu unserer Familiengeschichte. Das „erste Victoria-Fahrrad meines Lebens“ was das meines Vaters. Es entstammte den 50er Jahren und war meinem Vater von seinen Eltern zum 14. Geburtstag geschenkt worden; es war – wie alle Victoria-Fahrräder – ein technisches und ästhetisches Meisterwerk. Da man damals, nach dem Krieg, kaum Geld für Spielereien wie Fahrräder hatte, war das Fahrrad für einen kleinen Jungen der größte Schatz, den man sich vorstellen konnte. Dementsprechend gut wurde es behandelt und behütet.

Ich war von dem Fahrrad schon als kleines Kind beeindruckt: auf der Stange sitzend durfte ich mit meinem Vater zur Schule fahren und die Klingel betätigen, die ein einzigartiges, glockenhelles „PING“ von sich gab.

Als ich 14 war, wurde das Rad gestohlen – eine Familientragödie. Es blieb jedoch nicht für immer verschwunden: ich sah eines Tages den mutmaßlichen Dieb mit dem Fahrrad durch Göttingen radeln, konnte ihn verfolgen, stellen, und der Polizei zuführen. So kam das Fahrrad zu uns zurück.

Natürlich wollte Anatol ebenfalls ein solches Victoria-Fahrrad, und so bekam er das schöne, azurblaue Rennrad geschenkt, das jetzt durch eine Verkettung unglücklichster Umstände in die Fänge des nachbarlichen Bermuda-Dreiecks geriet und dort innerhalb kürzester Zeit verschwand.

Uns ist bewusst, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, unser azurblaues Victoria-Rad wiederzufinden. Daher hat Anatol sich entschlossen, einen Schritt in die Zukunft zu tun: ein neues Victoria-Fahrrad soll einziehen.

Vorher müssen wir es allerdings ansehen und probefahren – und eben dies soll heute geschehen.

Ein freundlicher alter Herr – vermutlich der Inhaber – begrüßt uns, als wir bei Zweirad Schmid ankommen. Genau zwei Modelle von Victoria sind zum Ausprobieren da: ein Damen- und ein Herrentrekkingrad. Der alte Herr erklärt uns die technischen Neuerungen, die das Modell erfahren hat: 24-Gang-Kettenschaltung, Aluminiumrahmen, Stoßdämpfung … all dies kennen Anatol und ich nicht. Das alte Fahrrad hatte einen fleißig rostenden Stahlrahmen, 5 Gänge und natürlich keine Stoßdämpfer.

Wir dürfen beide Modelle probefahren. Sie fahren wie von selbst – leicht, schnell und ohne jede Anstrengung: fast haben wir das Gefühl, zu schweben! Das Damenmodell mit seinem 50er Rahmen scheint die perfekte Größe zu haben.

Was nun? Anatol guckt mich aus erwartungsvollen Augen an: ich soll das Fahrrad nun bestellen, das sehe ich ihm ganz deutlich an. Aber zur Zeit steht es mit unserem Budget nicht zum Besten, und mir wäre es lieber, wenn wir das neue Fahrrad erst später im Herbst, im Oktober oder November kaufen würden … Anatol stehen Tränen in den Augen.

„Frag doch wenigstens mal nach dem genauen Preis!“ weint er leise. „Und ob es das Rad in blau überhaupt noch gibt.“

In der Tat ist das blaue Modell nicht auf Lager – ich gehe allerdings davon aus, dass man es bestellen kann.

Der alte Herr blättert im Victoria-Katalog, schreibt sich die Modellnummer auf und ruft beim Victoria-Großhändler an. Ja, das Modell existiert noch, es wird jedoch in 2 Wochen durch ein neues ersetzt. Das neue Modell wird zum Entsetzen von Anatol nicht mehr blau, sondern weiss sein.

Ich sehe ein, dass nun gehandelt werden muss. Bestürzt höre ich mich sagen „Dann bestellen Sie uns bitte das blaue Rad. Jetzt sofort.“ Geichzeitig gehe ich im Geiste den Stand des Kontos durch. Einen solchen Kauf kann es nicht verkraften – die Reserven sind bis auf einen winzigen Rest, der unseren Notgroschen darstellt, ausgeschöpft. Ich bin fassungslos ob der Eselei, die ich gerade begehe.

Erfreut teilt mir der freundliche alte Herr mit, dass das Fahrrad morgen um Punkt 15 Uhr für Anatol und mich bereitstehen wird. Anatol jubelt – und hört damit nicht einmal auf, als ich streng darauf hinweise, dass ab sofort alle (und das heisst: ALLE) weiteren Ausgaben gestrichen sind.

Wie wir Elie das teure Rad erklären wollen, weiss ich nicht.

Für heute überlasse ich es Anatol, hier eine glückliche Eingebung zu haben.

IMG_2990Nachtrag, am 9.9.2014

Eben haben wir das neue Fahrrad abgeholt.

Hier wird es in der Werkstatt genau auf den neuen Fahrer eingestellt.

