87. Kapitel – Äußerlichkeiten…?

Verstohlen mache ich mich am Kleiderschrank zu schaffen. Ich will die schöne dunkle Jeans von Somewhere, die ich damals ein wenig zu groß gekauft hatte, herausfischen und dabei möglichst nicht bemerkt werden.

„Du hast zugenommen!“ tönt es da aus dem Wohnzimmer. Anatol lugt hinter seiner Zeitung hervor, die ein Rascheln von sich gibt. „Es macht jetzt schon eine Kleidergröße aus… Deshalb suchst Du doch die dunkle Denim-Hose, nicht? Die liegt übrigens ganz rechts im Schrank, im zweiten Fach.“

Ich erstarre. Soll ich das Biest packen und kurzerhand aus dem Fenster werfen? Es zu Gulasch verarbeiten? Oder ihm einfach fristlos kündigen?

Meine Wut weicht einer traurigen Einsicht. Ja – ich habe zugenommen. Etwa 6 kg. Offenbar ist dies meiner Migräneprophylaxe – den Betablockern – zu verdanken, die ich seit fast zwei Monaten einnehme. Schlimmer als die 6 kg, die ich zusätzlich mit mir herumschleppe, ist die Tatsache, dass ich sie nicht wieder loswerde – trotz beharrlichen Fastens.

„Anatol, Du Untier! Wie kann man nur so gemein sein!“

Anatol hüpft ins Schlafzimmer und sieht mich mich unverfrorenen an. „Wieso gemein? Es ist eben so, dass Du an gewissen Stellen, die gerade für Jeans relevant sind, etwas mehr geworden bist. Die meisten Leute würden das sogar für eine positive Entwicklung halten.“

Ich schüttle den Kopf. „Nichts ist daran positiv! Ich werde fett – das ist es. Was kann ich nur tun …!“ Fast will ich mich schluchzend auf den Boden setzen.

Elie kuschelt sich an mich. „Also ich persönlich finde, dass Du so besser aussiehst. Die Jeans sitzen einfach schöner so. Knalleng halt! Sogar Angelo ist es aufgefallen.“

Ich bin sprachlos! Wo gucken diese prä-pubertären Saurierbengel hin? Gerade will ich Ohrfeigen androhen (obwohl ich gegen Gewalt in der Erziehung bin – aber hier geht es um etwas anderes!), da verkündet Anatol: „Ab jetzt gibt es eine ganz spezielle Diät – und damit kriegen wir dieses Problem in den Griff. Das wäre ja gelacht.“

Ich weise Anatol darauf hin, dass ich seit mehreren Wochen auf FdH bin – ohne jegliche Auswirkung. Immerhin schaffe ich es so, das – zu hohe – Gewicht zu halten. Dennoch ist FdH ganz klar keine Lösung.

Anatol ist gegen solche radikalen Diäten. Er meint, eine echte Nahrungsumstellung mit mehr Rohkost und weniger Kohlehydraten (insbesondere in Form von Weißmehl) sei in meinem Fall die bessere Alternative. Er verspricht mir für heute Abend einen leckeren Salat mit viel roher Paprika und Möhre. Und er behauptet, ich würde auf keinen Fall hungrig ins Bett gehen.

Ich bin gespannt.

Nachtrag: 18. September 2014

Heute Abend habe ich das erste von Anatol extra „kreierte“ Diätessen bekommen: Pellkartoffeln mit sehr wenig Olivenöl, einer Prise Salz und Pfeffer und etwas Thymian. Schmecken tut es sehr gut! IMG_3018

86. Kapitel – Mina in der Tierklinik der Zwerge

Gestern abend hatte es begonnen.

Mina hatte zum Abendbrot nichts essen wollen. Sie war blass und schlapp in ihr Bettchen gekrochen, hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und sich leise wimmernd zusammengekrümmt. Elie hatte sie nicht einmal streicheln dürfen, da ihr jede Berührung wehgetan hatte.IMG_3002

Anatol und ich waren aufs äußerste besorgt gewesen. Mina war noch nie krank gewesen; sie hatte bisher keinerlei Krankheitszeichen gezeigt, das Unwohlsein war ganz plötzlich gekommen.

Fieber hatte Mina allerdings nicht gehabt.

Anatol – und da war ich mit ihm einer Meinung – hatte gesagt, dass Mina dringend zu einem Arzt müsse; der Zustand sei besorgniserregend, ja möglicherweise lebensbedrohlich. Da die hiesigen Tierärzte weder Dinosaurier noch schwarz-weisse Stoffkühe behandeln, sei es aus seiner Sicht erforderlich, Mina in die Tierklinik der Zwerge zu bringen. Das Zwergen-Ärzteteam sei auf derlei schwierige Fälle spezialisiert; man könne ihnen Mina bedenkenlos anvertrauen.

Mina war zu diesem Zeitpunkt bereits kaum noch ansprechbar gewesen – sie musste schnellstens zu einem Arzt. Nur wie? Der Drachenflugdienst war im Streik (das Bodenpersonal hatte höhere Gehälter gefordert und die Tarifverhandlungen waren in einen Streik der gesamten Belegschaft gemündet) – und mit dem Auto ist die Tierklinik der Zwerge nicht ereichbar: sie liegt gut versteckt mitten im unzugänglichsten, dichtesten Teil des Göttinger Hainbergs. Ausschließlich der Drachenflieger kann dort auf einer kleinen LIchtung landen – alle anderen Krankentransporte müssen zu Fuss durchgeführt werden.

Anatol hatte jedoch gemeint, sein neues Victoria-Trekkingrad müsste die Waldwege auch bewältigen können; die letzten 200 Meter im dunkelsten Teil des Waldes könne man notfalls zu Fuss – das Fahrrad schiebend – zurücklegen.

