124. Kapitel – The Onion Router für Dino-Dummies

IMG_3590Nachdem kürzlich unsere grenzenlose Unwissenheit in Sachen Tor-Netzwerk öffentlich zu Tage getreten ist, habe ich die Saurier angewiesen, eine großangelegte Recherche über Tor anzustellen und daraus ein schriftliches Referat, welches auch ich imstande bin zu verstehen, für den Blog zu erarbeiten.

Die ersten Ergebnisse sind ernüchternd.

Tor ist ein Netzwerk zur Anonymisierung von Verbindungsdaten. Es wird für TCP-Verbindungen eingesetzt und kann beispielsweise für Web-Browsing, Instant Messaging, IRC, SSH, E-Mail, P2P und anderes benutzt werden. Tor schützt seine Nutzer vor der Analyse des Datenverkehrs. Es basiert auf der originalen Idee des Onion-Routings.

Stolz legt Elie mir das Copy-Paste aus Wikipedia – der modernen Variante des Universalspickzettels – vor. „Da steht alles!“ erklärt er fröhlich.

Was verstehe ich?

Richtig – nichts.

Pikiert bestehe ich auf einer Erläuterung. „Steht doch alles da!“ kräht Elie.

„Lesen kann ich! Aber was heisst das denn nun?“ Fast will ich den Saurier am Kragen packen! Dem besseren Verständnis ist dies jedoch nicht dienlich.

Elie kratzt sich am Kopf. „Ja, also erklären was das genau ist … das kann ich nicht. Anatol, weisst Du was das heisst, was da steht?“

Anatol runzelt die Stirn. „Hm also das heisst offenbar, dass Tor irgendwie Verbindungsdaten anonymisiert. Steht ja da. Aber wie es das tut, und warum die im Internet alle vom Darknet sprechen … ja keine Ahnung.“

Wir lesen den Artikel bis zum Ende, aber verstehen immer noch nicht, ob wir Tor nutzen sollten oder nicht, und wie es funktioniert.

Verzweifeltes Klicken im Internet bringt uns schließlich zu SemperVideo. IMG_3593

Hier sehen wir ein Video nach dem anderen. Die Saurier rufen Ah! und Oh!  Schließlich setzen sie sich an ihr Tablet und bringen den folgenden, ganz allein verfassten Text zu „Papier“ :

Heute haben wir bei SemperVideo mehrere tolle Videos über das Tor Netzwerk gesehen. Wir glauben, dass wir es nun viel besser verstanden haben!

Das Tor Netzwerk heisst so, weil es eine Abkürzung von „The Onion Router“ ist. Warum „Onion“ – das wissen wir leider nicht. Es wurde entwickelt, damit verfolgte Menschen über das Internet Informationen austauschen können, ohne sich in Gefahr zu begeben.

Funktionieren tut es so: man installiert die Tor-Software auf seinem Computer und benutzt den Tor-Browser, der über das Tor-Netzwerk ins Internet führt. Das wird von manchen Leuten das „Darknet“ genannt. Aber dazu kommen wir noch.

Wenn wir über den Tor-Browser im Internet sind und eine Webseite aufrufen, dann verläuft die Verbindung von unserem Computer zu dieser Webseite nicht wie sonst über eine nachverfolgbare Linie, sondern sie hüpft von einem „Tor-Knoten“ zum nächsten. Keiner der Knoten kann nachverfolgt werden, nur der letzte der Reihe, der „Exit-Knoten“. Ein Tor-Knoten, das ist jeder Computer, der die Tor-Software eingerichtet hat – also auch unserer, wenn dort Tor installiert ist. Oft sind diese Verbindungen ziemlich langsam, und sie sind verschlüsselt.

So können wir an eine Information kommen, ohne dass jemand unsere IP – die Nummer unseres Computers – nachverfolgen und so erfahren kann, dass wir eben diese Information im Internet aufgerufen haben. Das kann manchmal sehr wichtig sein.

Bei Tor gibt es auch Email-Programme. Damit kann man Nachrichten ganz anonym versenden und auch bekommen. Wie genau man das einrichtet, wissen wir aber nicht.

