148. Kapitel – Die Fahrradkette

Ein verregnetes, kaltes Osterwochenende hat Anatols Laune auf den Nullpunkt sinken lassen.

Zeternd und schimpfend ist er in der Küche verschwunden, nachdem ich die alljährliche Ostereiersuche im Park wegen Dauerregens abgesagt und mich dann auch noch ins Büro verabschiedet hatte, um dort endlich mehrere liegengebliebene Akten zu ordnen und wegzuräumen.

Gegen 17 Uhr – pünktlich zum Tee – erscheine ich wieder zu Hause, in der Hoffnung, eine gemütliche Teestunde mit den Sauriern zu verbringen.

Anatol sitzt indessen griesgrämig am Schreibtisch – in die Monatsabrechnung vertieft. Elie hat sich mit seinem Buch – „Kapitän Bontekoes Schiffsjungen“ – in sein Nestchen verkrochen und schmökert. „Ist gerade ganz spannend!“ ruft er. „Ich will keinen Tee – muss weiterlesen!“

Ich setze das Teewasser auf und stelle die Tassen auf den Tisch. „Gibt es denn keinen Kuchen …?“ frage ich Anatol, meine Enttäuschung kaum verbergend.

„Nein, es gibt keinen Kuchen!“ pampt mich der Saurier an. „Ich habe auch noch anderes zu tun, als Kuchen zu backen und den Haushalt zu führen! Deine Monatsabrechnung ist diesmal eine einzige Katastrophe. Für die werde ich noch bis heute abend brauchen! Ist es denn zu fassen – Du hast diesen Monat nicht eine, auch nicht zwei, sondern gleich drei – in Worten: DREI! – neue Jeans gekauft! Wie geht das eigentlich mit Deinem angeblichen Minimalismus zusammen?“

Wutschnaubend vertieft sich das Untier wieder in Kassenzettel, Quittungen und Kontoauszüge – und unterstreicht seine Rage durch penetrantes Rascheln in dem Papierberg.

Ein wenig beschämt sehe ich an mir herunter und betrachte meine wunderschöne neue Jeans. Sie sieht nicht nur großartig aus, sie passt auch vorzüglich. Nichts engt ein, nichts kneift. Eine Offenbarung, nachdem ich meine geliebten alten Jeans nur noch unter Qualen und massiver Kraftaufwendung hatte anziehen und zumachen können – von Wagnissen wie sich damit hinzusetzen ganz zu schweigen.

Ich setze zur Gegenwehr an. „Du bist schuld, Anatol! Wenn Du nicht ständig diese fettigen Bratkartoffeln … “ hier werde ich werde unterbrochen: der Saurier stößt einen Wutschrei aus.

„Ja ist es denn zu fassen?“ poltert er los. „Du hast schon wieder eine neue Fahrradkette aufziehen lassen!? Die letzte war doch erst im Oktober! Das ist einfach nicht möglich – drei Fahrradketten in nicht mal anderthalb Jahren!“

Anatol hat den Kassenzettel des Fahrradladens entdeckt.

Ich hatte mich selbst gewundert, dass die Fahrradkette schon wieder hatte gewechselt werden müssen. Am Samstag war ich mit dem Fahrrad in der Stadt gewesen und hatte es bei dieser Gelegenheit bei der Radwerkstatt vorbeigebracht. Seit einiger Zeit war mir nämlich aufgefallen, dass in manchen Gängen die Kette (oder der Zahnkranz? das war schwer auszumachen…) etwas durchrutschte. Um keinen größeren Schaden zu erleiden hatte ich das Rad lieber dem Spezialisten gezeigt und ihm das Problem beschrieben.

Der Reparateur war kategorisch gewesen: laut Verschleißlehre sei die Kette abgenutzt und müsse ausgetauscht werden. Seufzend hatte ich der Reparatur zugestimmt und war 15 Minuten später mit einem neu beketteten, geölten und perfekt aufgepumpten Rad fröhlich pfeifend direkt zum Jeansladen weitergefahren.

Die dabei produzierten Kassenzettel hatte das Untier nun in meinem Portemonnaie entdeckt – gehört doch die monatliche Abrechnung zu seinen Aufgaben.

„Wenn Du mir jetzt weismachen willst, die Kette sei auch durch meine „fettigen Bratkartoffeln“ abgenutzt worden, werde ich wütend!“ zischt der Butler giftig.

Nun pfeift zum Glück der Wasserkessel – ich eile in die Küche und brühe den Tee auf.

Dann erkläre ich dem Saurier mit Nachdruck, dass sowohl der Jeanskauf als auch die Reparatur der Fahrradkette unabdingbare Investitionen gewesen seien und dass ich darüber nun weiter nicht diskutieren werde. Allerdings schlage ich dem Butler vor, wegen der Fahrradkette im Radforum nachzulesen – dort fände sich vielleicht eine Lösung? In der Tat erfreut mich die Aussicht auf einen halbjährlichen Kettenwechsel nicht. Das Kettenproblem muss gelöst werden.