So waren wir vier – Anatol, Elie und ich, Mina gut in die Krankentragetasche eingemummelt – nach wenigen Stunden Schlaf in aller Frühe auf dem Fahrrad losgefahren, Richtung Hainberg.

Es war allerhöchste Zeit für Mina.

Hier findet Ihr die Fortsetzung im Blog der Tierklinik der Zwerge!

85. Kapitel – Entengrütze: die Fortsetzung

Am Tag nach der Entengrütz-Aktion ist Elie, mit seinem Eimerchen, einem Schrubber und Wischlappen bewaffnet, tatsächlich in Richtung Angelos Villa losgezockelt. Ich war sehr stolz auf ihn, da er ganz allein alle Putzutensilien zusammengesucht hatte und sichtlich bemüht erschien, die Missetat wieder gutzumachen.

Am späten Nachmittag war er wieder zurückgekommen – aber nicht zu Fuß, sondern in der Limousine von Angelos Eltern. Anatol und ich waren sprachlos gewesen. Elie war aus dem Fond der Limousine ausgestiegen, hatte sein Eimerchen, den Schrubber und die Lappen aus dem Heck des Wagens herausgekramt – und hatte dann von Angelos Vater eine riesige Kuchenbox überreicht bekommen, die Elie kaum allein hatte tragen können. Dann war die Limousine mit den schwarzen Scheiben lautlos fortgefahren.

Elie war so überwältigt gewesen, dass er eine Weile gebraucht hatte, um sich etwas zu sammeln. Dann hatte er uns den sagenhaften Nachmittag geschildert, den er gerade erlebt hatte.

Als er bei Angelo eingetroffen sei, habe er die Fassade der Villa wieder strahlend weiss und makellos wie immer vorgefunden. Angelos Mutter habe ihn empfangen und erklärt, die Reinigung habe Angelo allein erledigen müssen – als Strafe dafür, dass er Anatol erst provoziert und dann verhauen hätte. Elie habe sich zwar keinesfalls richtig verhalten, als er die Entengrütze bei ihnen ans Haus geworfen habe, sie fände es aber vorbildlich von ihm, dass er nun mit seinen Putzssachen vorbeikomme und die Grütze beseitigen wolle. Sie habe eine geeignetere „Bestrafung“ für Elie ausgedacht: und zwar wäre es ihr lieb, wenn Elie ihr heute nachmittag beim Kuchenbacken zur Hand gehen wolle. Sie brauche dabei dringend Unterstützung.

Elie sei abwechselnd rot und blass geworden. Er habe gar nicht gewusst, wie ihm geschehen sei – er habe noch nie eine so luxuriös eingerichtete Küche gesehen. Die Küche allein sei größer gewesen als unsere gesamte Wohnung. An dieser Stelle der Erzählung hatte ich mich geräuspert und Elie darum gebeten, hier nicht zu sehr in die Einzelheiten zu gehen.

Angelos Mutter sei sehr nett gewesen. Sie hätte Elie gezeigt, wie man eine Charlotte backt – dann habe Elie verschiedene Torten verzieren und vom Tortenguss naschen dürfen.

Er habe einen tollen Nachmittag verbracht – und Angelos Mutter offenbar auch.

Dann sagt Elie nachdenklich: „Ich glaube, ich weiss, was Angelos Problem ist. Er hat einfach alles – das ist viel zu viel. Es gibt nichts, was er sich noch wünschen kann. Er kann sich auf nichts mehr freuen: er hat schon alles, was man sich wünschen kann. Anatol, der ist nicht auf Dein Fahrrad neidisch gewesen, sondern auf Deine Freude über das Rad. So etwas kennt Angelo gar nicht. Ich glaube, seine Eltern haben das noch gar nicht verstanden – dass sie ihm viel zu viel schenken.“

Anatol und ich schweigen. WIr glauben, dass Elie den Nagel auf den Kopf getroffen hat.

Die Charlotte, die Angelos Eltern Elie mitgegeben haben, ist sicher die beste, die wir je gekostet haben. Ob wir jemals wieder einen so guten Kuchen essen werden? Wir wissen es nicht.

84. Kapitel – Die Woche für unsichtbare Krankheiten

Anatol und Elie haben wieder einmal bei Violetta im Blog gelesen und löchern mich seit vorgestern, dass ich die 30 Fragen über meine Migräne ebenfalls beantworten und hier in den Blog stellen soll.

Eigentlich hatte ich dazu erst keine Lust. Ich spreche überhaupt nicht gern über die Migräne und tue am liebsten so, als sei alles ok. Anatol und Elie sagen aber, gerade Violettas Beispiel zeige, dass es viel besser ist, Migräne sichtbar zu machen und darüber zu sprechen. Vielleicht werde es dann mehr Verständnis dafür geben – und hoffentlich irgendwann ein Heilmittel.

