148. Kapitel – Die Fahrradkette

Ein verregnetes, kaltes Osterwochenende hat Anatols Laune auf den Nullpunkt sinken lassen.

Zeternd und schimpfend ist er in der Küche verschwunden, nachdem ich die alljährliche Ostereiersuche im Park wegen Dauerregens abgesagt und mich dann auch noch ins Büro verabschiedet hatte, um dort endlich mehrere liegengebliebene Akten zu ordnen und wegzuräumen.

Gegen 17 Uhr – pünktlich zum Tee – erscheine ich wieder zu Hause, in der Hoffnung, eine gemütliche Teestunde mit den Sauriern zu verbringen.

Anatol sitzt indessen griesgrämig am Schreibtisch – in die Monatsabrechnung vertieft. Elie hat sich mit seinem Buch – „Kapitän Bontekoes Schiffsjungen“ – in sein Nestchen verkrochen und schmökert. „Ist gerade ganz spannend!“ ruft er. „Ich will keinen Tee – muss weiterlesen!“

Ich setze das Teewasser auf und stelle die Tassen auf den Tisch. „Gibt es denn keinen Kuchen …?“ frage ich Anatol, meine Enttäuschung kaum verbergend.

„Nein, es gibt keinen Kuchen!“ pampt mich der Saurier an. „Ich habe auch noch anderes zu tun, als Kuchen zu backen und den Haushalt zu führen! Deine Monatsabrechnung ist diesmal eine einzige Katastrophe. Für die werde ich noch bis heute abend brauchen! Ist es denn zu fassen – Du hast diesen Monat nicht eine, auch nicht zwei, sondern gleich drei – in Worten: DREI! – neue Jeans gekauft! Wie geht das eigentlich mit Deinem angeblichen Minimalismus zusammen?“

Wutschnaubend vertieft sich das Untier wieder in Kassenzettel, Quittungen und Kontoauszüge – und unterstreicht seine Rage durch penetrantes Rascheln in dem Papierberg.

Ein wenig beschämt sehe ich an mir herunter und betrachte meine wunderschöne neue Jeans. Sie sieht nicht nur großartig aus, sie passt auch vorzüglich. Nichts engt ein, nichts kneift. Eine Offenbarung, nachdem ich meine geliebten alten Jeans nur noch unter Qualen und massiver Kraftaufwendung hatte anziehen und zumachen können – von Wagnissen wie sich damit hinzusetzen ganz zu schweigen.

Ich setze zur Gegenwehr an. „Du bist schuld, Anatol! Wenn Du nicht ständig diese fettigen Bratkartoffeln … “ hier werde ich werde unterbrochen: der Saurier stößt einen Wutschrei aus.

„Ja ist es denn zu fassen?“ poltert er los. „Du hast schon wieder eine neue Fahrradkette aufziehen lassen!? Die letzte war doch erst im Oktober! Das ist einfach nicht möglich – drei Fahrradketten in nicht mal anderthalb Jahren!“

Anatol hat den Kassenzettel des Fahrradladens entdeckt.

Ich hatte mich selbst gewundert, dass die Fahrradkette schon wieder hatte gewechselt werden müssen. Am Samstag war ich mit dem Fahrrad in der Stadt gewesen und hatte es bei dieser Gelegenheit bei der Radwerkstatt vorbeigebracht. Seit einiger Zeit war mir nämlich aufgefallen, dass in manchen Gängen die Kette (oder der Zahnkranz? das war schwer auszumachen…) etwas durchrutschte. Um keinen größeren Schaden zu erleiden hatte ich das Rad lieber dem Spezialisten gezeigt und ihm das Problem beschrieben.

Der Reparateur war kategorisch gewesen: laut Verschleißlehre sei die Kette abgenutzt und müsse ausgetauscht werden. Seufzend hatte ich der Reparatur zugestimmt und war 15 Minuten später mit einem neu beketteten, geölten und perfekt aufgepumpten Rad fröhlich pfeifend direkt zum Jeansladen weitergefahren.

Die dabei produzierten Kassenzettel hatte das Untier nun in meinem Portemonnaie entdeckt – gehört doch die monatliche Abrechnung zu seinen Aufgaben.