Es gibt Webseiten, die man nur über das Tor-Netzwerk erreichen kann. Sie enden nicht auf .de, .com, .org oder so, sondern immer auf .onion. Diese Seiten können nicht nachverfolgt werden; niemand kann herausbekommen, wer sie erstellt hat. Sie können von politisch verfolgten Leuten gemacht werden, die die Sicherheit des Tor-Netzwerks brauchen – aber sie können auch von Bösen betrieben werden, die ungestraft Drogen oder Waffen oder noch viel Schlimmeres dort anbieten wollen. Vor denen haben wir große Angst und möchten ihnen auf keinen Fall begegnen.

Wir wissen deshalb noch nicht, ob wir Tor bei uns installieren oder nicht.

Aber wir finden es toll, dass uns die Videos von SemperVideo so gut dabei geholfen haben, das Tor-Netzwerk zu verstehen!

Ich bin stolz auf die Arbeit meiner Saurier. Auch wenn wir unsere Recherchen noch weiter vertiefen sollten, sind wir doch zufrieden, zumindest im Ansatz verstanden zu haben, was Tor ist.

Wieso allerdings die Information über den Tor-Exitknoten nicht zurückverfolgbar ist, haben wir noch nicht begriffen. Irgendwoher muss diese Information wissen, wohin sie zurück soll. Und wenn sie das weiss, muss es Möglichkeiten geben, es herauszufinden.

Sicher entspringt diese Frage unserer grenzenlosen Unkenntnis.

Wenn es jemanden gibt, der uns hierzu – sauriergeeignet – aufklären kann: wir wären sehr dankbar!

57. Kapitel – Das Referat

Bald sind Schulferien. Für Anatol steht vorher noch das große Physik-Referat an, das er vor der ganzen Klasse – und insbesondere vor Angelo, dem Physikcrack – halten muss. In wenigen Tagen ist es soweit. Anatol ist sehr aufgeregt.

Warum das Referat? Anatol ist in Physik nicht sonderlich begabt. All meine Versuche, ihm Nachhilfe zu geben, sind kläglich gescheitert. Das Schuljahr zog sich mit Vieren und Fünfen in Physik hin, bis der Physiklehrer Herr Hildebrandt endlich im 2. Halbjahr ankündigte, man werde nun bis zum Ende des Schujahres Atomphysik durchnehmen.

Obwohl ich es mir mit rechten Dingen nicht erklären kann, schreibt Anatol in Physik plötzlich Einsen. Das Gebiet macht ihm Spaß, und immer öfter sehe ich ihn in sein Physikbuch und diverse andere Physik-Unterlagen vertieft am Schreibtisch sitzen. Woher die Begeisterung für dieses Fach kommt, kann ich nicht nachvollziehen. Anatol meint dazu nur „Ich verstehe das einfach. Atomphysik ist ganz logisch aufgebaut. Deshalb sind die Physikarbeiten für mich nicht schwierig. Bei der schreckliche Elektrophysik habe ich nie auch nur das Mindeste begriffen.“

In der Tat denke ich mit Grauen an die tränenverschmierten Physikarbeiten zurück, unter denen in großen roten Buchstaben das vernichtende Urteil „Ungenügend!“ stand. Die letzte Arbeit, die ungläubig mit einer „Eins“ unterzeichnet war, war hingegen ein Fest gewesen.

Herr Hildebrandt hatte die Wandlung Anatols vom Klassenletzten zum Einserkandidaten mit Freude beobachtet und war nun gewillt, Anatol in Physik eine glatte Eins im Schulzeugnis zu geben. Da aber ein Schüler von einer Vier minus nicht auf eine Eins hochgesetzt werden kann, ohne dass das Lehrerkollegium einbezogen wird, hatte Herr Hildebrandt eine Konferenz einberufen, auf der Anatols Fall besprochen wurde. In der folgenden Physikstunde hatte er dann erklärt, Anatol habe einen zusätzlichen Leistungsnachweis zu erbringen, sprich ein Referat über Atomphysik zu halten. Wenn dieses ebenfalls mit einer Eins bewertet würde, stehe der Eins im Jahreszeugnis nichts mehr im Wege. Dies habe das Lehrerkollegium entschieden.

