117. Kapitel – Widerstand

Was bisher geschah

Anatol wird von seinem erfolggekrönten Klassenkameraden Angelo und dessen Lakaien – anders kann man die um den Überflieger herumscharwenzelnden Schmeichler nicht nennen – gepiesackt und getriezt. Im Unterricht traut er sich nicht mehr, Fragen zu stellen, und auf dem Schulhof spricht kaum noch ein Klassenkamerad mit ihm. Auf Dinobook und Whatsdino kursieren Meldungen, die Anatol lächerlich machen.

Als ich das gesamte Ausmaß der Schikane, deren Opfer Anatol ist, erkenne, ist meine erste Reaktion ohnmächtige Wut. Fast will ich mir die Schuldigen persönlich vorknöpfen und ihnen eine Abreibung verpassen. Leider muss ich jedoch erkennen, dass Schul- und Cybermobbing ein von den Tätern mit List vorbereitetes Manöver ist: es ist geradezu unmöglich, nachzuweisen, auf wen die Gemeinheiten zurückgehen. Wir haben zwar einen Hauptverdächtigen, aber keine Beweise. Die häßlichen Bemerkungen, die Anatol in der Schule zu ertragen hat, werden meist vor der Clique abgegeben, die auf der Seite des Mobbers steht und die gegen ihn nicht aussagen wird. Wer das Federmäppchen entwendet und in die Mülltonne geworfen hat: es bleibt im Dunklen. Ebenso verhält es sich mit dem Schulheft, in welchem die gemachten Hausaufgaben notiert sind: es verschwindet und wird später zerfleddert und verdreckt auf dem Schulhof wiedergefunden. Der Täter bleibt unerkannt.

Das Opfer hat nur den Schaden – aber keine Zeugen.

Äußerungen, die der Mobber während des Unterrichts abgibt, und die Anatol treffen sollen, werden vom Lehrer nicht immer als „so schlimm“ aufgefasst. Dass sich die spitzen Bemerkungen aber häufen und sich wieder und wieder gegen die selbe Person richten, fällt nicht auf: in jeder Stunde sind andere Lehrer anwesend, die nicht wissen, was in der vorhergehenden und der nachfolgenden Schulstunde passiert.

Das außergewöhnliche Nachhilfeprojekt war Anatols vergeblicher letzter Versuch gewesen, in der Schule und besonders seiner Klasse wieder etwas Ansehen zu erlangen. Aber das Projekt ist von Angelo vor versammelter Mannschaft ins Lächerliche gezogen worden – es wird nun kaum jemals umgesetzt werden. Zu groß ist die Angst der anderen Schüler, ebenfalls in Ungnade zu fallen, falls sie sich an einem solchen Projekt beteiligen.

IMG_3556Anatols Reaktion kann man nicht einmal mehr Verzweiflung nennen. Er liegt unter der Decke in seinem Nestchen und wiederholt seit einer Stunde gebetsmühlenartig den selben Satz: „Ich geh da nie wieder hin!“

Mina, Elies kleine Stoffkuh, hat sich zu Anatol gesetzt und versucht, ihn zu trösten.

Anatols legendäre Chuzpe, seine Fröhlichkeit und Dreistigkeit, sein Selbstvertrauen: es ist alles dem Mobbing anheimgefallen. Anatol ist nicht wiederzuerkennen.

So kann es nicht weitergehen. Uns allen ist klar: es muss etwas geschehen. Nur wie?

Elie sitzt ratlos am Computer.

„Ich hab unendlich viele Seiten gefunden, die sich mit „Mobbing in der Schule“ beschäftigen. Alle sagen das Gleiche: man soll die Lehrer und die Schulleitung informieren. Nur leider ist ja der Direktor auf Angelos Seite! Er ist zu stolz darauf, einen Preisträger von Dinojugend forscht auf der Schule zu haben. Gegen den wird er nie etwas tun. Und die Lehrer auch nicht. Eher müssen wir von der Schule …“

Ich kann es nicht fassen. Da mobbt ein Schüler ungestraft über Wochen einen anderen – und nun soll es gar das Opfer sein, welches weichen muss? Meine Dinos sollen von der Schule, weil ein bösartiger Klassenkamerad ihnen das Leben zur Hölle macht?

Das ist schon deshalb undenkbar, weil es in der Nähe gar keine geeignete andere Schule gibt. Anatols Schule ist ein etwas altmodisches, altsprachlich-humanistisches Gymnasium, an dem man aber nicht nur Latein und Griechisch, sondern auch lebende Sprachen perfekt erlernt. Zudem ist es meine alte Schule … nein, die werden wir nicht aufgeben. Abgesehen davon, dass Anatol auf dem naturwissenschaftlichen Gymnasium, das es hier auch noch gibt, verloren wäre: Mathematik, Physik und Chemie gehören leider nicht zu Anatols Stärken – auch wenn er sich noch so anstrengt.

Nein, wir werden das Feld nicht räumen. Wir leisten Widerstand!

Fortsetzung folgt!