„Wenn Du mir jetzt weismachen willst, die Kette sei auch durch meine „fettigen Bratkartoffeln“ abgenutzt worden, werde ich wütend!“ zischt der Butler giftig.

Nun pfeift zum Glück der Wasserkessel – ich eile in die Küche und brühe den Tee auf.

Dann erkläre ich dem Saurier mit Nachdruck, dass sowohl der Jeanskauf als auch die Reparatur der Fahrradkette unabdingbare Investitionen gewesen seien und dass ich darüber nun weiter nicht diskutieren werde. Allerdings schlage ich dem Butler vor, wegen der Fahrradkette im Radforum nachzulesen – dort fände sich vielleicht eine Lösung? In der Tat erfreut mich die Aussicht auf einen halbjährlichen Kettenwechsel nicht. Das Kettenproblem muss gelöst werden.

Anatol lässt die Monatsabrechnung auf dem Schreibtisch liegen und setzt sich zu mir an den Teetisch. Obwohl ich das normalerweise nicht dulde, knipst er das Laptop an und sucht die Webseite des Radforums. Da seine geradezu unterirdische Laune sich nun zumindest etwas hebt, lasse ich ihn diesmal gewähren.

Nachdem eine kurze Suche nach „Kettenwechsel“ und „Kettenabnutzung“ nicht erfolgreich ist, entschließt sich Anatol, ein neues Thema zu erstellen und die Frage des ständigen Kettenverschleißes direkt an die Spezialisten zu richten. Da ich bereits im Radforum Mitglied bin, kann Anatol problemlos unter meinem Pseudonym posten.

Dann genießen wir endlich in Frieden unseren Tee.

Als ich noch einmal zum Teeaufbrühen in die Küche gehe, wirft Anatol einen Blick in das Radforum. Ob wohl schon jemand auf seine Frage geantwortet hat? Aufgeregt rutscht der Saurier auf seinem Stuhl herum. „Da steht was!“ ruft er in die Küche. „Es hat jemand geantwortet!“

Gespannt gieße ich das kochende Wasser in die Teekanne, als ein markerschütternder Wutschrei aus dem Wohnzimmer ertönt. Ich lasse beinahe den Wasserkessel fallen und verschütte das restliche heisse Wasser – glücklicherweise nur über die Küchenanrichte. Fluchend suche ich nach einem Lappen. Es ist glimpflich ausgegangen – ich hätte mich selbst oder einen der Saurier, hätte er auf der Anrichte gestanden, böse verbrühen können. Ich wische die Überschwemmung auf und kehre mitsamt der Teekanne zu einem tobenden Anatol ins Teezimmer zurück.

„Bist Du von allen guten Geistern verlassen, Anatol? Was soll das Gebrüll?“

Anatol antwortet nicht. Voller Wut tippt er auf die Tastatur ein. Da ich nichts Gutes ahne, drücke ich ungerührt den „Aus“-Knopf. Mit einem melodiösen Summen verabschiedet sich der Laptop in den Ruhezustand.

Ein lauter Fluch des Sauriers ist die Antwort. „Jetzt ist mein Beitrag weg! Dabei muss ich darauf reagieren, was der da geschrieben hat! Das glaubst Du nicht!“ Anatol springt aufs Laptop und versucht, das Gerät wieder zum Laufen zu bringen. Ich nehme den Computer an mich und stelle ihn auf den Schrank.

„Schluss jetzt damit. Hat jemand unser Fahrrad wieder als alten Schrott bezeichnet? Das kennst Du doch schon. Darüber braucht man sich nicht aufzuregen.“

„Nein! Das war es nicht. Der hat geschrieben, meine Frage sei wieder mal typisch Frau und unverständlich! Männer könnten kurz und knapp das Problem beschreiben, bei Frauen müsse man das erahnen! Den nehm ich mir vor! Erstens ist das total frauenfeindlich! Und zweitens bin ich keine Frau! Ich kann technische Zusammenhänge erklären!“

Mit einer spitzen Bemerkung mache ich Anatol auf den leichten Widerspruch des eben Gesagten aufmerksam. Anatol wird puterrot und murmelt etwas von „nicht so gemeint!“.