Angelo, der Überflieger, hatte in der Pause verkündet, ein solches Referat sei außerhalb Anatols intellektueller Reichweite. Wer die letzten zwei Schuljahre in Physik nur mit Mühe die Vier habe halten können, der käme nicht auf eine Eins, das sei ausgeschlossen.

Angelo darf, obwohl mehrere Jahre jünger als Anatol, am Physikunterricht der Oberstufe teilnehmen, da er vor einem Jahr den ersten Preis bei „Dinojugend forscht“ gewonnen hat.

Anatol hatte voller Wut geantwortet „Wir werden ja sehen!“ und war dann schnell nach Hause gegangen. In Wirklichkeit befürchtet er natürlich, dass Angelo Recht behält. Das ist auch der Grund, warum er nun in jeder freien Minute sein Physikreferat überarbeitet. Leider kann ich ihm auf diesem Gebiet nicht wirklich helfen, und Elie öffnet nur große Augen, wenn er das Wort „Atom“ hört.

IMG_2457„Das Zeug haben sie doch in diesen Atomkraftwerken, die wir alle nicht mehr wollen! Das ist es doch? Ich will darüber lieber gar nichts wissen, ich habe Angst vor den Atomen! Deshalb habe ich auf meinem Ranzen ja auch einen Aufkleber mit „Atomkraft nein Danke“ drauf, und mein Zimmer ist zur atomwaffenfreien Zone erklärt!“

Elie hat vor kurzem „Die Wolke“ von Gudrun Pausewang gelesen und ist seitdem erklärter Gegner von Atomwaffen und Kernkraft. Zum Glück weiss er nicht so genau, woher unser Strom kommt.

Anatol stöhnt. „Elie, ich beschäftige mich rein theoretisch mit Atomphysik. Da ist nichts mit nuklearer Strahlung oder so. In meinem Referat geht es nicht um Kernspaltung. Es ist völlig ungefährlich. Du brauchst nicht mal in Deine atomwaffenfreie Zone zu gehen, um in Sicherheit zu sein. Außerdem bist Du sowieso die ganze Zeit von Atomen umgeben – selbst in Deinem atomwaffenfreien Zimmer. Alles besteht aus Atomen. Übrigens kann man sogar Atomphysiker sein und sich trotzdem gegen Atomwaffen und Kernkraftwerke aussprechen.“

Elie leuchtet dies nicht ein. Seine große Angst – neben der vor einem Atomkrieg – ist die, dass Anatol sich bei seinem Referat unendlich blamieren und Angelo ihn in Elies Klasse, in die er eigentlich geht, zum allgemeinen Gespött machen könnte – womit dann auch Elie der Lächerlichkeit preisgegeben wäre.

Diese Sorge ist durchaus berechtigt – hat doch Angelo angekündigt, dass er jetzt schon Zwischenfragen für das Referat im Sinn habe, von denen er ausginge, dass Anatol sie jedenfalls nicht werde beantworten können.

Heute ist der große Tag. In der Physik-Doppelstunde soll Anatol sein Referat halten. Gefasst, den Ranzen fest auf den Rücken geschnallt verlässt er das Haus. Das Lampenfieber sieht man ihm von weitem an.

Am Tag zuvor hatte Anatol darauf bestanden, das Referat einmal vor Elie zu halten – zur Probe. Ich durfte dabei nicht anwesend sein; angeblich hätte ich sowieso nichts verstanden. In Wirklichkeit war Anatol die Probevorlesung peinlich gewesen und so kam allein Elie in ihren Genuß. Eine dreiviertel Stunde hatte das Ganze gedauert, denn Anatol soll mit dem Referat eine Schulstunde füllen. Das war die Vorgabe von Herrn Hildebrandt gewesen. Nach 45 Minuten hatte ich verstohlen ins Dino-Zimmer geguckt: Anatol hatte mit hochrotem Kopf seine Unterlagen studiert, in denen er irgendeine Gleichung zu suchen schien; Elie war eingeschlafen und schnurchelte auf dem Sofa vor sich hin. Das hochwissenschaftliche Thema sei für Elie offenbar zu komplex gewesen, so Anatol. Nun gut.