Anatol ist sehr glücklich.

Man sieht es ihm an, denke ich.

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79. Kapitel – Auf der Suche

Zwei furchtbare Tage und Nächte liegen hinter uns. Anatol hat viel geweint, gewütet… dann wieder sich selbst als den Alleinschuldigen bezichtigt.  Geschlafen hat er gar nicht.

Heute Nacht – es ist bereits nach 23 Uhr – beginnt er langsam, den Diebstahl seines geliebten Fahrrads zu verarbeiten.

Elie meint, Anatol müsse aufhören, sich die Schuld an dem Unglück zu geben. Denn selbst wenn er das Rad an diesem Wochenende abgeschlossen hätte – vielleicht hätte er es in zwei Wochen doch einmal aufgeschlossen im Keller gelassen. Schuld an dem Diebstahl sei in allererster Linie der Dieb – und dann auch der hirnverbrannte Nachbar, der einfach behauptet hatte, das Fahrrad „gehöre zum Haus“ und dürfe frei entliehen werden.

Zudem gebe es möglicherweise ja doch noch Hoffnung: Anatol hatte das Rad gravieren und registrieren lassen. Gemeldet sei der Diebstahl bereits auf der Webseite von Bicycode, des Strasbourger Vereins gegen den Fahrraddiebstahl – bei der Polizei seien wir auch gewesen, um den Diebstahl anzuzeigen. Mehr könne man nicht tun – Anatol müsse nun etwas Vertrauen in die Ordnungshüter haben und diese ihre Arbeit tun lassen.

Da kennt Elie Anatol allerdings schlecht. Sich auf andere Leute zu verlassen – das entspricht dem misstrauischen Saurier gar nicht.

„Den Teufel werd ich tun!“ grummelt er. „Ich werde mein Rad natürlich suchen! Und wehe, wenn ich da jemanden drauf erwische – den mach ich zur Briefmarke!“

Elie rät, in diesem Fall lieber sofort die Polizei zu rufen. Ich kann dem nur beipflichten. Schließlich sei der Besuch im Hôtel de Police heute recht positiv verlaufen – bis auf die lange Wartezeit.

IMG_2984Anatol und ich waren heute am frühen Abend aufs Kommissariat gegangen, um dort Anzeige zu erstatten. Anatol hatte darauf bestanden, dabei anwesend zu sein – trotz der schlechten Erfahrungen, die der Butler – wenn auch selbstverschuldet – mit der Polizei bereits machen musste.

Als wir eingetroffen waren, hatten schon 10 weitere Personen darauf gewartet, irgendeine Missetat, die ihnen widerfahren war, zur Anzeige zu bringen: Nicht ein einziger Sitzplatz war mehr frei gewesen. Die diensthabende Kommissarin hatte mir freundlicherweise erlaubt, in einem Bereich hinter der Absperrung, der für Publikum normalerweise nicht gedacht ist, Platz zu nehmen. Immerhin hatten wir so nicht stehen müssen. Hier sieht man Anatol, wie er aus dem Rucksack herauslugt. Allzusehr wollte er der Kommissarin dann lieber doch nicht auffallen!IMG_2983

Nach einer schier endlos erscheinenden Wartezeit waren wir endlich in das Dienstzimmer der Kommissarin gerufen worden. Anatol hatte sich bis dahin ruhig verhalten – nun war es um seine Selbstbeherrschung geschehen! Mit einem Satz war er aus meinem Rucksack direkt auf den Schreibtisch der Kommissarin gesprungen, die erschrocken zurückgewichen war. Verärgert hatte sie mir zu verstehen gegeben, dass Haustiere auf der Polizeiwache nicht zugelassen seien!

Anatol war nicht mehr zu bändigen gewesen. Dass es sein Rad sei, um das es hier gehe, hatte er noch laut wettern können – dann war es mir mit einem geübten Handgriff gelungen, das Biest in die Tiefen meines Rucksacks zu verbannen, diesen zu schließen und dann unter die Sitzbank zu schieben.

Entsetzt hatte die Polizeibeamtin wissen wollen, was denn das für ein Tier gewesen sei? Ob es gar gefährlich sei? Ich hatte schnell gesagt, es handle sich um einen defekten Furby, der sich nicht mehr ausschalten ließe. Dies erklärte glücklicherweise auch, warum aus dem Rucksack weiter lautes Fluchen und Zetern drang.

Schnell hatte ich den Verlauf des Fahrraddiebstahls dargelegt, das Fahrrad und seine besonderen Kennzeichen beschrieben – nach nur wenigen Minuten war der Vorgang zu den Akten genommen.