Dann kommt die Wut wieder durch: „Dem erzähl ich was!“

Da Anatol unter meinem Pseudonym geschrieben hatte, mussten die Forenmitglieder fälschlicherweise glauben, hier schreibe eine Frau. Dass dies kein Grund für Macho-Bemerkungen ist, versteht sich von selbst. Leider ist das Miteinander im Internet nicht immer so, wie man es gern hätte.

Ich erkläre Anatol, dass – wie er ja bereits aus dem Woodworkerforum wisse – der Umgangston in manchen Foren sehr rauh sei. Dass das Beste immer noch sei, darauf nicht einzugehen. Schließlich stünde man über derlei Gerede.

Indessen hat es weitere Kommentare gegeben, darunter auch sehr hilfreiche für unser Problem. Ein freundlicher und kompetenter Fahrradkenner schreibt, dass Radlerinnen oft geduldiger und genauer die aufgetretenen Probleme schildern. Hier atmet Anatol auf!

Als Quintessenz ergibt sich, dass wir nun häufiger die Kette werden schmieren und pflegen müssen, und zwar mit Trockenschmierstoff – nicht mit dünnem Nähmaschinenöl.

Da sich die Saurier ihre perfekt manikürten Plüschpfoten nicht mit Kettenfett beschmutzen wollen, wird dies wohl meine Aufgabe sein.

44. Kapitel – Feministinnen Frankreichs, wo seid Ihr?

Gerade will ich das luxuriöse Grand Magazin du Printemps verlassen. Ich habe dort wie üblich meinen fond de teint erstanden, meine letzte Bastion der Nicht-Biokosmetik. Nach und nach habe ich alle meine Kosmetikartikel durch Naturkosmetik ersetzt – einzig der der herkömmlichen Kosmetik entstammende fond de teint hat sich bisher als unumgänglich erwiesen. Er ist nach langjährigen Selbstversuchen der einzige, den ich vertrage, der ein hübsches Finish gibt und dabei einigermaßen bezahlbar bleibt, da er mit meiner carte printemps von Zeit zu Zeit 20% heruntergesetzt wird – so auch heute.

Den kostbaren Erwerb im eleganten Einkaufstütchen gehe ich auf den Ausgang zu – da fängt mich ein junger Mann im Anzug ab und möchte wissen, ob ich freundlicherweise für eine Kundenbefragung zur Verfügung stünde. Sie würde nur wenige Minuten in Anspruch nehmen.

Etwas entnervt willige ich ein. Es kann nicht ewig dauern, und irgendwie muss der junge Mann nun auch sein Geld verdienen, sage ich mir. Geduldig lasse ich mir Fragen über mein allgemeines Kaufverhalten und meinen heutigen Einkauf stellen und gebe bereitwillig Auskunft. Die Befragung sei fast zuende, sagt der junge Mann. Er müsse jetzt nur noch wissen, welchen Beruf mein Familienchef ausübe.

Ich glaube, mich verhört haben zu müssen – und bitte den jungen Herrn, die Frage zu wiederholen.

„Welchen Beruf übt Ihr Familienchef aus, s’il vous plaît?“

Ich räuspere mich. „Wenn Sie mir bitte erklären würden, was ein „Familienchef“ ist?“

„Aber gern. Wir brauchen diese Einordnung für unsere Umfragen. Der Familienchef ist in Frankreich der in der Familie lebende Mann. Das männliche Geschlecht ist hier ausschlaggebend. In Deutschland würde man nach dem Hauptverdiener fragen, also nach der Person, die am meisten Geld für die Familie verdient. Aber hier in Frankreich ist es immer der Mann, egal was er verdient.“

Das Blut weicht mir für einen Moment aus dem Gesicht. Ich kneife mich – ja: wir schreiben das Jahr 2014, ich befinde mich im Printemps von Strasbourg, der Haupstadt Europas – die Frauenbewegung ist 50 Jahre alt, Frauen besitzen das Wahlrecht und dürfen ohne Erlaubnis ihres Mannes einen Beruf ausüben und ein Konto eröffnen. Aber eine Kundenbefragung über den Kauf eines von ihrem eigenen Geld erstandenen fond de teints muss eine Frau mit der Angabe „Mein – männlicher – Familienchef ist von Beruf xyz“ abschließen.