Heute ab halb 11 heisst es also Daumen drücken. An der Physikstunde kann ich natürlich nicht teilnehmen.

Gegen 13 Uhr, kurz vor Schulschluss, stehe ich aber dennoch vor dem Max-Planck-Gymnasium, um die beiden Dinos auf dem Nachhauseweg abzufangen und zu erfahren, wie das Referat verlaufen ist.

Die Schultüre öffnet sich, und unzählige Schüler verlassen lachend und lärmend die Schule. Wo sind Anatol und Elie? Die Schule leert sich – ein paar Nachzügler verlassen das Gebäude noch, dann fällt die Tür mit einem Knarren ins Schloss.

Wo sind meine beiden Saurier?

Ich betrete die Schule, auf die ich selbst vor Jahren gegangen bin: ein eleganter Bau der Gründerzeit mit einem atemberaubend schönen Treppenaufgang.

Heute habe ich allerdings für die Treppe keine Augen, denn ich suche meine Butler.

Eine Lehrerin kommt mir entgegen – ich frage sie nach den beiden Dinos. Sie wirft mir einen strengen Blick zu. „Elie sitzt nach. Er hat einen anderen Schüler angegriffen. Das Lehrerkollegium erwägt einen Schulverweis.“

Mir rutscht das Herz in die Hose. „Elie??“ frage ich entsetzt. „Elie hat sich noch nie aggressiv verhalten. Es muss sich um ein Missverständnis handeln! Und was ist mit Anatol?“

Die Dame führt mich zum Lehrerzimmer. „Anatol hatte heute ein Referat, in dem seine Fähigkeiten in Physik überprüft werden sollten. Da das Referat auf Grund eines Zwischenfalls nicht ordnungsgemäß zuende geführt werden konnte, hält er es nun noch einmal im Lehrerzimmer. Bitte warten Sie hier, bis Anatol fertig ist.“

Davon kann keine Rede sein. Ich warte hier auf keinen Fall, während Elie in Einzelhaft nachsitzt. Ich verlange, Elie sofort sehen zu dürfen. Die Lehrerin will dies zunächst nicht gewähren, nachdem ich aber mit Nachdruck darauf bestehe, werde ich in den „Karzer“ geführt. Ich bin schockiert. Eine solche Einrichtung gab es zu meiner Zeit nicht in dieser Schule.

Die Dame mustert mich scharf. „Sie müssen in den 70er und 80er Jahren zur Schule gegangen sein. Damals war ja alles erlaubt. Sogar Schulbesetzungen wurden geduldet. Diese Zeiten sind vorbei!“

Ich schlucke. Das ist nicht die Schule, die ich einmal gekannt habe.

Die Lehrerin öffnet ein kleines Schulzimmer – den „Karzer“. Erleichtert sehe ich Elie an einer Schulbank sitzen, ein freundlicher Lehrer muss ihm Papier und Wachsmaler dagelassen haben. Elie springt von der Bank auf und ist mit einem Satz auf meinem Arm. Um seine Fassung ist es geschehen: hemmungslos beginnt er zu weinen.

„Sie wollen mich von der Schule werfen!“ schluchzt er. „Dabei ist es alles nur Angelos Schuld!“

„Elie, beruhige Dich. Ich bin sicher, dass sich alles klären lässt. Warum ist Anatol nicht bei Dir geblieben? Ich hätte das eigentlich von ihm erwartet!“

„Anatol ist in die Lehrerkonferenz einbestellt worden, sie wollten ihm noch Fragen stellen. Da konnte er nicht weg. Ich habe dann in dem Raum hier gesessen und gemalt. Herr Hildebrandt war gar nicht besonders böse auf mich. Er hat mir erlaubt, ein paar Bilder zu malen, während ich auf Anatol warten sollte. Nur die neue Lehrerin, die immer so streng ist, war sehr ungehalten mit mir. Sie spricht immer von Disziplin und Ordnung. Wir sollen lernen, Autoritäten anzuerkennen, sagt sie. Ich verstehe das nicht!“