Hier also die Fragenliste, mit meinen Antworten:

Dinge über meine unsichtbare Krankheit, die Ihr vielleicht nicht wisst:

1. Die unsichtbare Krankheit, die ich habe, ist Migräne.
2. Diagnostiziert wurde die Migräne bei mir 1997,
3. aber ich leide schon seit 1976 unter dieser Krankheit.
4. Die größte Veränderung bzw. Anpassung, die ich dieser Krankheit zugestehen muss, ist die Tatsache, dass ich nichts in meinem Leben tun kann, ohne auf die Migräne Rücksicht zu nehmen bzw. sie einzuplanen. Auch meine Karriereplanung muss ich daran ausrichten – so hätte ich zum Beispiel niemals Anwältin werden können, obwohl ich diesen Beruf gerne ergriffen hätte.
5. Die meisten Leute denken, dass ich vollkommen gesund bin und mir die Migräne nur einbilde.
6. Das Schlimmste am Morgen ist es, mit Migräne aufzuwachen und trotzdem funktionieren zu müssen.
7. Meine Lieblings-Ärzteserie ist: Dr. House
8. Auf welches Gerät kann ich nicht verzichten? Auf mein IPhone – damit kann ich auch aus dem Bett heraus noch kleine Nachrichten schreiben und von lieben Freunden etwas Trost bekommen, wenn ich Migräne habe.
9. In der Nacht ist es am Schlimmsten, wenn die Migräne so stark ist, dass man nur vor sich hindämmern kann und vor Schmerzen seltsame Dinge sieht und hört.
10. Jeden Tag nehme ich mindestens 4 Tabletten und Vitamine.
11. An alternativen Therapien habe ich schon die folgenden ausprobiert: Akupunktur, Homöopathie, Ostheopathie, Pestwurz, medizinische Resonanztherapie, Meditation, Yoga, Migränediät …
12. Wenn ich zwischen einer sichtbaren und einer unsichtbaren Krankheit zu wählen hätte, würde ich keine nehmen! Ich bin froh, im Normalfall gesund auszusehen – das ist immer besser. Allerdings sieht man mir, ebenso wie Violetta, deutlich an, wie krank ich bin, wenn ich einen schlimmen Migräneanfall habe.
13. In Bezug auf meine Arbeit und meine Karriere ist die Migräne ein ganz wichtiger Faktor. Eine freiberufliche Tätigkeit mit vielen beruflichen Reisen oder unregelmäßigen Arbeitszeiten hätte ich niemals ausüben können.
14. Viele Menschen wären verwundert, wenn sie wüssten, dass ich wegen der Migräne oft Existenzängste habe.
15. Am schwersten war für mich zu akzeptieren, dass ich wegen der Migräne nicht mehr ohne weiteres darüber bestimmen kann, wie ich mein Leben führe, und bei allem darauf achten muss, wie ich migränetechnisch damit klarkomme.
16. Etwas, wovon ich dachte, dass ich es niemals meiner Krankheit tun könnte war: einen Vollzeitjob bekommen und darin sehr erfolgreich zu arbeiten. Ansonsten passiert allerdings kaum etwas in meinem Leben, da die restliche Zeit der Migräne oder dem Ausruhen geschuldet ist.
17. Werbung für Migränemedikamente: gibt es hier nicht.
18. Was vermisse ich: meine Unbeschwertheit, und das Gefühl, einfach alles tun zu können, was man sich vorstellt. Heute abend möchte ich mit einer Freundin in ein Konzert gehen – nun kündigt sich die nächste Migräne an. Es wäre so schön, sich einfach auf einen Abend mit Freunden freuen zu können, ohne sich sagen zu müssen „hoffentlich habe ich dann keine Migräne“.
19. Etwas, was mir schwergefallen ist: ich darf wegen der Migräne keinen Tropfen Alkohol mehr trinken. Zu Anfang war es nicht leicht; heute ist es nur noch entnervend, beim Essen mit Kollegen oder Bekannten erklären zu müssen, dass (und warum) man keinen Alkohol trinkt. Die Leute können es einfach nicht verstehen.
20. Ein neues Hobby, das ich seit der Diagnose aufgenommen habe: in meinem Blog zu schreiben.
21. Wenn ich einen Tag lang ganz gesund sein könnte, was würde ich tun? Einfach in den Tag hineinleben – und nicht immer denken: heute musst du diese 20 Dinge unbedingt erledigen, denn wenn Du morgen wieder Migräne hast, kannst Du es nicht mehr.
22. Was habe ich von meiner Krankheit gelernt: ich halte viel mehr aus, als ich gedacht hätte – und wäre froh, wenn ich dies niemals hätte erfahren müssen.
23. Was geht mir wirklich nahe, wenn Leute es sagen? „Deine Migräne ist doch sicher stressbedingt!“ Das ärgert mich, weil es einfach Blödsinn ist: ich habe Migräne, weil ich eben an dieser genetischen, neurologischen Erkrankung leide, und zwar mit und ohne Stress, mit oder ohne viel Arbeit, Freude, Trauer, Ärger, Freizeit … Warum sagt man solche dummen Dinge?
24. Aber ich habe es gern, wenn jemand einfach nur sagt: „Ruh Dich aus, ich bring Dir einen Tee.“
25. Mein Motto: „Es wird irgendwann besser gehen!“
26. Was sage ich jemandem, der auch an Migräne leidet: Such Dir einen Arzt, der sich wirklich mit Migräne auskennt und Dich ernst nimmt. Und lass Dir Triptane verschreiben.
27. Was hat mich überrascht, seit ich mit der Migräne leben muss: man findet immer wieder Dinge, die uns Hoffnung auf Besserung geben!
28. Das Liebste, was jemand getan hat, als es mir nicht gut ging: eine ganz liebe Freundin ist gekommen und hat alle Katzenklos gesäubert. Und mein Chef (mit 41° Fieber immer bei der Arbeit) hat es mir einmal angesehen, wie schlecht es mir ging mit der Migräne, und gesagt, ich solle schnell nach Hause gehen und mich ausruhen… dabei durfte man sonst, wenns nach ihm gegangen wäre, bei der Arbeit gern die spanische Grippe, Pest und Cholera gleichzeitig haben: es musste trotzdem gearbeitet werden. Aber mit der Migräne hat er mich nach Hause geschickt.
29. Warum mache ich bei der Invisible Illness Week mit: vielleicht kann ich so auch andere Menschen anregen, über ihre unsichtbare Krankheit zu sprechen.
30. Dass Ihr dies hier lest, gibt mir Hoffnung, dass unsichtbare Krankheiten vielleicht besser verstanden und irgendwann geheilt werden – ganz besonders natürlich die Migräne!