Ich bin außer mir und verleihe dem auch deutlich Ausdruck. Ob dem jungen Herrn die Absurdität, ja die Idiotie seiner Frage nicht bewusst sei? Ich zitiere die Suffragettenbewegung des späten 19. Jahrhunderts, bemühe tausende verbrannter BHs der 60er Jahre, erwähne das MLF von Antoinette Fouque und die Frauenbewegung Alice Schwarzers – ja, sogar Olympe de Gouges führe ich an. Ob er allen Ernstes vor diesem Hintergrund noch in der Lage sei, eine so irrwitzige Frage zu stellen wie die nach einem „männlichen Familienchef“? Mittlerweile steht mir die Zornesröte im Gesicht.

Der junge Mann wirkt verunsichert. „Die Frage steht hier aber im Fragebogen. Ich habe Anweisung, sie so zu stellen. Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie dadurch verärgert habe. Vielleicht können wir die Frage so umformulieren: ‚Welchen Beruf übt der in Ihrer Familie lebende Mann aus‘?“

Ich explodiere. Gerade will ich dem jungen Mann wutentbrannt entgegenschleudern „In meiner Familie bin einzig und allein ICH die Chefin!“, da kommt mir eine Idee.

„Es ist also nur ausschlaggebend, was ein männliches Wesen in meiner Familie beruflich tut?“

„Ja, genau!“ seufzt der junge Mann erleichtert und zückt seinen Bleistift, um meine Antwort in seinen Fragebogen einzutragen und dann schnell die unbequeme Kundin, die ich offenkundig bin, aus dem Einkaufstempel zu entlassen.

„Dann schreiben Sie bitte: Der Familienchef ist Haushalts-Stoffdinosaurier und heisst Anatol. Das entspricht auch der Wahrheit – ausreichend eingebildet ist er jedenfalls dafür. Sie können das nicht in Ihren Fragebogen aufnehmen? Nun gut, da gibt es auch einen stellvertretenden Chef: dieser ist von Beruf Hauskater. Allerdings ist er kastriert. Gilt das trotzdem als „männlich“? Da müssten Sie sich erkundigen? Dann tun Sie das doch bitte. Auf Wiedersehen!“

Wutschnaubend verlasse ich den Printemps, nicht ohne mir vorgenommen zu haben, der Direktion einen bitterbösen Brief zu schreiben. Über die nun in den Fragebogen aufgenommene Berufsbezeichnung des vermeintlichen Familienchefs als „Haushaltsdinosaurier“ bzw. „kastrierter Hauskater“ freue ich mich allerdings diebisch. Ob den französischen Meinungsforschungsinstituten wohl noch in diesem Jahrhundert klar wird, wie rückständig sie sind? Es bliebe zu hoffen.

Zuhause stellt Anatol mir unverfroren die Frage, wozu man als Feministin denn eigentlich einen fond de teint benötige? Für diese respektlose Äußerung drohe ich dem Butler mit dem Entzug des Skateboards, woraufhin er sich tatsächlich für die Frage entschuldigt.

Elie sagt schüchtern, er finde, auch Feministinnen dürften sich hübsch machen. Oder sollten nur unemanzipierte Frauen Schminke benutzen? Das wäre doch wirklich nicht zu wünschen – wie würde das denn aussehen.

In puncto Rollenverständnis ist wohl bei beiden Butlern noch einiges aufzuarbeiten.

36. Kapitel – Gender Studies I

Eben gerade kommen Anatol und Elie von Annas Dinosauriergeburtstag zurück. Ich höre sie das Treppenhaus hinaufspringen – und aufgeregt diskutieren!

Foto 4Anatol ist zwar eigentlich nicht eingeladen gewesen, weil Anna und ihre Freunde deutlich jünger sind als Anatol. Annas Eltern wollten aber gern noch einen weiteren „großer“ Dinosaurier dabei haben, der ihnen helfen würde, die Spiele aufzubauen, den ganz Kleinen die Spielregeln zu erklären und beim Kuchenessen etwas zu assistieren. Für so eine Aufgabe ist Anatol natürlich der perfekte Kandidat.