Ich bin fassungslos. Was ist mit meiner alten Schule geschehen? Als ich 1979 dort in die 5. Klasse kam, sprach niemand von Autorität und Disziplin … wir hatten ein gutes Verhältnis zu allen Lehrern. Nicht einmal der Direktor hatte mit mir geschimpft, als er mich eines Tages von der großen Linde herunterholen musste, auf die ich in der Pause geklettert war. Er hatte nur gesagt „Kleines, das ist gefährlich. Tu das bitte nicht. Du könnstest Dich verletzen.“

Eine antiautoritäre Reformschule war das MPG nicht, das stimmt. Aber eine Disziplinaranstalt mitsamt einem Karzer – das hatte es hier nie gegeben.

Ich nehme mir vor, der autoritären Lehrerin bei Gelegenheit einen Vortrag über Reformpädagogik zu halten, obwohl ich weiss, dass diese zur Zeit alles andere als in Mode ist. Aber dafür habe ich im MPG gelernt, dass man manchmal gegen den Strom schwimmen muss.

Ich will nun wissen, was vorgefallen ist.

Elie schildert mir die Ereignisse des Vormittags. Anatols Referat habe in der 6. Stunde, der letzten Stunde vor Schulschluss stattgefunden. Er – Elie – habe in dieser Stunde frei gehabt, und da er Anatols Referat im Original habe miterleben wollen, habe er sich heimlich in den Physikraum eingeschlichen. Einigen Schülern aus Anatols Klasse sei er natürlich aufgefallen, aber die hätten ihn hinter ihren Büchern und Federmäppchen versteckt gehalten. So habe Herr Hildebrandt nichts gemerkt.

Anatol habe kaum angefangen zu sprechen, da habe Angelo ihn bereits unterbrochen, und eine Zwischenfrage zur Quantenphysik gestellt. Er hoffe doch, dass Anatol auch dieses Thema behandeln werde? Anatol habe geantwortet, sein Referat widme sich selbstverständlich auch der Quantenphysik. Er werde etwas später dazu kommen und bitte um ein wenig Geduld. Herr Hildebrandt sei außerordentlich beeindruckt gewesen, denn Quantenphysik steht nicht einmal ansatzweise auf dem Lehrplan.

Zunächst habe Anatol die verschiedenen Kernmodelle dargestellt – das sei offenbar für Anfänger gewesen, denn Angelo habe ungeduldig mit seinem Bleistift auf die Schulbank getrommelt. Kurze Zeit später kam die nächste Zwischenfrage. Ob Anatol denn nicht bald auf die Relativitätstheorie zu sprechen kommen wolle? Anatol habe dies bejaht. Das komme gleich!

Herr Hildebrandt habe sich verwundert am Kopf gekratzt. Er hatte sichtlich nicht erwartet, dass Anatol in seinem Referat so weit ausholen würde.

Die nächste Frage von Angelo habe nur kurz auf sich warten lassen. Mit Nachdruck forderte er, dass Anatol an dieser Stelle die berühmte Schrödingergleichung erläutere, und zwar im Hinblick auf nichtrelativistische Quantensysteme – falls Anatol denn wisse, was das sei.

Hier habe Elie sich nicht mehr zurückhalten können. Zum einen habe er die ständige Fragerei als unfair empfunden, zum anderen habe er aber auch befürchtet, dass das Referat sich so noch weit in den Nachmittag hineinziehen würde. Er habe eine solch unbändige Wut auf den smarten Überflieger – Preisträger von Dinojugend forscht und Dinojugend musiziert, schlimmer noch: neuer Schwarm von Anna, Elies heimlicher Liebe – bekommen, dass er das Physikbuch seines Banknachbarn ergriffen, sich mit dem heiseren Schrei „Deine Quanten werd ich Dir zeigen!“ auf Angelo gestürzt und unter Gebrüll mit dem Physikbuch auf den Primus eingeprügelt habe.

Anatols Referat sei damit beendet gewesen. Da es unmöglich erschien, die Aufmerksamkeit der johlenden Schulklasse wieder zu Anatols Vortrag zurückzuholen, seien die Schüler nach Hause geschickt und Anatol ins Lehrerkollegium gebracht worden, wo er das Referat zuende halten durfte.