63. Kapitel – With a little help from my … Omi !

Es ist kurz nach eins. Anatol hat das Mittagessen bald fertig, während ich noch an meiner Novelle schreibe, mit der ich endlich ein gutes Stück weitergekommen bin.

„Anatol, ist Elie denn noch nicht zu Hause?“ rufe ich in die Küche. Dort ertönt ein Klappern, irgendetwas muss dem Butler heruntergefallen sein.

„Was erschrickst Du mich so! Fast hätte ich mich beim Kartoffeln-Abgießen verbrüht. Nein, Elie ist noch nicht da. Komisch – die Schule war doch heute nach der 5. Stunde aus, nicht?“

Das ist richtig. Elie hätte eigentlich um zwanzig vor eins hier sein müssen. Ich beginne, mir Sorgen zu machen. „Anatol, kannst Du gucken, wo Elie steckt? Den Schulweg abgehen oder so? Ich würde gern noch etwas weiterschreiben.“

„Unmöglich. Ich bin noch nicht mit dem Essen fertig – gerade erst fange ich mit der Soße für den Nachtisch an. Ich kann jetzt nicht weg. Sonst gibt es heute Mittag kein Essen.“

Seufzend stehe ich auf. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich selbst aufs Rad zu schwingen und nach Elie zu suchen.

Schnell fahre ich den Hainholzweg hinunter, über den Friedländerweg in Richtung Cheltenhampark. Dort, direkt am Parkeingang, steht Elies Roller – das Handarbeits-Täschchen am Lenker baumelnd.
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Wo ist Elie?

Ich höre ein leises Wimmern. Zwei Schritte weiter finde ich den Dinosaurier, unter einem Baum sitzend – in Tränen aufgelöst.IMG_2577

„Was ist denn passiert? Anatol und ich haben uns Sorgen gemacht! Hat Dich jemand geärgert?“

„Nein!“ heult Elie. „Es ist die Spinne!“ Auf meinen entgeisterten Bick hin fängt Elie an, sein Missgeschick zu erzählen. Er sei um halb eins aus der Schule gekommen. Mit seinem Roller sei er durch den Park gefahren und am Kornelkirschenbaum vorbeigekommen. Dort habe er den Roller kurz abgestellt und ein paar Kornelkirschen gepflückt. Als er dann mit dem Roller habe weiterfahren wollen, sei ihm eine Spinne aufgefallen, die heimtückisch sich vom Lenker direkt in sein Handarbeits-Täschchen abgeseilt habe und dann in den Tiefen des Täschchens verschwunden sei.

Elie hat panische Angst vor Spinnen. Es sei ihm unmöglich gewesen, den Roller mit dem am Lenker hängenden Täschchen und der mutmaßlich sich darin befindenden Spinne zu berühren und nach Hause zu fahren. Er habe sich daher in sicherer Entfernung hingesetzt, die Tasche im Auge behalten, und darauf gewartet, dass die Spinne wieder aus der Tasche herausklettere. So warte er seit einer halben Stunde.

Ich muss mich ebenfalls setzen. „Elie, Du weisst, dass Dir die hiesigen Spinnen überhaupt nichts tun können? Es gibt keinen Grund, vor ihnen Angst zu haben. Sie sind im Gegenteil sogar sehr nützliche Tiere, denn sie halten uns die Mücken vom Leib!“

Dann frage ich vorsichtig: „Wie groß ist diese Spinne überhaupt, die jetzt angeblich in Deinem Handarbeits-Täschchen sitzt?“

„Sie ist gigantisch!“ schreit Elie und zeigt mit seinen Tatzen eine etwa 2 mm große „Riesenspinne“ an.

„Ich werde die Spinne jetzt aus Deinem Täschchen herausholen, ok?“ sage ich, nehme das Täschchen vom Lenker und öffne es. Eine Spinne sehe ich nicht. Ich entnehme der Tasche das Nadelkissen, die Wollknäuel, Stricknadeln und Häkelhaken … aber keine Spinne.

„Elie, hier ist keine Spinne drin. Kann es sein, dass sich die Spinne gar nicht in das Täschchen hinuntergehangelt hat? Sondern dass sie sich brav bis auf den Boden abgeseilt hat und dann ihres Wegs gekrabbelt ist?“

„Nein nein, das kann nicht sein“ weint Elie. „Sie muss da drin sein, bestimmt! Hol sie bloß raus aus dem Täschchen! Ich kann die Sachen jetzt gar nicht mehr anfassen vor Angst – und das Schlimmste ist, dass ich bis übermorgen eine Nadelarbeit machen muss – Fräulein Evers will sie am Mittwoch haben! Die wird auch benotet!“ Elie ist verzweifelt.