Auch Schäfchen Mirko ist eingeladen – und so gehen die drei heute um halb vier zusammen los. Annas Zuhause ist nur gegenüber – weit ist es also nicht. Dinogeburtstage beginnen hier immer um halb vier; nicht um drei und nicht um vier – es muss „halb vier“ sein. Warum auch immer!

Nun ist es kurz vor 20 Uhr. Die Geburtstagsfeier ist vorbei. Es muss hoch hergegangen sein, denn Anatol und Elie kommen mit geröteten Gesichtchen zur Haustür herein – weiter in eine hitzige Diskussion vertieft!

„Anatol. Elie!“ sage ich. „Was ist denn los? Ihr geht jetzt bitte in die Badewanne, zieht Euch Eure Schlafanzüge an, und dann ab ins Nestchen. Da dürft Ihr mir alles erzählen, was Euch gerade so bewegt.“

„Nein!“ ruft Elie. „Ich will nicht in die Badewanne! Und ich will mich auch nicht beruhigen! Ich ärgere mich so sehr!“

So habe ich Elie noch nie erlebt. Ich bekomme Angst, dass er sich mit Anatol gestritten haben könnte – aber es sieht eher so aus, als ob sie sich gemeinsam über etwas aufgeregt hätten.

Ich spreche ein Machtwort. „Ganz egal, worüber Ihr Euch geärgert habt, nun geht es in die Wanne. Keine Widerrede!“ Anatol – obwohl ihm die Zornesröte noch im Gesicht steht – pflichtet mir bei. „Elie, ein Bad kann Dir nur gut tun. Es hat sowieso keinen Zweck, dass wir uns so aufregen.“

„Aber … Du kannst doch nicht einfach so aufgeben, Anatol!“ ruft Elie – und bricht in Verzweiflungstränen aus.

Nun muss ich handeln. Energisch packe ich die beiden Butler am Schlafittchen und setzte sie in das bereits eingelassene Badewasser. Elie zappelt wütend und versucht sogar (allerdings erfolglos), mich zu beissen – eine Reflexreaktion, die ich ihm nicht übel nehme – beruhigt sich aber schließlich im warmen Lavendelbad, als Anatol ihn stumm in den Arm nimmt.

Eine Viertelstunde später sitzen die beiden im Nestchen und trinken einen warmen Kakao. Kakao hilft in allen Lebenslagen.

„Was ist denn bei Anna passiert? Ich hoffe, dass es keinen Zwischenfall gegeben hat, der dem armen Mädchen den Geburtstag verdorben hat?“

„Herr Hase ist schuld!“ ruft Elie. „Der hat angefangen, ganz böse Dinge zu sagen!“

Nun berichtet Anatol. Der Dinogeburtstag habe sehr friedlich begonnen. Die kleinen Dinos hätten sich mit Topfschlagen, Blinder Dino und Flaschendrehen vergnügt. Anna habe wunderschöne Geschenke bekommen – Elie habe Mona mitgebracht, die anderen Gäste Spielzeug und Bücher. Das mit Abstand tollste Geschenk sei allerdings ein Piratenkostüm gewesen, das Anna von ihren Eltern geschneidert bekommen habe. Annas Eltern, die der alternativen Szene angehören, haben nämlich eine Schneiderei, in der sie ausgefallene, elegante Dinomode entwerfen, die man sonst nirgendwo finden würde. In den 70er Jahren hätte man sie sicher als Blumenkinder bezeichnet, aber diesen Terminus kennen heute nur noch wenige Menschen.

Anna habe das Kostüm gleich anziehen dürfen – und sich so in einen verwegenen, überaus hübschen, säbelschwingenden kleinen Piraten verwandelt. Ich sehe Elie an seinem Gesichtsausdruck an, dass er sich in diesem Augenblick unsterblich in den Anna-Piraten verliebt haben muss.