83. Kapitel – Die Entengrütze

Heute war der erste Schultag nach den Ferien. Elie war mit seinem Roller, Anatol mit dem neuen himmelblauen Victoria-Fahrrad zur Schule gefahren. Ich hatte ihm eingeschärft, das Rad an einer sicheren Stelle abzustellen und auf jeden Fall an eine sehr stabile Verstrebung oder ein Straßenschild anzuschließen. Anatol hatte das fest versprochen – zumal wir dafür ein ganz besonders gutes Bordo-Schloß gekauft hatten. Etwas Sicheres gebe es kaum, hatte uns der freundliche Herr von Zweirad-Schmid garantiert.

Ich selbst war dann ins Büro gefahren, wo ich mich den Vormittag über in eine unangenehme Akte im Bereich des internationalen Kabelgeschäfts vertieft hatte. Hier drohte wohl demnächst ein Prozess – diesen galt es vorzubereiten und insbesondere seine Finanzierung abzusichern. Darauf folgte ein längeres Gespräch mit meinem Chef, der diverse Angelegenheiten mit mir durchgehen wollte.

Gegen 13 Uhr 30 – mein Chef hatte mich endlich in die Mittagspause entlassen – begab ich mich, noch ganz in Gedanken bei meinem Kabelprozess, nach Hause, um dort mit den Butlern zu mittag zu essen, mich etwas auszuruhen und dann gestärkt ins Büro zurückzukehren.

Als ich die Wohnungstür aufschliesse, erwarten mich Stille und tief schlafende Katzen. Weder Elie noch Anatol sind im Haus. Dies ist – um Viertel vor Zwei! – ganz ungewöhnlich. Die 6. Stunde ist um 13 Uhr 05 aus – die beiden Butler sind spätestens um 13 Uhr 20 zu Hause.

Mit einem mulmigen Gefühl nehme ich das Telephon zur Hand und wähle die Nummer des Max-Planck-Gymnasiums – in der Hoffnung, dort noch einen Lehrer zu erreichen. Bevor jedoch die Leitung frei wird, höre ich aus dem Treppenhaus Schluchzen – und es kommt näher.

Ich stürze zur Tür – eine schreckliche Vorahnung im Herzen – und sehe einen weinenden Anatol und einen besorgt guckenden Elie die Treppe hochklettern.

Voller Zorn frage, brülle ich fast: „Anatol, ist das neue Fahrrad etwa gestohlen worden!?“

Elie schüttelt den Kopf. „Nein, das Rad ist da – sicher unten im Fahrradkeller angekettet.“ Anatol nickt und wischt sich mit der Pfote die Tränen aus dem Gesicht. Sprechen kann er allerdings nicht.

Verständnislos sehe ich die Saurier an. „Was gibt es denn zu Weinen? Was ist passiert?“

Elie entschließt sich, mit der Sprache herauszurücken. „Es ist Angelos Schuld. Der hat angefangen!“

Jetzt erst sehe ich, dass Anatols Hemd zerrissen ist und seine Hose sehr schmutzig aussieht. Elie erfasst meinen Blick und bemerkt etwas spitz: „Deshalb ziehe ich lieber gar nichts an. Als Dinosaurier bin ich auch ohne Klamotten perfekt angezogen. So kann nichts schmutzig werden!“

„Was hat Angelo angefangen?“ Mit einem drohendem Unterton mache ich den beiden Butlern klar, dass ich eine Erklärung erwarte – und zwar sofort.

„Angelo hat über das neue Fahrrad gelästert. Anatol hatte es gerade vom dem Schulhof geholt und wir wollten nach Hause, da hat Angelo der ganzen Klasse erzählt, dass Victoria-Fahrräder Schrott von Vorgestern seien. Die hätten nicht mal eine Gangschaltung von Deore – dabei sei das doch heute Standard. Er rate Anatol, den Schrotthaufen zurückzubringen und sich was Anständiges zu kaufen. Er hat dann noch irgendsoeine Nobelmarke genannt, aber die hab ich nicht verstanden. Anatol hatte ihn dann schon im Schwitzkasten, und hat ihm eine reingehauen. Leider hat Anatol dabei nicht daran gedacht, dass Angelo den schwarzen Gürtel in Karate hat … nun ja, es ging nicht gut aus für Anatol. Nachsitzen musste er auch.“

Anatol schluchzt wieder laut auf. „Es ist so ungerecht!“ gelingt es ihm, zu rufen. Dann klettert er – mit Mühe – in sein Nestchen, zieht sich seinen Ritterumhang über den Kopf und ist nicht mehr ansprechbar.

Ich bin bestürzt. Wie kann es sein, dass ein Schüler den anderen so ärgern kann, nur weil dieser ein neues Fahrrad hat? Zumal Angelo das teuerste Hightech-Fahrrad besitzt, das man sich vorstellen kann … Neid konnte also in keinem Fall der Auslöser sein.

„Anatol, Du hättest Angelo einfach ignorieren sollen. Das wäre wohl das Beste gewesen. Nun hat er Dich auch noch verkloppt, weil Du auf ihn losgegangen bist.“

Anatol heult laut auf. „ICH habe den verhauen, dass das mal klar ist!“ Anatols Zustand spricht indessen eine andere Sprache – und Elies sorgenvoller Blick auch. Es muss ein relatives Massakker gewesen sein – gegen einen schwarzen Gürtel in Karate ist wenig auszurichten. Ich nehme mir vor, heute Abend Angelos Eltern anzurufen, um die Angelegenheit aufzuklären. Was Angelo diesmal an Ärger provoziert hat, kann so nicht hingenommen werden – auch wenn Anatols Reaktion nicht richtig war.