„Elie, das ist verrückt. In deinem Täschchen ist KEINE Spinne. Es gibt deshalb auch keinen Grund, das Täschchen und die ganzen Sachen nicht mehr anzufassen. Wir fahren jetzt nach Hause, dann gibt es Essen und heute Nachmittag fängst Du an, diese Nadelarbeit vorzubereiten. Wenn Du Fräulein Evers erzählst, dass Du die Hausarbeit nicht gemacht hast, weil angeblich eine Spinne in Dein Handarbeits-Täschchen gekrochen ist, wird sie bestimmt noch wütender auf Dich als sie es sowieso schon ist.“

Elie ist in „Textil- und Handarbeiten“ leider mit Abstand der schlechteste Schüler der Klasse, was aber nicht daran liegt, dass er unbegabt ist. Nein: Elie weigert sich beharrlich, die von der Lehrerin vorgegebenen Themen zu beachten.

Wenn er ein Wandbild aus Stoff besticken soll, fertigt Elie lieber eine Umhängetasche an. Begründung: „Wandbilder sind doof! Umhängetaschen sind toll.“ Wenn ein Webstoff hergestellt werden soll, baut Elie aus den Webschiffchen Pfeil und Bogen und schießt damit auf Fräulein Evers. Den kleinen Schulwebrahmen funktioniert er zu einem Saiteninstrument um und zupft darauf herum. Im Kunstunterricht, den ebenfalls Fräulein Evers gibt, malt Elie, was ihm gerade einfällt – nicht aber die von der Lehrerin festgelegten Motive. Dem Panther, der in einem Dschungelbild auftauchen soll, gesellt er ein Pantherbaby hinzu („Es ist kein Panther, sondern eine Pantherin, und das hier ist ihr Pantherbaby!“). Auf den Befehl, das Pantherbaby mit Deckweiss zu übermalen, da es nicht ins Sujet gehöre, antwortet Elie mit Wutgeheul. Das Pantherbaby bleibt – Elie kassiert dafür eine 5. Er hat sein Pantherbaby gerettet – nur das zählt.

Die anderen Schüler, allen voran der smarte Angelo, schütteln den Kopf. Doch Elie bleibt ein rebellischer Geist. Fräulein Evers gesteht zwar zu, dass Elie durchaus kreative Ideen habe. Diese würden jedoch ihren Unterricht sprengen. Elie hat daher in Kunst und Handarbeiten eine 6.

Es wird nun Zeit, diese Note zumindest in eine 5, besser noch in eine 4 zu verwandeln – das gibt sogar Elie zu. Aus diesem Grund will er auch die Textil-Hausarbeit richtig gut machen.

Wie dem auch sei – eine weitere eingehende Untersuchung der Handarbeitstasche fördert keine Spinne zu Tage. Widerstrebend nimmt Elie endlich seinen Roller und wir können nach Hause fahren, wo Anatol mit einer leckeren Kartoffelsuppe auf uns wartet. Zum Nachtisch gibt es Apfelstrudel mit Vanille-Soße!

Nach dem Mittagsschlaf lasse ich mir von Elie die besagte Nadelarbeit, die Fräulein Evers ihm aufgegeben hat, zeigen. Elie soll aus Stoffresten ein Nadelbuch nähen. Im Grunde eine schöne Aufgabe, denn es soll ein nützlicher Gegenstand hergestellt werden. Nur wie soll Elie das schaffen? Er ist mit Nadel und Faden völlig überfordert. Schon will er wieder in Tränen ausbrechen. Ich selbst bin ebenfalls ratlos.

Hier mischt Anatol sich ein. „Das wäre ein klarer Fall für Omi. Sie würde das perfekte Nadelbuch nähen!“

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Es stimmt. Ich erinnere mich: meine Omi war mir bei derlei Aufgaben immer eine große Hilfe gewesen. Sie hatte mir die Handarbeiten aber nicht abgenommen, sondern hatte mir gezeigt, wie man näht und mit welchen Tricks eine Nadelarbeit richtig gut wird. Die eine oder andere Naht hatte sie mir aber auch einfach genäht. Omi war großartig. Leider hatte ich das Handarbeiten später ganz aufgegeben und die von Omi erlernten Dinge wieder vergessen.

Elie weiss nicht, dass wir Omi nicht mehr um Rat fragen können. Hoffnungsvoll meint er „Dann rufen wir Omi doch einfach gleich an!“ Anatol erklärt Elie, dass das leider nicht mehr möglich ist, und erntet Verzweiflungsgeheul.

Ich spreche ein Machtwort: die Handarbeit wird für heute eingestellt. Morgen sei immer noch genügend Zeit, um das Nadelbuch anzufertigen. Heute habe Elie ausreichend Aufregung erlebt, und schließlich seien auch noch die Rechen- und Sachkundehausaufgaben zu bewältigen. Das Nadelbuch müssen nun warten.

Ich nehme die Stoffreste und die anderen Nähsachen von Elie an mich, lege sie in mein Nähkästchen zu den Handarbeitsutensilien, die Omi mir zum Teil noch geschenkt hatte, und schließe das Kästchen in den Schrank ein.

Dann überlege ich fieberhaft, was zu tun ist. Eins ist klar: weder Anatol noch ich geschweige denn Elie sind in der Lage, das geforderte Nadelbuch zu nähen.