Anatol bestätigt meine Vermutung, als er schildert, dass Elie der kleinen Anna nicht mehr von der Seite gewichen sei und die Augen nicht mehr von ihr habe lassen können. Der Pirat hatte ihm ganz klar den Kopf verdreht.

Anatol bemerkt, dass das sehr süß gewesen sei und dass es alle Anwesenden natürlich bemerkt hätten – ohne daran in irgendeiner Weise Anstoß zu nehmen.

Als der Pirat beim Flaschendrehen gewonnen habe, sei es zum Eklat gekommen. Der Gewinner dürfe sich nämlich beim Flaschendrehen den Dino aussuchen, der neben ihm sitzen darf. Anna habe sich Elie ausgesucht – und nicht nur das: als sich Elie mit hochroten Wangen neben sie gesetzt habe, habe sie ihm ganz zärtlich und behutsam einen echten Piratenkuss mitten auf den Mund gegeben. Elie wähnte sich einer Ohnmacht nahe, während die Geburtstagsgäste fröhlich lachten und klatschten, und „Ein Hoch auf unser Piratenpaar“ riefen.

Und in eben diesem Augenblick sei Herr Hase, ein Urzeitsaurier – genauer: ein Nyasasaurus – hereingekommen. Herr Hase ist der Vater von Eliane, einer Freundin von Anna. Und der musste nun ausgerechnet in dem Moment ins Zimmer platzen, als der Pirat Elie küsste.

Herr Hase sei vor Wut rot angelaufen und habe Eliane befohlen, die Feier sofort zu verlassen. Dann habe er Annas Eltern angeherrscht, er hätte niemals erlaubt, dass Eliane einen Nachmittag in einem solchen Sündenpfuhl verbrächte, wenn er es nur vorher gewusst hätte. Das Ganze werde noch Konsequenzen haben, dessen sollten sie sich gewiss sein.

Annas Eltern seien vor Entsetzen stumm gewesen.

Hier habe Anatol sich eingemischt: Worin der gnädige Herr denn bitte einen Sündenpfuhl erblicken würde? Er selbst sehe nur eine Runde von kleinen Sauriern, die bis eben gerade fröhlich miteinander gefeiert hätten und dabei keine nennenswerten Sünden begangen hätten – von einem übermäßigen Kuchenkonsum einmal abgesehen.

Nun habe Herr Hase losgewettert. Dass es eine Ungeheuerlichkeit sei, auf einer Geburtstagsfeier zwei sich küssende Saurierjungen anzutreffen. Dass solche neumodischen Verirrungen zu verbieten seien und er es Eliane nie wieder erlauben werde, mit Anna zu spielen. Und dass er gegen Annas Eltern noch gesondert vorgehen werde!

Anatol habe mit der ihm eigenen Ironie angemerkt, dass es – obschon es Anatols Meinung nach ganz gleichgültig wäre, ob sich  nun Jungen oder Mädchen küssten – dem gnädigen Herrn wohl nicht aufgefallen sei, dass es sich bei dem hier küssenden Paar sehr wohl um ein Mädchen und einen Jungen handele. Ob er seine Äußerungen in diesem Lichte nicht noch einmal überdenken wolle?

Dies habe dem Urzeitsaurier aber den Wind nicht aus den Segeln genommen. Im Gegenteil – er wurde noch wütender, soweit das überhaupt möglich war. Ein Sittenverfall sei es, und ein Greuel, dass man althergebrachte Geschlechtergrenzen willkürlich verschieben würde! Dass man Mädchen erlaubte, sich wie Jungen zu kleiden und zu verhalten – und dass Jungen zu Mädchen gemacht würden. In seiner Welt seien Jungen noch echte Jungen, und ein Mädchen würde sich auch wie ein solches benehmen.