Anatol lässt die Monatsabrechnung auf dem Schreibtisch liegen und setzt sich zu mir an den Teetisch. Obwohl ich das normalerweise nicht dulde, knipst er das Laptop an und sucht die Webseite des Radforums. Da seine geradezu unterirdische Laune sich nun zumindest etwas hebt, lasse ich ihn diesmal gewähren.

Nachdem eine kurze Suche nach „Kettenwechsel“ und „Kettenabnutzung“ nicht erfolgreich ist, entschließt sich Anatol, ein neues Thema zu erstellen und die Frage des ständigen Kettenverschleißes direkt an die Spezialisten zu richten. Da ich bereits im Radforum Mitglied bin, kann Anatol problemlos unter meinem Pseudonym posten.

Dann genießen wir endlich in Frieden unseren Tee.

Als ich noch einmal zum Teeaufbrühen in die Küche gehe, wirft Anatol einen Blick in das Radforum. Ob wohl schon jemand auf seine Frage geantwortet hat? Aufgeregt rutscht der Saurier auf seinem Stuhl herum. „Da steht was!“ ruft er in die Küche. „Es hat jemand geantwortet!“

Gespannt gieße ich das kochende Wasser in die Teekanne, als ein markerschütternder Wutschrei aus dem Wohnzimmer ertönt. Ich lasse beinahe den Wasserkessel fallen und verschütte das restliche heisse Wasser – glücklicherweise nur über die Küchenanrichte. Fluchend suche ich nach einem Lappen. Es ist glimpflich ausgegangen – ich hätte mich selbst oder einen der Saurier, hätte er auf der Anrichte gestanden, böse verbrühen können. Ich wische die Überschwemmung auf und kehre mitsamt der Teekanne zu einem tobenden Anatol ins Teezimmer zurück.

„Bist Du von allen guten Geistern verlassen, Anatol? Was soll das Gebrüll?“

Anatol antwortet nicht. Voller Wut tippt er auf die Tastatur ein. Da ich nichts Gutes ahne, drücke ich ungerührt den „Aus“-Knopf. Mit einem melodiösen Summen verabschiedet sich der Laptop in den Ruhezustand.

Ein lauter Fluch des Sauriers ist die Antwort. „Jetzt ist mein Beitrag weg! Dabei muss ich darauf reagieren, was der da geschrieben hat! Das glaubst Du nicht!“ Anatol springt aufs Laptop und versucht, das Gerät wieder zum Laufen zu bringen. Ich nehme den Computer an mich und stelle ihn auf den Schrank.

„Schluss jetzt damit. Hat jemand unser Fahrrad wieder als alten Schrott bezeichnet? Das kennst Du doch schon. Darüber braucht man sich nicht aufzuregen.“

„Nein! Das war es nicht. Der hat geschrieben, meine Frage sei wieder mal typisch Frau und unverständlich! Männer könnten kurz und knapp das Problem beschreiben, bei Frauen müsse man das erahnen! Den nehm ich mir vor! Erstens ist das total frauenfeindlich! Und zweitens bin ich keine Frau! Ich kann technische Zusammenhänge erklären!“

Mit einer spitzen Bemerkung mache ich Anatol auf den leichten Widerspruch des eben Gesagten aufmerksam. Anatol wird puterrot und murmelt etwas von „nicht so gemeint!“.

Dann kommt die Wut wieder durch: „Dem erzähl ich was!“

Da Anatol unter meinem Pseudonym geschrieben hatte, mussten die Forenmitglieder fälschlicherweise glauben, hier schreibe eine Frau. Dass dies kein Grund für Macho-Bemerkungen ist, versteht sich von selbst. Leider ist das Miteinander im Internet nicht immer so, wie man es gern hätte.

Ich erkläre Anatol, dass – wie er ja bereits aus dem Woodworkerforum wisse – der Umgangston in manchen Foren sehr rauh sei. Dass das Beste immer noch sei, darauf nicht einzugehen. Schließlich stünde man über derlei Gerede.

Indessen hat es weitere Kommentare gegeben, darunter auch sehr hilfreiche für unser Problem. Ein freundlicher und kompetenter Fahrradkenner schreibt, dass Radlerinnen oft geduldiger und genauer die aufgetretenen Probleme schildern. Hier atmet Anatol auf!

Als Quintessenz ergibt sich, dass wir nun häufiger die Kette werden schmieren und pflegen müssen, und zwar mit Trockenschmierstoff – nicht mit dünnem Nähmaschinenöl.

Da sich die Saurier ihre perfekt manikürten Plüschpfoten nicht mit Kettenfett beschmutzen wollen, wird dies wohl meine Aufgabe sein.

147. Kapitel – Müllsheriff Anatol

Kratz kratz kratz macht mein Teelöffel im Joghurtbecher. Genüßlich schabe ich die letzten Reste meines geliebten Sojajoghurts aus dem kleinen Plastikgefäß heraus, stopfe das Aluminiumdeckelchen hinein und werfe es – zack – in die an der Küchentürenklinke hängende Plastikmülltüte. Dort verschwindet es mit einem Rascheln zwischen den dort bereits wartenden Müllgenossen: weiteren Plastikbecherchen, Mandarinenschalen, Katzenfutterresten und ähnlichen feinen Dingen. In Frankreich gibt es keine Mülltrennung für Bioabfall.