Dies teile ich den Sauriern mit und stelle dann das Mittagessen auf den Tisch. Ich versuche, die beiden mit ein paar Witzen auf angenehmere Gedanken zu bringen, leider erfolglos. Schließlich tröste ich Anatol mit dem Hinweis darauf, dass das schöne Fahrrad ja trotz aller Häme Angelos immer noch da sei, dass er damit herrliche Radtouren werde machen können und dass das Rad von allen ausprobierten am schnellsten gefahren sei. Anatol kann zumindest wieder ein bisschen lächeln.

Mit der Anweisung an die Butler, nun ihre Hausaufgaben zu erledigen, verabschiede ich mich und gehe zurück ins Büro. Für den Nachmittag ist eine längere Abteilungssitzung angesetzt, danach warten noch ein paar Akten auf mich – dann ist Feierabend.

In der Hoffnung, die beiden Saurier nun in besserer Stimmung anzutreffen, fahre ich nach Hause.

In der Wohnung brennt zwar Licht, aber ich sehe weder Elie noch Anatol. Die Katzen verlangen ihr Futter, welches ich ausgebe … dann sehe ich, dass ich 5 Nachrichten auf dem Anrufbeantworter habe: das Gerät blinkt wild. Dies ist mehr als ungewöhnlich – niemand hinterlässt dort sonst eine Nachricht. Ich betätige die Abspieltaste – und höre gleichzeitig ein leises Wimmern aus dem Sauriernestchen! Die beiden Butler sitzen – offenbar verschreckt – im Nest und trauen sich nicht unter der Decke hervor!

Noch bevor ich etwas sagen kann, spielt der Anrufbeantworter die erste gespeicherte Nachricht ab – besser: versucht sie abzuspielen: die Nachricht ist unverständlich. Die Person am anderen Ende der Leitung schreit mit sich überschlagender Stimme in den Apparat – fast glaube ich, mein Trommelfell werde platzen. Schnell drehe ich die Lautstärke herunter und versuche, Nachricht 2 und 3 abzuhören – erfolglos. Bei Nachricht Nummer 4 meine ich, herauszuhören, dass die Anrufer Angelos Eltern sind.

Scharf sehe ich die beiden Saurier an. „Was ist hier los?“ sage ich mit der strengsten, wütendsten Stimme, deren ich fähig bin.

Elie räuspert sich. „Nun ja … wir haben unsere Hausarbeiten gemacht … und damit waren wir so schnell fertig … ja und dann bin ich nochmal zu Angelo gegangen.“

„Und was dann…?“ frage ich drohend. „Nur weil Du zu Angelo gegangen bist, hinterlassen seine Eltern nicht 5 völlig hysterische Nachrichten auf unserem Anrufbeantworter!“

Elie druckst etwas herum. „Das war so gemein, was der mit Anatol gemacht hat! Ich finde, das kann man nicht so einfach gefallen lassen!“

„Ja, das stimmt. Genau aus diesem Grund wollte ich heute Abend mit Angelos Eltern sprechen. Wie zivilisierte Leute das tun. Nur irgendetwas scheint ja vorgefallen zu sein, wenn sie nun so außer sich sind. Was hast Du getan, Elie !?“Ich merke, wie mir die Zornesröte auf die Stirne steigt.

„Ich hab es nicht allein getan!“ schreit Elie. „Mirko und Edouard haben mitgemacht. Wir waren so sauer auf Angelo. Er ärgert Mirko und Edouard auch immer!“

„WAS HABT IHR GETAN ?!“ Ich bin nun so verärgert wie selten.

„Eigentlich haben wir gar nichts Schlimmes gemacht. Also nichts Gefährliches … wir waren im kleinen Wäldchen, am Bach. Da wo der Teich mit der Entengrütze ist …“

Mir schwant Furchtbares. Angelos Eltern haben eine riesige Villa mit strahlend weisser Fassade.

„Dann haben wir in unseren Eimerchen ganz viel Entengrütze und Algen gesammelt. Ja, und die haben wir dann an Angelos Fenster geschmissen. Das hat toll geklatscht, als das dagegen geflogen ist! Leider kam Angelos Mutter ziemlich bald aus dem Haus gelaufen und hat total geschimpft. Wir sind dann schnell weggelaufen. Dummerweise habe ich dabei meinen Eimer verloren – den mit meinem Namen drauf …“ Elie sieht zerknirscht zu Boden.

Ich muss mich setzen. Nun wird mir klar, warum ich aus den diversen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter immer wieder das Wort „Fassadenreinigung“ wahrgenommen hatte. Ich hatte mich also nicht verhört.

Das Telephon klingelt. Die Nummer auf dem Display kenne ich mittlerweile: es sind Angelos Eltern.

Mit dem Mut der Verzweiflung hebe ich ab. Offenbar hat man sich am anderen Ende der Leitung zumindest ein wenig beruhigt – ich kann den Namen von Angelos Mutter verstehen. Sie schildert voller Entsetzen die Entengrützenaktion, scheint aber deren Vorgeschichte nicht zu kennen. Nachdem Frau Panquin ihrem Ärger über ihre nunmehr ungewollt begrünte Fassade Luft gemacht hat, setze ich sie von den vorhergegangenen Taten ihres Sprösslings in Kenntnis, und auch davon, dass ich mich deswegen heute abend bei ihr gemeldet hätte.