Der Dienstag verstreicht, ohne dass wir an das Nadelbuch denken. Am Dienstag Abend fällt Elie siedendheiss ein, dass die Handarbeit noch nicht fertig, ja nicht einmal begonnen ist. Was nun? Die Arbeit muss morgen in der Schule abgegeben werden!

IMG_2582Ich lasse mir das Nähkästchen von Elie bringen. Wir müssen nun improvisieren. Anatol guckt mir gespannt über die Schulter – wie werden wir wohl aus ein paar Stoffresten ein regelrechtes Nadelbuch zaubern? Irgendeine Notlösung muss uns nun einfallen, daran führt kein Weg vorbei.

Elie stellt das Nähkästchen auf den Tisch und öffnet es.

Und da – oh Wunder! – ein prachtvolles, aus den Stoffresten zusammengenähtes und wunderschön besticktes Nadelbuch liegt ganz obenauf im Nähkästchen. Elie ist sprachlos – ebenso wie Anatol und ich.IMG_2583

Ich nehme das Nadelbuch aus dem Kästchen heraus. In das Buch sind schon die Nadeln und auch meine Handarbeitsschere – die, die Omi mir damals geschenkt hatte, und die mich mein ganzes Leben lang begleiten soll – eingesteckt.

IMG_2585Elie steht der Mund offen. Anatol sieht mich ungläubig an und flüstert atemlos: „Meinst Du, Omi  ist gekommen und hat das für Elie genäht? Nur wie …?“

Ich kann ebenfalls nicht erklären, was hier passiert sein mag.

IMG_2587Elie wird mit dem hübschen Nadelbuch seine erste Eins in Handarbeiten bekommen. Die Note ist nicht verdient, da Elie das Büchlein nicht selbst genäht hat. Elie ist aber so glücklich über das Nadelbuch, dass er sich ins Handarbeiten regelrecht hineinstürzen wird. Er wird später einer der besten Schüler von Fräulein Evers werden, sehr zum Erstaunen letzterer.

Ich werde Elie nicht verraten, dass ich am Dienstag Vormittag zu Annas Eltern ins Schneideratelier gegangen war und dort die missliche Lage erklärt hatte. Annas Eltern waren glücklicherweise sehr verständnisvoll gewesen und hatten ein wunderschönes Nadelbuch für Elie genäht – so wie Omi mir damals auch bei meinem Nadelbuch geholfen hatte.

Ob Fräulein Evers die Hausarbeit Elie nur auferlegt hat, um ihm die Chance zu geben, mit etwas „Nachhilfe“ zumindest eine  ordentliche Arbeit vorweisen zu können und so im Zeugnis der 3. Klasse in Handarbeiten keine 6, sondern eine 5 zu bekommen, wird jedoch niemand von uns je erfahren.

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 Von links nach rechts: Onkel Lothar, Judith, Omi – und ich,

am 19. August 1980.

 

 

42. Kapitel – Lieblingslehrer

Photo: Ben Thies800px-Max-Planck-Gymnasium_Göttingen_Hauptgebäude

Anatol kann gar nicht mehr aufhören, von seiner neuen Klassenlehrerin zu erzählen. Sie heisst Frau Berger und gibt Englischunterricht. Anatol findet, sie könne nicht nur ganz toll Englisch, nein – sie sei auch noch unglaublich hübsch, und so freundlich zu den Schülern!

„Ich glaube, Frau Berger ist meine Lieblingslehrerin!“ erklärt er heute beim Abendessen. „Im nächsten Zeugnis will ich in Englisch eine Eins bekommen – damit sie merkt, wie gern ich sie mag!“

Diese sehr löbliche Einstellung kann ich nur unterstützen.

„Hattest Du auch eine Lieblingslehrerin?“ fragt Elie.

„Ja, das hatte ich. Meine Französischlehrerin, Frau Klein. Aber ich hatte auch zwei Lieblingslehrer.“

„Wie kann man denn gleich zwei Lieblingslehrer haben? Das geht doch nicht!“ meint Anatol.

„Doch, das geht.“ antworte ich. „Die beiden waren sehr unterschiedlich, aber ich mochte sie beide unglaublich gern. Wir hatten viele nette Lehrer, aber diese beiden waren etwas Besonderes. Der eine war unser Lateinlehrer, und der andere unterrichtete Geschichte.“

„Geschichte finde ich so spannend!“ sagt Elie. „Erzähl uns von Deinem Geschichtslehrer! Wieso war er besonders?“ Elie rutscht aufgeregt auf seinem Stuhl herum.

Ich willige ein und beginne, zu erzählen.

Es muss das Jahr 1983 sein …  gelangweilt sitzen wir – die 9b – an unseren Tischen. Gleich beginnt die Geschichtsstunde. Draußen scheint die Sonne wunderbar warm: der Sommer ist nicht mehr fern. Viel lieber würden wir jetzt auf dem Schulhof spielen – oder im Schatten unter der Linde ein gutes Buch lesen.

Unserer Geschichtslehrer betritt den Klassenraum. Es ist ein älterer Herr mit Glatze, die er vergeblich versucht, unter ein paar verbleibenden Haaren zu verstecken. Heimlich machen wir darüber Späße – achten aber darauf, dass er es nicht merkt, denn Herr von Wedemeyer ist sehr streng.

