94. Kapitel – Die Teezeremonie

Das kalte, neblig-regnerische Wetter hat sie mir in Erinnerung gerufen – die täglich geübte, mit Hingabe zelebrierte Teezeremonie meiner Eltern. Sie begann allnachmittäglich gegen 16 Uhr nach einem ausgedehnten Mittagsschlaf und war so unumstößlich wie ein Naturereignis. Nichts und niemand hätte „den Tee“ verhindern können.

Der Ablauf der Zeremonie ist immer gleichbleibend der folgende: Mein Vater setzt das Teewasser in dem kupfernen Teekessel auf und stellt das blau-weisse Porzellangeschirr zurecht. Die Zubereitung des Tees hingegen ist Aufgabe meiner Mutter: nur sie versteht es, die unterschiedlichen Sorten Tee (meist Assamsorten und Darjeeling) so zu mischen und zu dosieren, dass das unverwechselbare Teearoma entsteht, welches allein der Teezeremonie würdig ist.

Schließlich wird der Tee im Wohnzimmer, welches zugleich das Arbeitszimmer meines Vaters ist, am runden Herrenzimmertisch meiner Großmutter serviert. Die ganze Familie – Großmutter, Mutter, Vater, Kinder, Hund – ist versammelt, während der Tee auf seinem Messingstövchen, welches gefährlich kippelnd auf der Heizung Platz gefunden hat, noch ziehen muss.

Indessen bereitet jeder nach seinem Geschmack seine Teetasse vor. Mein Vater befüllt seine Tasse zur Hälfte mit weissen Klüntjes – meine Mutter gießt sich etwas Milch ein und gibt einen Klüntje hinzu. Ich selbst bin in einer rebellischen Phase und lehne sowohl Milch als auch Klüntjes ab. Der Tee – nun tiefschwarz und kräftig – kann eingegossen werden. Knisternd füllt sich die Tasse meines Vaters. Meine Schwester findet den Tee zu stark; sie mildert ihn mit viel Milch ab. Ich meutere, denn der Tee ist in der Tat von umwerfender Stärke und Bitterkeit. Meine Mutter bietet mir Klüntjes und Milch an – ich entscheide mich schließlich mich für den Kandis. Omi spricht dem Dresdner Stollen zu – dazu passt auch der stärkste Tee.

Bis etwa halb sechs werden wir zusammensitzen und Tee trinken. Mutter und Großmutter erörtern ihre Lieblingsartikel aus der ZEIT und der FAZ, während mein Vater sich mit uns ein wenig lustig darüber macht. Der Hund schnarcht leise und zufrieden, dicht an die warme Heizung angeschmiegt und immer nah bei meiner Mutter, von der er keinen Zentimeter abweicht…

Bis hierhin haben mir Anatol und Elie stumm zugehört. Nun können sie ihre Verwunderung nicht mehr zurückhalten.

Jeden Tag habt Ihr so gemeinsam Tee getrunken?“ ruft Elie erstaunt. „Mussten Deine Eltern denn gar nicht arbeiten?“

Eine berechtigte Frage. Meine Eltern hatten Berufe, die es ihnen ermöglichten, zu fast jeder Tages- und Nachtzeit zu arbeiten – oder auch nicht. Sie waren im Grunde nur Vormittags nicht zu Hause; die restliche Tageszeit konnte frei eingeteilt werden. So war es möglich, eine ausgedehnte Teezeit abzuhalten, die meist ohne weitere Zäsur in die Vorbereitung des Abendessens und schließlich in selbiges einmündete.

„Das klingt so gemütlich!“ findet Elie. Anatol nickt.

Ich schweige. Nicht immer war unser Familienleben so idyllisch, wie es sich nun – 30 Jahre später – anhört. Dennoch denke ich, da mir unsere Teezeit in Erinnerung kommt, sogar mit etwas Wehmut an damals zurück.

Vielleicht ist nun der Moment gekommen, an etwas Positives aus der Vergangenheit anzuknüpfen?

Anatol möchte wissen, was meine Mutter für Teesorten verwendete. Er meint, mit etwas Übung könne er den Tee meiner Mutter ganz sicher nachahmen, wenn nicht gar ihn genauso zubereiten wie sie. Ich weiss, dass Anatol bei so etwas sehr geschickt sein kann.