Frau Panquin ist fassungslos. Sie kündigt einen erneuten Anruf für den morgigen Tag an, wolle aber vorher „gewisse Dinge mit Angelo klären“. Dann hängt sie auf.

Ich werfe Elie und Anatol einen bitterbösen Blick zu. „Elie, Du gehst morgen höchstpersönlich zu Angelos Mutter und entschuldigst Dich bei ihr. Dann hilfst Du Angelo und seinen Eltern beim Säubern der Fassade! Angelo sollte sich bei Anatol für die hässlichen Bemerkungen entschuldigen, das wäre wohl nur angebracht.“

Zerknirscht zieht sich Elie ins Nestchen zurück, wo Anatol schon eingemummelt liegt.

Bevor er einschläft, verspricht Elie, das nächste Mal keine Entengrütze mehr an Angelos Fenster zu werfen. Er werde den Eimer mit der Grütze einfach direkt über Angelos Kopf auskippen. Das werde sicher nicht so großen Ärger machen wie jetzt die blöde weisse Fassade. Schließlich könne Frau Panquin ihren Angelo einfach in die Waschmaschine stecken.

Ich seufze. Was soll aus diesen Biestern nur werden…

82. Kapitel – Das neue Victoria-Fahrrad

Unsere Fahrt nach Offenburg beginnt mit einer Pleite – der Besuch bei Dr. Anselm, den ich schnell vor der Abfahrt des Zuges erledigen wollte, dauert unvorhergesehenerweise deutlich länger als geplant. Anatol und ich verpassen den 9:34er Zug – und müssen erfahren, dass vor 11 Uhr 04 gar kein weiterer Zug mehr fährt.

Anatol hätte nun normalerweise begonnen, lauthals zu schimpfen. Da wir aber auf der Reise zu seinem eventuellen neuen Rad sind, hält er weise den Schnabel. Statt zu zetern schlägt er vor, gleich bei DM noch einige kleine Einkäufe zu tätigen. Und warum nicht danach einen Tee bei Armbruster am Bahnhof trinken?

Genau dies tun wir. Da eine Reise mit der Bahn immer für Hunger sorgt – auch wenn sie noch gar nicht begonnen hat – genehmigen wir uns ein Pflaumenteilchen zum Tee.IMG_2986

Derart gestärkt können wir anderthalb Stunden später unsere Reise nach Offenburg antreten.

Vorher finde ich allerdings beim Besuch der Bahnhofsbuchhandlung ein sehr interessantes Literaturmagazin, welches ich kaufe. Es handelt sich um die neue Ausgabe von „Das Buch als Magazin“ und beschäftigt sich mit der Traumnovelle von Arthur Schnitzler – einem meiner Lieblingsbücher. Das Magazin geht daher mit uns auf die Reise – ich werde später noch genauer darüber berichten.

Um 11 Uhr 22 erreichen wir Offenburg – und wenig später unser Ziel: den Fahrradladen, der die begehrten Victoria-Räder führt.

Warum ist diese Marke Anatol und mir so wichtig? Wir sind sonst keine Marken-Fetischisten – im Gegenteil bevorzugen wir bis auf wenige Ausnahmen No-Name-Produkte.

Der Name „Victoria“ steht für eine lange, traditionsreiche Geschichte. Schon 1886 wurden von der Firma Victoria Fahrräder hergestellt – gegründet wurde sie damals von zwei Radsportlern. Der Radsport war damals ganz neu – gerade Frauen, die für Emanzipation kämpften, fuhren Fahrrad! Diese ersten Radfahrerinnen sind selbstverständlich unsere Vorbilder.

Das Victoria-Fahrrad gehört jedoch auch zu unserer Familiengeschichte. Das „erste Victoria-Fahrrad meines Lebens“ was das meines Vaters. Es entstammte den 50er Jahren und war meinem Vater von seinen Eltern zum 14. Geburtstag geschenkt worden; es war – wie alle Victoria-Fahrräder – ein technisches und ästhetisches Meisterwerk. Da man damals, nach dem Krieg, kaum Geld für Spielereien wie Fahrräder hatte, war das Fahrrad für einen kleinen Jungen der größte Schatz, den man sich vorstellen konnte. Dementsprechend gut wurde es behandelt und behütet.

Ich war von dem Fahrrad schon als kleines Kind beeindruckt: auf der Stange sitzend durfte ich mit meinem Vater zur Schule fahren und die Klingel betätigen, die ein einzigartiges, glockenhelles „PING“ von sich gab.

Als ich 14 war, wurde das Rad gestohlen – eine Familientragödie. Es blieb jedoch nicht für immer verschwunden: ich sah eines Tages den mutmaßlichen Dieb mit dem Fahrrad durch Göttingen radeln, konnte ihn verfolgen, stellen, und der Polizei zuführen. So kam das Fahrrad zu uns zurück.

Natürlich wollte Anatol ebenfalls ein solches Victoria-Fahrrad, und so bekam er das schöne, azurblaue Rennrad geschenkt, das jetzt durch eine Verkettung unglücklichster Umstände in die Fänge des nachbarlichen Bermuda-Dreiecks geriet und dort innerhalb kürzester Zeit verschwand.

Uns ist bewusst, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, unser azurblaues Victoria-Rad wiederzufinden. Daher hat Anatol sich entschlossen, einen Schritt in die Zukunft zu tun: ein neues Victoria-Fahrrad soll einziehen.

Vorher müssen wir es allerdings ansehen und probefahren – und eben dies soll heute geschehen.