Elie habe indessen die Zeit mit Malen überbrücken sollen. Die gestrenge Lehrerin habe ihm gesagt, er könne für den Vorfall mit dem Physikbuch von der Schule geworfen werden. Das habe ihm große Angst gemacht. Er habe doch nur Anatol verteidigen wollen … und er habe es nicht mehr ausgehalten, dass das Referat sich länger und länger dahingezogen habe.

Die Tür öffnet sich. Herr Hildebrandt tritt ein, Anatol neben sich. „Anatol hat seine Eins im Zeugnis!“ verkündet er freudestrahlend. „Sein Referat war eine großartige Leistung. Mit Elie sollten Sie hingegen einmal ein ernstes Wort reden. Und nun dürfen Sie endlich in die Mittagspause.“ Er hält uns die Tür auf, flüstert Elie zu „Elie, Schulbücher sind zum Lesen da – nicht zum Schlagen!“ und entlässt uns mit einem Zwinkern in die Freiheit.

Elie will nun doch etwas wissen. „Die ganzen Fragen von Angelo – die zur Quantenphysik, zur Relativitätstheorie und dieser komischen unrealistischen Gleichung – hattest Du das denn alles in deinem Referat drin?“

„Nein.“ sagt Anatol. „Die Fragen von Angelo konnte ich unmöglich beantworten. Das war mir von vorneherein klar. Deshalb hatte ich mir überlegt, ihn mit den Antworten auf später zu vertrösten. Solange, bis mich die Schulklingel irgendwann gerettet hätte. Nun ja, das hast Du ja dann übernommen …“

IMG_1939Elie ist zutiefst zerknirscht. Er möchte am liebsten im Erdboden versinken.

„Du hast also nur geblufft, als Du behauptet hast, das käme alles noch? Und ich dachte, ich sitze da um vier Uhr nachmittags noch … Oh Mann… “

Nun können die Ferien beginnen.

51. Kapitel – Der 10. Mai

Heute ist mein Geburtstag! Schon ganz früh bin ich auf – an meinem Geburtstag habe ich immer sehr viel zu tun.

Eigentlich hatte ich mich auf ein schönes Frühstück mit den Butlern gefreut. Aber was muss ich sehen, als ich verschlafen in die Küche komme?

Nichts ist vorbereitet. Gar nichts. Die Katzen sind nicht gefüttert, die Klos nicht gemacht, der Boden nicht gewischt. Mein Geburtstagsfrühstück werde ich mir selbst zubereiten müssen.

Was ist los mit den Butlern?

Elie sitzt bekümmert im Nestchen. Er ist seit mehreren Tagen nicht ansprechbar. Anna, die verwegene Piratin von nebenan, geht mit Angelo, dem Rivalen aus Elies Klasse (zumindest vermutet Elie das) – und Elie versinkt im Liebeskummer.

Anatol sitzt schon seit 6 Uhr wieder an seiner Physik-Schulaufgabe. Er ist in Physik keine besondere Leuchte, aber der Ehrgeiz hat ihn gepackt. In einer Woche soll er ein wichtiges Referat halten, und unter den Zuhörern wird auch – ja wer wohl – Angelo sein. Anatol will sich auf keinen Fall blamieren und fürchtet nichts mehr als die bohrenden Nachfragen des Überfliegers.

Nachdem ich die Küche, den Flur und das Bad geputzt habe (die Katzen haben die Örtlichkeiten recht extensiv genutzt), setze ich mich auf die Trittleiter an der Küchenablage und will zumindest einen schönen Jasmintee und die leckeren Vollkornbrötchen von Dreher genießen… Und da sehe ich das gesamte Ausmaß der heutigen Morgenkatastrophe: die Marmelade ist alle. Nicht mal darum haben sich die Butler gekümmert!Nun gibt es also trockene Brötchen, und danach muss ich bügeln, bevor ich mich ins Getümmel des Samstagseinkaufs stürze.

Zurück bleiben ein geknickter Elie und der in seine Physik-Unterlagen vertiefte Anatol. Nicht einmal gratuliert haben sie mir.

Ich werde mit den Guten heute abend ein ernstes Wort reden müssen!