Heute ist er nicht allein – ein großer Schüler, scheinbar kaum älter als wir, begleitet ihn. Ob der bei uns in die Klasse gehen soll? Dazu sieht doch etwas zu erwachsen aus.

„Kinder, ich stelle Euch Herrn Reinecke vor. Er ist Referendar und wird Euch von jetzt an mit mir gemeinsam unterrichten. Heute wird er den Geschichtsunterricht geben – bitte seid aufmerksam und brav.“

Mit diesen Worten verlässt Herr von Wedemeyer das Klassenzimmer und lässt den Neuen mit uns allein.

Ein Referendar … normalerweise bedeutet das, dass man weder aufpasst noch irgendetwas von dem tut, was der Referendar anordnet. Ein Referendar ist Freiwild. Schließlich ist er kein „echter“ Lehrer – so denken wir zumindest. Der Klassenkasper hat bereits ein gut mit Spucke eingeweichtes Papierkügelchen in seiner Zwille – zack! fliegt es auf Herrn Reinecke zu.

Herr Reinecke reagiert allerdings nicht wie ein normaler Referendar, der versuchen würde, dem Geschoß auszuweichen. Er fängt die Kugel blitzschnell mit der linken Hand ab, bevor sie ihn treffen kann, und wirft sie mit einer spielerischen Handbewegung zielsicher in den mehrere Meter entfernten Papierkorb.

Der Klassenkasper blickt seiner Papierpatrone ungläubig nach, während Herr Reinecke trocken bemerkt „Nun können wir wohl mit dem Unterricht anfangen. Bitte holt Eure Bücher heraus. Wir werden die deutsche Revolution von 1848 durchnehmen. Könnt Ihr mir dazu etwas sagen? Wir wollen als erstes all das sammeln und aufschreiben, was Ihr über dieses Thema schon wisst. Wer ist denn die junge Dame hier gleich vorn? Susanne – bitte fange doch an, uns ein paar Stichworte zu sagen. Ich schreibe sie an die Tafel. Es wird jeder drankommen, keine Angst.“

Wir sind sprachlos. Einen solchen Referendar haben wir noch nie gehabt. Er weiss genau, was er tut – so als hätte er schon viele Jahre unterrichtet. Plötzlich sind wir alle – selbst die eingefleischten Leistungsverweigerer – motiviert, in Geschichte mitzuarbeiten. Geschichte wird unser Lieblingsfach.

Kurze Zeit später wird Herr Reinecke auch unser Sportlehrer. Dies zwingt mich dazu, meine Mutter so lange zu bearbeiten, bis sie mir endlich die hübschen Sportklamotten kauft, mit denen ich – wie alle anderen Mädchen der Klasse – gedenke, unseren smarten neuen Sportlehrer zu beeindrucken. Letzteres misslingt zwar vollständig, aber meine Leistungen in Geschichte und Sport verwandelen sich plötzlich von „mittelmäßig“ in „sehr gut“.

Herr Reinecke absolviert seine Referendarstation in unserer Klasse mit Bravur. Als er uns verlässt, um sein Examen vorzubereiten, wünschen wir ihm viel Glück und Erfolg – und erklären unumwunden, dass wir ihn danach als Geschichts- und Sportlehrer wiederhaben wollen. Etwas anderes akzeptierten wir nicht.

Es ist außerordentlich ungewöhnlich, dass ein Lehrer nach bestandenem Examen ausgerechnet in der Schule eine Stelle findet, in der er seine Referendarstation abgeleistet hat.

Wir haben dieses Glück: als wir in die 11. Klasse kommen, erwartet Herr Reinecke uns im Klassenzimmer – wir sind nun keine „Kleinen“ mehr, sondern gehen in die Oberstufe. Herr Reinecke verlangt uns hohe Leistungen ab – aber wir freuen uns auf jede Stunde bei ihm.

Herr Reinecke fehlt plötzlich. Die Geschichtsstunden fallen erst aus, dann vertritt ein anderer Lehrer. Wir erfahren, dass Herr Reinecke sehr krank ist, und dass er eine Dialyse braucht. Es ist das erste Mal, dass ich dieses Wort höre.

Ein paar Monate später ist Herr Reinecke wieder da – verändert. Er ist müde und man sieht ihm an, dass er krank gewesen ist. Dennoch gibt er uns weiter Sportunterricht und gönnt sich kaum Ruhe. Wir trauen uns nicht, ihn auf die Krankheit anzusprechen. Sie macht uns Angst, und wir wollen ihn nicht mit Fragen belasten.

Im Sommer gehen wir für eine Woche auf Klassenfahrt nach Heidelberg. Wir wünschen uns Herrn Reinecke als Begleiter. Eine Klassenkameradin spricht das aus, was wir alle denken: „Er ist ja so süß!“

Im Schwimmbad spielen wir Wasserball. Wir tollen so herum, dass ein älterer Herr sich etwas beschwert. Herr Reinecke – der so aussieht, als wäre er unser großer Bruder – sorgt schnell für Ordnung: einzig mit seiner freundlichen, bestimmten Art.