Mir fällt ein, dass bereits der Tee-Einkauf und seine Auswahl keinesfalls dem Zufall überlassen wurden. Der Tee wurde nur bei Alfred Ewert Tee & Gewürze eingekauft, von meinen Eltern kurz „Ewert“ genannt. Das geheimnisvolle Ladenlokal in der Weender Straße beherbergte unzählige Gewürzdosen, Teebüchsen und Spezialitäten aus aller Welt. Omi nannte es gern einen „Kolonialwarenladen“ – diese Bezeichnung war allerdings schon damals überaltert.

„Warum kaufen wir nicht bei Ewert auch so einen schönen Tee?“ bettelt Elie.

„Elie, solch ein starker, bitterer Tee würde Dir überhaupt nicht schmecken“ gebe ich zu bedenken. „Anatol und Du, Ihr trinkt doch fast nur grünen Tee.“

„Ja eben!“ jammert Elie. „Ich will endlich mal was anderes ausprobieren!“

Anatol hat indessen das Internet bemüht. „Guck mal!“ ruft er ganz aufgeregt. „Ich habe die Adresse gefunden! Ewert ist immer noch in Göttingen! Vielleicht können wir etwas dort bestellen?“

Nach einigem Zögern lasse ich mich breitschlagen und rufe bei Ewert an.  Eine sehr freundliche Verkäuferin, der ich unser Anliegen schildere, bestätigt, dass ein Versand problemlos möglich sei. Sie schlägt mir zunächst die Zusendung des Katalogs vor, in dem wir uns dann alles Gewünschte aussuchen können.

Sprachlos – und sehr erfreut – lege ich auf. Vielleicht werden wir schon bald einen echten Ostfriesentee kochen können?

„Du musst dann aber auch Klüntjes da kaufen!“ kräht Elie fröhlich.

„Sonst ist der Tee ja viel zu bitter!“

Von unserer Bestellung bei Ewert werden wir berichten.

IMG_3194 Teatime mit den Dinos

28. Kapitel – Feng Shui II

IMG_1982Anatol sagt mir gerade, dass wir uns eigentlich entschuldigen müssen für unseren Beitrag von gestern. Und zwar bei den Anhängern des traditionellen Feng Shui, die die daoistische Lehre studiert haben und danach leben.

Auf keinen Fall wollten wir diese jahrtausendealte, komplexe chinesische Harmonielehre in irgendeiner Weise lächerlich machen. Besonders Anatol interessiert sich sehr für die chinesische Kultur, was sich in seiner Liebe zum Tee und zur chinesischen Teezeremonie Gong Fu Cha ausdrückt. Hierzu aber später.

Der Beitrag von gestern wirft – so findet Anatol nun – die neuzeitliche „Minimalismus-Bewegung“ und die Philosophie des Feng Shui in einer etwas respektlosen Weise zusammen.

Aber so war es nicht gemeint. Wir wollten die beiden Theorien nicht einfach so „über einen Kamm scheren“ oder gar unreflektiert vermischen.

Dennoch gibt es Berührungspunkte zwischen Minimalismus und Feng Shui. Minimalismus hat mit der Lehre des Feng Shui zumindest dies gemeinsam: die ganz bewusste Einrichtung und Ausrichtung von Wohnraum mit wenigen Gegenständen, die etwas aussagen und die eine Bedeutung, einen Hintergrund haben. Zufällig zusammengewürftelten Krimskrams gibt es dort nicht. Auch im Feng Shui ist nur Platz für das Wesentliche.

Diese Gemeinsamkeit ist für uns wichtig. Denn eben dieser Punkt soll bei unserer neuen Wohngestaltung zum Tragen kommen.

Wir dürfen nun gespannt sein.

Eben hat Anatol jedenfalls den ersten gelben Sack zugebunden und vor die Tür gestellt. Was wir für einen Papier- und Kartonkrempel hier rumfliegen hatten … das gibts gar nicht. Der zweite gelbe Sack wird jetzt sofort zum Einsatz gebracht. Denn es geht weiter mit dem Entrümpeln.