Anatol hat mich bisher vom Herd aus, wo er das Curry für den morgigen Tag zubereitet, stumm beobachtet. Nun schüttelt er mißbilligend den Kopf. „Damit ist jetzt Schluß!“ zetert er los.

Erschrocken lasse ich meinen Teelöffel, den ich soeben in die Spülmaschine hatte einräumen wollen, auf den Fliesenboden fallen. Klirrend springt er durch die Küche und kommt unter der Spülmaschine zum Liegen.

„Soll ich jetzt etwa auch kein Joghurt mehr essen?“ frage ich entsetzt – und ein wenig wütend. „Noch weniger kann ich nicht essen!“ Ich versuche gerade – erfolglos – drei sehr anhängliche Kilos, die das Tragen meiner Lieblingsjeans zur Tortur werden lassen, loszuwerden. Aber nun auch kein Joghurt mehr?

„Nein, das meine ich nicht.“ seufzt Anatol. „Ich meine den Müll. Gestern habe ich in der TAZ gelesen, dass im pazifischen Ozean eine Fläche aus Plastikmüll herumschwimmt, die so groß wie Europa ist! Ein Kontinent aus Müll! Stell Dir das mal vor!“

Elie hüpft vom Regal herunter und kommt in die Küche. „Ja, das haben wir auch in der Schule gelernt. Das Schlimmste daran ist, dass die Tiere unseren Müll fressen und daran sterben. Oder sich in den Plastikresten verheddern und sich verletzen. Ich kann das nicht ertragen, nur daran zu denken!“

Ich schlucke. Von dem Plastikkontinent hatte ich auch schon gelesen, hatte diesen jedoch nach anfänglicher Entrüstung erfolgreich verdrängen können. Nun holt Anatol den Müllberg wieder aus den Tiefen meines beschämten Unterbewusstseins hervor.

Es ist klar, dass zumindest die kleinen Schritte, die wir gehen können, um die Plastikmisere abzumildern, getan werden müssen.

„Was schlägst Du denn vor, Anatol? Kein Joghurt mehr? Keine Mülltüten mehr? Jede Apfelschale einzeln unten in die Mülltonne? Wir fliegen dann bald achtkantig hier raus, das weisst du, nicht?“

„Ich habe schon darüber nachgedacht. Du sollst Dein Joghurt ja haben! Aber von heute an mache ich das Joghurt selbst. Dann sparen wir zumindest diese Plastkjoghurtbecher ein. Für die Mülltüten habe ich noch keine Lösung. Ich arbeite daran. Die Klarsichtfolie wird reduziert – und Plastikflaschen ebenfalls. Es muss sich einfach etwas ändern!“

Ich bin beeindruckt. Joghurt selber machen! Wie soll das denn gehen? Dazu braucht man eine Joghurtmaschine – aber neue Elektrogeräte werden nicht mehr angeschafft. Kategorisch widerspreche ich!

„Papperlappapp!“ kontert Anatol. „Ich mache Joghurt ohne jede Maschine! Du wirst schon sehen.“

Der Saurier öffnet eine Seite im Browser, die er sich offenbar als Lesezeichen bereits eingerichtet hat. Experiment Selbstversorgung heisst es da, und „Sojajoghurt selber machen“.

Das Rezept ist einfach: ein kleines Joghurt wird in 45°C warme Sojamilch eingerührt und dann mehrere Stunden warm gestellt. Bei uns geschieht das auf der warmen Heizung.

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Nach 7 Stunden ist das Milch-Joghurt-Gemisch zu einer gallertartigen Masse geworden, die Anatol schnurstracks in den Kühlschrank stellt.

Probieren darf ich das Joghurt erst heute Abend. Ich bin sehr gespannt. Dann fällt mir etwas ein.

„Anatol, wenn wir aus der Sojamilch jetzt unser Joghurt herstellen, dann brauchen wir ja mehr Sojamilch als vorher, nicht wahr?“

Der Saurier nickt. „Das ist ja logisch. Anstelle von 1l Sojamilch pro Woche werden wir so etwa 2l brauchen. Aber die kostet ja nicht viel.“

Nein, sie ist nicht teuer, unsere Sojamilch. Aber sie kommt im Tetrapack.

Anatol sieht mich grimmig an. „Warum musst Du jetzt sowas sagen?“ zetert er. Dann denkt er kurz nach.

„Ich werde eben auch die Sojamilch selber machen. Wie, weiss ich noch nicht. Aber das muss doch zu schaffen sein …“

Dann vertieft er sich ins Internet. Ich bin sicher, er findet eine Lösung!

Ich koste jetzt unser erstes selbstgemachtes Joghurt. Es schmeckt großartig!