82. Kapitel – Das neue Victoria-Fahrrad

Unsere Fahrt nach Offenburg beginnt mit einer Pleite – der Besuch bei Dr. Anselm, den ich schnell vor der Abfahrt des Zuges erledigen wollte, dauert unvorhergesehenerweise deutlich länger als geplant. Anatol und ich verpassen den 9:34er Zug – und müssen erfahren, dass vor 11 Uhr 04 gar kein weiterer Zug mehr fährt.

Anatol hätte nun normalerweise begonnen, lauthals zu schimpfen. Da wir aber auf der Reise zu seinem eventuellen neuen Rad sind, hält er weise den Schnabel. Statt zu zetern schlägt er vor, gleich bei DM noch einige kleine Einkäufe zu tätigen. Und warum nicht danach einen Tee bei Armbruster am Bahnhof trinken?

Genau dies tun wir. Da eine Reise mit der Bahn immer für Hunger sorgt – auch wenn sie noch gar nicht begonnen hat – genehmigen wir uns ein Pflaumenteilchen zum Tee.IMG_2986

Derart gestärkt können wir anderthalb Stunden später unsere Reise nach Offenburg antreten.

Vorher finde ich allerdings beim Besuch der Bahnhofsbuchhandlung ein sehr interessantes Literaturmagazin, welches ich kaufe. Es handelt sich um die neue Ausgabe von „Das Buch als Magazin“ und beschäftigt sich mit der Traumnovelle von Arthur Schnitzler – einem meiner Lieblingsbücher. Das Magazin geht daher mit uns auf die Reise – ich werde später noch genauer darüber berichten.

Um 11 Uhr 22 erreichen wir Offenburg – und wenig später unser Ziel: den Fahrradladen, der die begehrten Victoria-Räder führt.

Warum ist diese Marke Anatol und mir so wichtig? Wir sind sonst keine Marken-Fetischisten – im Gegenteil bevorzugen wir bis auf wenige Ausnahmen No-Name-Produkte.

Der Name „Victoria“ steht für eine lange, traditionsreiche Geschichte. Schon 1886 wurden von der Firma Victoria Fahrräder hergestellt – gegründet wurde sie damals von zwei Radsportlern. Der Radsport war damals ganz neu – gerade Frauen, die für Emanzipation kämpften, fuhren Fahrrad! Diese ersten Radfahrerinnen sind selbstverständlich unsere Vorbilder.

Das Victoria-Fahrrad gehört jedoch auch zu unserer Familiengeschichte. Das „erste Victoria-Fahrrad meines Lebens“ was das meines Vaters. Es entstammte den 50er Jahren und war meinem Vater von seinen Eltern zum 14. Geburtstag geschenkt worden; es war – wie alle Victoria-Fahrräder – ein technisches und ästhetisches Meisterwerk. Da man damals, nach dem Krieg, kaum Geld für Spielereien wie Fahrräder hatte, war das Fahrrad für einen kleinen Jungen der größte Schatz, den man sich vorstellen konnte. Dementsprechend gut wurde es behandelt und behütet.

Ich war von dem Fahrrad schon als kleines Kind beeindruckt: auf der Stange sitzend durfte ich mit meinem Vater zur Schule fahren und die Klingel betätigen, die ein einzigartiges, glockenhelles „PING“ von sich gab.

Als ich 14 war, wurde das Rad gestohlen – eine Familientragödie. Es blieb jedoch nicht für immer verschwunden: ich sah eines Tages den mutmaßlichen Dieb mit dem Fahrrad durch Göttingen radeln, konnte ihn verfolgen, stellen, und der Polizei zuführen. So kam das Fahrrad zu uns zurück.

Natürlich wollte Anatol ebenfalls ein solches Victoria-Fahrrad, und so bekam er das schöne, azurblaue Rennrad geschenkt, das jetzt durch eine Verkettung unglücklichster Umstände in die Fänge des nachbarlichen Bermuda-Dreiecks geriet und dort innerhalb kürzester Zeit verschwand.

Uns ist bewusst, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, unser azurblaues Victoria-Rad wiederzufinden. Daher hat Anatol sich entschlossen, einen Schritt in die Zukunft zu tun: ein neues Victoria-Fahrrad soll einziehen.

Vorher müssen wir es allerdings ansehen und probefahren – und eben dies soll heute geschehen.

Ein freundlicher alter Herr – vermutlich der Inhaber – begrüßt uns, als wir bei Zweirad Schmid ankommen. Genau zwei Modelle von Victoria sind zum Ausprobieren da: ein Damen- und ein Herrentrekkingrad. Der alte Herr erklärt uns die technischen Neuerungen, die das Modell erfahren hat: 24-Gang-Kettenschaltung, Aluminiumrahmen, Stoßdämpfung … all dies kennen Anatol und ich nicht. Das alte Fahrrad hatte einen fleißig rostenden Stahlrahmen, 5 Gänge und natürlich keine Stoßdämpfer.

Wir dürfen beide Modelle probefahren. Sie fahren wie von selbst – leicht, schnell und ohne jede Anstrengung: fast haben wir das Gefühl, zu schweben! Das Damenmodell mit seinem 50er Rahmen scheint die perfekte Größe zu haben.

Was nun? Anatol guckt mich aus erwartungsvollen Augen an: ich soll das Fahrrad nun bestellen, das sehe ich ihm ganz deutlich an. Aber zur Zeit steht es mit unserem Budget nicht zum Besten, und mir wäre es lieber, wenn wir das neue Fahrrad erst später im Herbst, im Oktober oder November kaufen würden … Anatol stehen Tränen in den Augen.

„Frag doch wenigstens mal nach dem genauen Preis!“ weint er leise. „Und ob es das Rad in blau überhaupt noch gibt.“

In der Tat ist das blaue Modell nicht auf Lager – ich gehe allerdings davon aus, dass man es bestellen kann.

Der alte Herr blättert im Victoria-Katalog, schreibt sich die Modellnummer auf und ruft beim Victoria-Großhändler an. Ja, das Modell existiert noch, es wird jedoch in 2 Wochen durch ein neues ersetzt. Das neue Modell wird zum Entsetzen von Anatol nicht mehr blau, sondern weiss sein.

Ich sehe ein, dass nun gehandelt werden muss. Bestürzt höre ich mich sagen „Dann bestellen Sie uns bitte das blaue Rad. Jetzt sofort.“ Geichzeitig gehe ich im Geiste den Stand des Kontos durch. Einen solchen Kauf kann es nicht verkraften – die Reserven sind bis auf einen winzigen Rest, der unseren Notgroschen darstellt, ausgeschöpft. Ich bin fassungslos ob der Eselei, die ich gerade begehe.

Erfreut teilt mir der freundliche alte Herr mit, dass das Fahrrad morgen um Punkt 15 Uhr für Anatol und mich bereitstehen wird. Anatol jubelt – und hört damit nicht einmal auf, als ich streng darauf hinweise, dass ab sofort alle (und das heisst: ALLE) weiteren Ausgaben gestrichen sind.

Wie wir Elie das teure Rad erklären wollen, weiss ich nicht.

Für heute überlasse ich es Anatol, hier eine glückliche Eingebung zu haben.

IMG_2990Nachtrag, am 9.9.2014

Eben haben wir das neue Fahrrad abgeholt.

Hier wird es in der Werkstatt genau auf den neuen Fahrer eingestellt.

Anatol ist sehr glücklich.

Man sieht es ihm an, denke ich.

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