Geschichte wird mein mündliches Prüfungsfach im Abitur. Von der 9. Klasse an bis zum Abitur werde ich keinen anderen Geschichtslehrer mehr haben als Herrn Reinecke.

Am Tag der mündlichen Prüfung bin ich sehr aufgeregt. Herr Reinecke teilt die Prüfungsaufgabe aus: es geht um die Frankfurter Nationalversammlung – das habe ich ja bei ihm gelernt. Bevor er mich für die Vorbereitung der Prüfung alleinlässt, fragt er mich, ob alles ok ist – er sieht mir die Aufregung an. Ich nicke. Es kann nichts schiefgehen!

Eine Stunde später holt er mich zur Prüfung ab und sieht, dass ich mich beruhigt habe. Er klopft mir auf die Schulter und sagt: „Frisch, fromm, fröhlich, frei:  das schaffen wir jetzt, ok?“

Ich bestehe die Prüfung mit einer guten Note. Um nichts in der Welt hätte ich meinen Lehrer enttäuschen wollen.

1988 machen wir Abitur. Wir sind der erste Jahrgang, den Herr Reinecke zum Abitur bringt.

Ich gehe zum Studium in eine andere Stadt – und ins Ausland. Nach Hause komme ich nur selten, und in unsere alte Schule kehre ich gar nicht mehr zurück.

2008 feiern wir unser 20jähriges Abitur. Wie konnte die Zeit so schnell vergehen? Eben waren wir noch in der 9. Klasse …  Herr Reinecke ist natürlich auch auf unserer Feier – wie könnte er fehlen. Ich habe nur ein paar Minuten, um mich mit ihm zu unterhalten – zu viele Schulkameraden sind da, es gibt so viel zu erzählen. Dennoch bemerke ich, dass es Herrn Reinecke nicht gut geht. Er sieht sehr müde aus – ich hoffe, dass es nur vorübergehend ist.

Als ich von der Feier nach Hause fahre, nehme ich mir fest vor, beim nächsten Abiturtreffen Herrn Reinecke alles das zu sagen, was er uns Gutes getan hat – als Lehrer in seinem Unterricht, und als Mensch, der uns gezeigt hat, wie man erwachsen wird.

Ich werde ihn jedoch nie wiedersehen. Herr Reinecke stirbt im Mai 2013 mit nur 59 Jahren.

Elie laufen Tränen aus den Augen.

Anatol fragt ungläubig: „Und Du konntest ihm niemals sagen, wie gern Du ihn gehabt hast, und was er Dir als Lehrer bedeutet hat? Meinst Du nicht, er muss das gewusst haben?“

„Ich hoffe es, Anatol. Ich hätte damals mit ihm sprechen sollen. Warum habe ich das nur nicht getan.“

Anatol sagt entschlossen: „Morgen gehe ich als erstes zu Frau Berger und umarme sie ganz fest. Und dann sage ich ihr, dass ich und alle meine Klassenkameraden sie total lieb haben.“

Ich lächle.

„Das ist eine gute Idee, Anatol. Frau Berger freut sich ganz sicher darüber. Achte vielleicht nur darauf, dass Angelo Dich dabei nicht sieht.“

OLYMPUS DIGITAL CAMERAPhoto: Elke Rumpel

39. Kapitel – Das Tablet

IMG_2101Elie kommt aufgeregt aus der Schule zurück. Frau Goyke – die strenge Mathematiklehrerin – hatte gestern angekündigt, dass sie ihre heutige Mathe-Doppelstunde für eine Einführung in die Internettechnik zur Verfügung stellen werde. Diese Veranstaltung hat heute stattgefunden.

Frau Goyke ist – obschon eine ältere Dame – sehr zukunftsorientiert. Sie meint, man müsse die Schüler so früh wie möglich mit dem Internet vertraut machen, denn das sei die Technik der Zukunft. Jeder Saurierjunge und jedes Sauriermädchen müsse damit umgehen können.

„Mädchenkompetenz“ nenne sie das, sagt Elie. Das Wort „Medien“ kennt Elie noch nicht.

Heute hatte Elies Klasse also die „Einführung in die Technik des Internets“. Ein freundlicher Lehrer aus einer anderen Schule sei gekommen und habe mehrere Stunden lang alles über das Internet erklärt. Wie man eine Webseite erstelle, in Form bringe und wie man mit Programmiersprachen umgehe. Auch was soziale Netzwerke seien und wie man sich als junger Dino dort am besten verhalte, habe er ganz toll erklärt, findet Elie.

Angelo, der Klassenbeste, habe das allerdings alles schon gewusst und sich bei der Veranstaltung ziemlich gelangweilt. „Sowas weiss doch heute jedes Kind“ habe er gestöhnt. Elie habe dann so getan, als ob er das selbstverständlich auch alles schon wisse. Insgeheim befürchtet er aber, Angelo habe längst gemerkt, dass er – Elie – in Wirklichkeit gar keine Ahnung habe.