Ein freundlicher alter Herr – vermutlich der Inhaber – begrüßt uns, als wir bei Zweirad Schmid ankommen. Genau zwei Modelle von Victoria sind zum Ausprobieren da: ein Damen- und ein Herrentrekkingrad. Der alte Herr erklärt uns die technischen Neuerungen, die das Modell erfahren hat: 24-Gang-Kettenschaltung, Aluminiumrahmen, Stoßdämpfung … all dies kennen Anatol und ich nicht. Das alte Fahrrad hatte einen fleißig rostenden Stahlrahmen, 5 Gänge und natürlich keine Stoßdämpfer.

Wir dürfen beide Modelle probefahren. Sie fahren wie von selbst – leicht, schnell und ohne jede Anstrengung: fast haben wir das Gefühl, zu schweben! Das Damenmodell mit seinem 50er Rahmen scheint die perfekte Größe zu haben.

Was nun? Anatol guckt mich aus erwartungsvollen Augen an: ich soll das Fahrrad nun bestellen, das sehe ich ihm ganz deutlich an. Aber zur Zeit steht es mit unserem Budget nicht zum Besten, und mir wäre es lieber, wenn wir das neue Fahrrad erst später im Herbst, im Oktober oder November kaufen würden … Anatol stehen Tränen in den Augen.

„Frag doch wenigstens mal nach dem genauen Preis!“ weint er leise. „Und ob es das Rad in blau überhaupt noch gibt.“

In der Tat ist das blaue Modell nicht auf Lager – ich gehe allerdings davon aus, dass man es bestellen kann.

Der alte Herr blättert im Victoria-Katalog, schreibt sich die Modellnummer auf und ruft beim Victoria-Großhändler an. Ja, das Modell existiert noch, es wird jedoch in 2 Wochen durch ein neues ersetzt. Das neue Modell wird zum Entsetzen von Anatol nicht mehr blau, sondern weiss sein.

Ich sehe ein, dass nun gehandelt werden muss. Bestürzt höre ich mich sagen „Dann bestellen Sie uns bitte das blaue Rad. Jetzt sofort.“ Geichzeitig gehe ich im Geiste den Stand des Kontos durch. Einen solchen Kauf kann es nicht verkraften – die Reserven sind bis auf einen winzigen Rest, der unseren Notgroschen darstellt, ausgeschöpft. Ich bin fassungslos ob der Eselei, die ich gerade begehe.

Erfreut teilt mir der freundliche alte Herr mit, dass das Fahrrad morgen um Punkt 15 Uhr für Anatol und mich bereitstehen wird. Anatol jubelt – und hört damit nicht einmal auf, als ich streng darauf hinweise, dass ab sofort alle (und das heisst: ALLE) weiteren Ausgaben gestrichen sind.

Wie wir Elie das teure Rad erklären wollen, weiss ich nicht.

Für heute überlasse ich es Anatol, hier eine glückliche Eingebung zu haben.

IMG_2990Nachtrag, am 9.9.2014

Eben haben wir das neue Fahrrad abgeholt.

Hier wird es in der Werkstatt genau auf den neuen Fahrer eingestellt.

Anatol ist sehr glücklich.

Man sieht es ihm an, denke ich.

IMG_2992IMG_2991

80. Kapitel – Zensur…?

Meine Sehnenscheidenentzündung im Handgelenk ist wieder schlimmer geworden. Ich habe die ständige Arbeit am Computer – und vor allem mit der Maus – im Verdacht, dieses Problem auszulösen.

Wenn ich zuhause am Computer (ohne Maus) schreibe, bleibt meine Hand ganz beschwerdefrei. Deshalb habe ich heute die Betriebsärztin zu mir ins Büro gerufen, um ihr meinen Arbeitsplatz zu zeigen und um sie zu fragen, ob ich eine Tastatur mit Touchpad bekommen könne – damit ich nicht mehr mit der Computermaus arbeiten muss.

Ob dies möglich ist, weiss die Betriebsärztin noch nicht. Allerdings will sie nicht, das ich abends zu Hause weiter am Computer arbeite.

Sprich: ich soll nicht mehr im Blog schreiben. Davon würden die Beschwerden schlimmer.

Anatol ist ausgerastet, als er das hörte (er war heute heimlich mit zur Arbeit gekommen und saß im Rucksack, als die Ärztin in meinem Arbeitszimmer war). Anato FotoZum Glück hat er seinen Wutanfall so lange zurückgehalten, bis die Ärztin wieder weg war. Andernfalls hätte sie vermutlich nicht nur orthopädische, sondern auch psychiatrische Behandlungen verordnet.

Nun habe ich einen schimpfenden Saurier hier im Büro sitzen. Zum Glück ist mein Kollege heute noch im Urlaub – es wäre sonst hochnotpeinlich gewesen.

Ich habe Anatol beruhigt. Natürlich werde ich nicht aufhören, im Blog zu schreiben. 

Eher kauf ich mir die ergonomische Tastatur mit Touchpad auf eigene Rechnung.

79. Kapitel – Auf der Suche

Zwei furchtbare Tage und Nächte liegen hinter uns. Anatol hat viel geweint, gewütet… dann wieder sich selbst als den Alleinschuldigen bezichtigt.  Geschlafen hat er gar nicht.

Heute Nacht – es ist bereits nach 23 Uhr – beginnt er langsam, den Diebstahl seines geliebten Fahrrads zu verarbeiten.

Elie meint, Anatol müsse aufhören, sich die Schuld an dem Unglück zu geben. Denn selbst wenn er das Rad an diesem Wochenende abgeschlossen hätte – vielleicht hätte er es in zwei Wochen doch einmal aufgeschlossen im Keller gelassen. Schuld an dem Diebstahl sei in allererster Linie der Dieb – und dann auch der hirnverbrannte Nachbar, der einfach behauptet hatte, das Fahrrad „gehöre zum Haus“ und dürfe frei entliehen werden.