Anatol habe es sich an dieser Stelle nicht verkneifen können, Herrn Hase darauf hinzuweisen, dass das, was er als „seine Welt“ bezeichne, seit 243 Millionen Jahren nicht mehr existiere. Die Trias – das Zeitalter der Nyasasaurier – sei, sollte dies dem gnädigen Herrn nicht aufgefallen sein, mittlerweile vorüber, und die damaligen prähistorischen Moralvorstellungen obsolet. Erdzeitgeschichtlich befinde man sich vielmehr aktuell im Quartär.  Dieser Erdzeitabschnitt habe tiefgreifende gesellschaftliche Entwicklungen mit sich gebracht. Dazu gehöre unter anderem, dass ein Dinosauriermädchen im Piratenkostüm einen schüchternen und sehr verliebten kleinen Diplodocus küssen dürfe – und dass es jedem Saurier selbst überlassen sei, ob er lieber Hosen oder Röcke trage.

Leider hätten diese Äußerungen Herrn Hase gänzlich zur Weissglut gebracht. Er habe Anatol als „Hippie“ und „verkappten Feministen“ beschimpft und Annas Eltern als Anhänger der Gendertheorie abgekanzelt. All das werde Konsequenzen haben! Wutschnaubend habe er – Eliane hinter sich herziehend – die Feier verlassen.

Zurück blieben konsternierte Gäste, eine weinende Anna und das entgeisterte Elternpaar. Ich muss sagen, dass eine solche Szene auch mich aus der Fassung gebracht hätte.

Umso bewundernswerter sei die Reaktion der Eltern von Anna gewesen, berichtet Anatol. Sie hätten die Geburtstagsfeier nämlich nicht einfach um 18 Uhr wie geplant beendet. Stattdessen hätten sie Anatol darum gebeten, noch etwas länger zu bleiben und ein Abendessen für alle Gäste zuzubereiten.

Das Abendessen sei mitten im Wohnzimmer auf dem Boden serviert worden. Alle Gäste hätten nämlich nicht Platz am Esstisch gehabt. Jeder habe sich nehmen dürfen, was er mochte – oder auch vom Tellerchen des Nachbarn mitnaschen.

Annas Eltern hätten nun erkärt, dass Dinosaurierkinder nicht immer so frei erzogen worden seien, wie es heute meist der Fall sei. Dass es Zeiten gegeben habe, in denen kleine Sauriermädchen nur Mädchenkleider tragen und Mädchenspiele spielen durften. Dass sie nicht dasselbe in der Schule lernten wie die Dinojungen und oft nicht einmal in die Schule gehen durften. Dass sie später, wenn sie erwachsen wurden, nicht die selben Rechte hatten wie die männlichen Dinosaurier und nur fürs Kochen da waren. Und dass dies auch heute noch in manchen Ländern der Welt so gehandhabt würde.

Diese Zeiten seien hierzulande vorbei. Das Piratenkostüm sei nicht nur ein Spielanzug – es sei auch ein Symbol für diese Entwicklung, in der Dinomädchen genau dasselbe tun dürften wie Dinojungen. Und genau deshalb sei es auch Leuten wie dem Urzeitsaurier so ein Dorn im Auge – weil es ihnen zeigte, dass die Ungleichbehandlung nicht mehr gewünscht sei und der Vergangenheit angehöre.

Elie habe verunsichert gefragt, ob das denn auch umgekehrt für Dinosaurierjungen gelten würde? Ob er, wenn er das gern tun würde, auch ein Kleidchen tragen dürfte? Annas Eltern hätten gelacht und Elie angeboten, ihm – sollte er das wünschen – gern ein Kleidchen genau nach seinen Vorstellungen zu schneidern. Elie wird also demnächst dort zur Anprobe gehen!

Während Anatol in der Küche Brot gebacken und veganen Aufschnitt und Käse zurechtgemacht habe (zum Nachtisch sollte es Vollkornbrot mit Zuckerrübensirup geben – was bei uns wegen der damit verbundenen Schweinerei verboten ist), hätten die kleinen Gäste noch sehr aufgeregt diskutiert – auch wegen Eliane. Was könne man denn nur für Eliane tun? Hierfür habe sich allerdings an diesem Abend keine Lösung mehr finden lassen.

Ich schlage meinen beiden Butlern nun vor, dieses in der Tat aufwühlende Ereignis zu überschlafen und morgen ausgeruht noch einmal darüber nachzudenken.

Bis dahin wünsche ich Elie wilde Piratenträume und Anatol eine erholsame Nacht.

Hier gehts zur Fortsetzung: Gender Studies II