„Wieso kann Angelo das alles, und ich nicht!?“ fragt Elie vorwurfsvoll. „Elie, das weiss ich nicht“ sage ich. „Vielleicht hat Angelo Eltern, die das studiert haben, und die es ihm besonders gut beibringen können?“

„Quatsch“ meint Anatol. „Als Angelos Eltern studiert haben, gab es noch gar kein Internet. Die haben es ihm ganz sicher nicht erklärt. Wenn, dann war das eher seine kleine Schwester – die ist nämlich ein Informatik-Freak!“

Ich versuche nun unauffällig, mich aus dieser Diskussion zurückzuziehen, denn ich selbst bin in diesen Dingen keine Expertin.

Unsanft werde ich wieder in das Gespräch zurückgeholt. „Weisst Du, was der Lehrer dann getan hat? Um uns das Internet richtig gut zu erklären?“ „Nein, das weiss ich nicht, Elie. Warum erzählst Du es nicht?“

Dies beeilt Elie sich, zu tun – und ich habe das Gefühl, dass er nun zum springenden Punkt kommt: Der Lehrer habe nämlich an alle Saurierschüler ganz tolle Tablets ausgeteilt, an denen sie arbeiten durften – um das Internet kennenzulernen.

„Elie, das Surfen im Internet ist kein „Arbeiten“. Das ist einfach nur Vergnügen.“

„Das stimmt nicht! Der Lehrer hat uns gesagt, dass heute fast alle Leute im Internet arbeiten und dass es sehr wahrscheinlich sei, dass wir das später auch tun werden!“

Anatol gibt ein verächtliches Knurren von sich. „Arbeite ich vielleicht im Internet? Bisher habe ich immer noch echte Kartoffeln gekocht – keine virtuellen.“

Hierauf weiss Elie nichts zu erwidern. Er entscheidet sich, trotzdem das loszuwerden, worum es ihm von Anfang an ging:

„Ich will auch ein Tablet haben! Lilian hat eins zum Geburtstag bekommen, und Anna darf das von ihren Eltern haben! Angelo hat sogar ein Tablet, das es eigentlich noch gar nicht gibt, so neu ist es. Er nennt es einen Prototypen! Nur ich habe keins!!“

Ich entscheide mich nun für die Radikalmethode. „Elie, ich hab den Computer grad an – nun sieh hier mal die Preise von solchen Tablets. Da: sie kosten mehrere 100 Euro! Wir haben dafür kein Geld übrig. So etwas können wir uns nicht leisten.“

Die zu erwartende Antwort ist lautes Geheul. Aber so gern ich meinen Sauriern ein Tablet gegönnt hätte: es ist einfach zu teuer.

Elie verkriecht sich weinend ins Dino-Nestchen. Er tut mir leid, denn ich weiss, wie hoch der Druck auf die kleinen Saurier ist – von Mitschülern, die besser ausgestattet sind. Aber wir alle mussten das zum einen oder anderen Zeitpunkt erleben, und haben es auch überlebt.

Mit dieser Pseudoweisheit beruhige ich mein Gewissen leidlich und setze mich an meine Arbeit, die mich an diesem Nachmittag allerdings gar nicht inspiriert. Es kommen mir keine Ideen für meine Novelle – ich habe eine Schreibblockade. Nach einer Stunde, in der ich nichts Brauchbares zu Papier bringe, entscheide ich mich, in die Stadt zu gehen und am Kiosk einen Crêpe mit Zucker und Zimt zu essen.

Anatol und Elie sollen natürlich mit – aber ich bemerke, dass sich die beiden Schlawiner ganz allein auf den Weg in den Park gemacht haben. Immerhin hat Anatol einen Zettel an die Tür geklebt: „Sind im Park. Bis später, Anatol“

Ich muss also meinen Crêpe allein essen. Das kommt mir gut zupass, denn ich habe heute keine Nerven für zankende kleine Saurier, die dem anderen den Crêpe neiden, nur weil sie selbst einen anderen ausgesucht haben.

Der kleine Stadtbummel und der Crêpe tun mir gut. Ich meine sogar, eine neue Wendung für die Novelle gefunden zu haben und beeile mich, nach Hause zu fahren, um die Idee sofort aufzuschreiben. Mein Weg führt durch den Park – dort hoffe ich, die beiden Butler anzutreffen, um ihnen zu sagen, erst gegen 19 Uhr nach Hause zu kommen, da ich für die Novelle noch ein ruhiges Stündchen brauche. Dabei will ich ihnen auch etwas Geld für ein Eis dalassen.

Als ich am Musikpavillon ankomme, sehe ich links eine Ansammlung von kleinen Sauriern. Und es handelt sich nicht um eine friedliche Gruppe! Ich höre Geschrei und sehe, wie ein kleines helles Wesen einem kleinen grünen Etwas mit einem flachen Gegenstand auf den Kopf schlägt! Darum herum stehen die beiden anfeuernde Saurierjungen, während ein kleiner Pirat versucht, die beiden Kontrahenten zu trennen.