Zudem gebe es möglicherweise ja doch noch Hoffnung: Anatol hatte das Rad gravieren und registrieren lassen. Gemeldet sei der Diebstahl bereits auf der Webseite von Bicycode, des Strasbourger Vereins gegen den Fahrraddiebstahl – bei der Polizei seien wir auch gewesen, um den Diebstahl anzuzeigen. Mehr könne man nicht tun – Anatol müsse nun etwas Vertrauen in die Ordnungshüter haben und diese ihre Arbeit tun lassen.

Da kennt Elie Anatol allerdings schlecht. Sich auf andere Leute zu verlassen – das entspricht dem misstrauischen Saurier gar nicht.

„Den Teufel werd ich tun!“ grummelt er. „Ich werde mein Rad natürlich suchen! Und wehe, wenn ich da jemanden drauf erwische – den mach ich zur Briefmarke!“

Elie rät, in diesem Fall lieber sofort die Polizei zu rufen. Ich kann dem nur beipflichten. Schließlich sei der Besuch im Hôtel de Police heute recht positiv verlaufen – bis auf die lange Wartezeit.

IMG_2984Anatol und ich waren heute am frühen Abend aufs Kommissariat gegangen, um dort Anzeige zu erstatten. Anatol hatte darauf bestanden, dabei anwesend zu sein – trotz der schlechten Erfahrungen, die der Butler – wenn auch selbstverschuldet – mit der Polizei bereits machen musste.

Als wir eingetroffen waren, hatten schon 10 weitere Personen darauf gewartet, irgendeine Missetat, die ihnen widerfahren war, zur Anzeige zu bringen: Nicht ein einziger Sitzplatz war mehr frei gewesen. Die diensthabende Kommissarin hatte mir freundlicherweise erlaubt, in einem Bereich hinter der Absperrung, der für Publikum normalerweise nicht gedacht ist, Platz zu nehmen. Immerhin hatten wir so nicht stehen müssen. Hier sieht man Anatol, wie er aus dem Rucksack herauslugt. Allzusehr wollte er der Kommissarin dann lieber doch nicht auffallen!IMG_2983

Nach einer schier endlos erscheinenden Wartezeit waren wir endlich in das Dienstzimmer der Kommissarin gerufen worden. Anatol hatte sich bis dahin ruhig verhalten – nun war es um seine Selbstbeherrschung geschehen! Mit einem Satz war er aus meinem Rucksack direkt auf den Schreibtisch der Kommissarin gesprungen, die erschrocken zurückgewichen war. Verärgert hatte sie mir zu verstehen gegeben, dass Haustiere auf der Polizeiwache nicht zugelassen seien!

Anatol war nicht mehr zu bändigen gewesen. Dass es sein Rad sei, um das es hier gehe, hatte er noch laut wettern können – dann war es mir mit einem geübten Handgriff gelungen, das Biest in die Tiefen meines Rucksacks zu verbannen, diesen zu schließen und dann unter die Sitzbank zu schieben.

Entsetzt hatte die Polizeibeamtin wissen wollen, was denn das für ein Tier gewesen sei? Ob es gar gefährlich sei? Ich hatte schnell gesagt, es handle sich um einen defekten Furby, der sich nicht mehr ausschalten ließe. Dies erklärte glücklicherweise auch, warum aus dem Rucksack weiter lautes Fluchen und Zetern drang.

Schnell hatte ich den Verlauf des Fahrraddiebstahls dargelegt, das Fahrrad und seine besonderen Kennzeichen beschrieben – nach nur wenigen Minuten war der Vorgang zu den Akten genommen.

Kurze Zeit später hatte ich mit Anatol auf der Straße vor dem Kommissariat gestanden – eine Ausfertigung der Anzeige in der einen, den zeternden Anatol in der anderen Hand haltend. Erst als ich Anatol versprochen hatte, nun mit ihm durch die Stadt zu fahren und überall nach seinem Fahrrad zu suchen, hatte das Geschimpfe schlagartig aufgehört. Dann hatten wir uns auf die Suche nach Anatols Fahrrad gemacht…

Nun, bald um Mitternacht, haben wir die Suche unterbrochen. Elie hat eine Kleinigkeit zu essen vorbereitet – diese verschlingen wir eben. Anatol will gleich noch einmal los, da er sich spät nachts die meisten Chancen ausmalt, sein Fahrrad wiederzufinden.

Die Fahrradsuche wird langsam aber sicher zur Obsession für den Butler.

Elie nimmt Anatol in den Arm. „Du musst loslassen, Anatol. Dein Fahrrad ist nicht mehr da, und das ist sehr traurig. Ich selbst bin auch ganz deprimiert deswegen. Aber Du kannst es nicht ändern. Vor allem kannst Du nicht erzwingen, dass das Fahrrad zurückkommt… vielleicht hast Du Glück und wir finden es zufällig wieder. Aber ich glaube nicht, dass Du es bei Deinen nächtlichen Suchaktionen wiederfinden wirst. Du kannst vor Müdigkeit schon nicht mehr aus den Augen gucken.“

Anatol laufen wieder Tränen über die Wangen. Er hatte sein Fahrrad über alles geliebt. Aber er sieht ein, dass er heute vor allem eines braucht: Schlaf.

Die Suche wird er nicht aufgeben. „Loslassen“ wird Anatol noch lernen müssen.

Ich habe indessen herausgefunden, dass die Firma Victoria nach mehreren Inhaberwechseln immer noch existiert und weiter hochwertige Fahrräder herstellt. Für morgen nehme ich mir vor, heimlich dort anzurufen und unsere Fahrrad-Misere zu schildern. Vielleicht kann man mir dort weiterhelfen.