Kurze Zeit später hatte ich mit Anatol auf der Straße vor dem Kommissariat gestanden – eine Ausfertigung der Anzeige in der einen, den zeternden Anatol in der anderen Hand haltend. Erst als ich Anatol versprochen hatte, nun mit ihm durch die Stadt zu fahren und überall nach seinem Fahrrad zu suchen, hatte das Geschimpfe schlagartig aufgehört. Dann hatten wir uns auf die Suche nach Anatols Fahrrad gemacht…

Nun, bald um Mitternacht, haben wir die Suche unterbrochen. Elie hat eine Kleinigkeit zu essen vorbereitet – diese verschlingen wir eben. Anatol will gleich noch einmal los, da er sich spät nachts die meisten Chancen ausmalt, sein Fahrrad wiederzufinden.

Die Fahrradsuche wird langsam aber sicher zur Obsession für den Butler.

Elie nimmt Anatol in den Arm. „Du musst loslassen, Anatol. Dein Fahrrad ist nicht mehr da, und das ist sehr traurig. Ich selbst bin auch ganz deprimiert deswegen. Aber Du kannst es nicht ändern. Vor allem kannst Du nicht erzwingen, dass das Fahrrad zurückkommt… vielleicht hast Du Glück und wir finden es zufällig wieder. Aber ich glaube nicht, dass Du es bei Deinen nächtlichen Suchaktionen wiederfinden wirst. Du kannst vor Müdigkeit schon nicht mehr aus den Augen gucken.“

Anatol laufen wieder Tränen über die Wangen. Er hatte sein Fahrrad über alles geliebt. Aber er sieht ein, dass er heute vor allem eines braucht: Schlaf.

Die Suche wird er nicht aufgeben. „Loslassen“ wird Anatol noch lernen müssen.

Ich habe indessen herausgefunden, dass die Firma Victoria nach mehreren Inhaberwechseln immer noch existiert und weiter hochwertige Fahrräder herstellt. Für morgen nehme ich mir vor, heimlich dort anzurufen und unsere Fahrrad-Misere zu schildern. Vielleicht kann man mir dort weiterhelfen.

78. Kapitel – Verlust… das geliebte Victoria-Fahrrad

Anatol weint seit vorhin nur noch. Sein wunderschönes azurblaues Victoria-Fahrrad ist weg – für immer.

Er hatte das Fahrrad in den Keller gestellt und es dort sicher geglaubt. Normalerweise war es immer abgeschlossen – aber für die Fahrt nach Montbard vor 10 Tagen hatten wir das Schloss von Anatols Rad genommen, um mein Fahrrad damit zu sichern. Anatol hatte dann vergessen, sein Rad wieder abzuschließen…

Ein früherer Nachbar war gestern im Haus gewesen, um Sachen abzuholen. Diese Gelegenheit hatte er genutzt, um den Leuten aus dem ersten Stock zu sagen, dass das blaue Fahrrad offenbar herrenlos sei – jeder könne es benutzen.

Meine Nachbarn aus dem ersten Stock hatten das Rad daher gestern ihrer Tochter geliehen. Diese war damit zu einem Open Air Konzert gefahren, hatte es dort mit anderen Rädern anschließen lassen, aber nicht aufgepasst, als die anderen Räder aufgeschlossen worden waren.

Als sie um 5 Uhr früh das Fahrrad suchte, war es weg.

Anatol hatte es 1979 geschenkt bekommen. Zu Weihnachten. Seitdem hatte es ihn nicht mehr verlassen. Der Butler weint und weint und weint – Ihr könnt es Euch gar nicht vorstellen.

Morgen gehe ich zur Polizei und erstatte Anzeige, aber ohne Hoffnung.

Was mache ich nur mit Anatol… das Fahrrad ist unersetzlich. Ein neues Rad wollten die Nachbarn bereits beschaffen, um Anatol zu trösten, oder ihm Geld für ein neues Rad geben – aber darum geht es nicht. Kein Geld dieser Welt wird jemals Anatols Fahrrad, das 1979 unter dem Weihnachtsbaum stand, ersetzen können.

Ich habe Anatol nun gesagt, dass es ok ist, wenn er um sein Fahrrad weint. Als meinem Vater 1984 sein Fahrrad – auch ein Victoria-Rad – gestohlen wurde, habe er auch geweint. Obwohl er schon 45 Jahre alt war.

Das Fahrrad meines Vaters habe ich jedoch ein Jahr später wieder gefunden… und zwar hatte ich jemanden damit durch die Stadt fahren sehen: diese Person hatte ich damals gestellt, das Fahrrad gesichert und die Polizei gerufen … so bekam mein Vater sein Rad wieder. Wunder geschehen manchmal.

Ich konnte Anatol mit dieser Geschichte etwas beruhigen. Vielleicht geschieht ja noch einmal ein Wunder. Andernfalls muss Anatol sich damit abfinden, dass unser schönes blaues Fahrrad in die ewigen Jagdgründe der Fahrräder eingegangen ist und nur in seiner Erinnerung weiterleben wird.

Eben ist Anatol in sein Nestchen gekrochen und will jetzt versuchen, zu schlafen. Dieser Tag hat ihn sehr mitgenommen.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich, bleib wach und munter!

Joseph von Eichendorff