Ich nähere mich dem Geschehen – und muss mit Entsetzen feststellen, dass die beiden Streithähne Anatol und Elie sind. Elie schlägt zwar auf Anatol ein – dieser scheint sich aber gar nicht zu wehren. Anna – die mutige Piratin – versucht vergeblich, Elie davon abzuhalten, Anatol weiter zu hauen.

Als ich die Bande zur Ordnung rufe, stiebt das Grüppchen auseinander. Elie wirft den Gegenstand weg, den er bisher gegen Anatol eingesetzt hatte und springt mir weinend auf den Arm. „Anatol ist SO GEMEIN!“ heult er und versteckt seinen Kopf in meiner Armbeuge.

Anatol schaut betreten zu Boden. „Das ist alles nur ein Missverständnis! Es sollte doch nur ein harmloser Spaß sein,“ brummt er. „Nein ich glaub das nicht!“ schluchzt Elie.

Was war geschehen? Anna im Piratenanzug erzählt es mir. Elie habe seit der Schulveranstaltung über das Internet unbedingt ein Tablet haben wollen. Und da habe Anatol vorgeschlagen, ihm einfach eines zu basteln – wenn ich Elie schon keines kaufen könne.
Anatol habe dann eine kleine weisse Schiefertafel gebaut, einen schönen glänzenden Rahmen und einen angebissenen Apfel daraufgemalt, ein paar Apps auf die Schiefer gezeichnet und Elie dann gesagt, so ein einzigartiges Tablet habe keiner. Dabei habe er noch nicht einmal die Unwahrheit gesagt.
IMG_2099Problematisch sei die Sache geworden, als Elie das Täfelchen freudestrahlend den Dinokumpels gezeigt habe. Lilian habe es sogar richtig „cool“  gefunden – nur wo sei denn bloß der An-Knopf? Angelo habe verächtlich gefragt, wie Elie denn damit gedenke, Online zu gehen – worauf Elie geantwortet habe, er könne mit dem Täfelchen in der Hand ja überall hingehen, sicher auch nach Online. Angelo habe mit den Augen gerollt und gemeint, er sei dann mal weg zu seinen Informatikkumpels – er wünsche noch viel Spaß mit dem Steinzeitgerät.

Hier habe Elie gedämmert, dass er einem verspäteten Aprilscherz aufgesessen sein musste. Voller Wut sei er mit dem Täfelchen in der Hand zu Anatol gelaufen, der am Stegobaum saß, und habe angefangen, ihn mit der Schiefertafel zu verhauen. Anatol sei so verdattert gewesen, dass er sich gar nicht gewehrt habe. Da das Täfelchen in Wirklichkeit nicht einmal aus Schiefer, sondern aus bemalter Pappe war, brauchte er allerdings auch keine besondere Gegenwehr zu leisten.

Nun hängt der Haussegen schief. So schief wie noch nie.

Ich sage Anatol, er solle nach Hause gehen. „Anatol, ich weiss nicht, was Du Dir dabei gedacht hast. Sieh, was Du angerichtet hast! Bitte geh schon mal vor, ich versuche jetzt, Elie zu beruhigen.“

Nun sehe ich, wie Anatol Tränen übers Gesicht laufen. Er hatte Elie nicht verkohlen wollen. Aber er hatte mit der ihm manchmal eigenen Hybris einfach nicht bedacht, dass man manche Dinge noch schlimmer machen kann als sie sowieso schon sind, wenn man sich einmischt.

„Willst Du mich jetzt rauswerfen?“ weint er.

Wir sind im ganz großen Drama angelangt. Ich muss mir etwas ausdenken, um das Unheil einzudämmen.

Als erstes schicke ich die zahlreichen Schaulustigen weg. „Kinder, es ist spät. Bitte geht nach Hause.“ Zum Glück wird dies befolgt. Nur Anna bleibt, denn sie hat den gleichen Weg wie wir.

Ich bitte Anna, Elie an die Hand zu nehmen. Anatol knüpfe ich mir vor. „Anatol, Du hast Elie vor seinen ganzen Freunden lächerlich gemacht mit dieser Schiefertafel.“ Ich hebe das Täfelchen auf und stecke es ein. „Was können wir jetzt nur tun, um das wieder auszubügeln?“

Anatol weint. Er habe nicht bedacht, dass Angelo gleich merken würde, dass das Tablet nicht echt war. Die anderen Freunde hätten gar nicht gesehen, dass es eine Schiefertafel war. „Eine Papp-Schiefertafel,“ korrigiere ich.

Zuhause angekommen verkriechen sich beide Saurier in je eine andere Ecke. Sprechen will keiner. So geht es nicht, das ist klar.

Ich packe die beiden, setze sie zwangsweise zusammen in ihr Nestchen und halte eine Standpauke.

„Elie, wenn Du nicht so sehr nach einem Tablet geheult hättest, von dem Du ganz genau weisst, dass es zu teuer ist – dann wäre das alles nicht passiert. Du trägst an der Sache auch einen kleinen Anteil – denke bitte darüber nach! Und Anatol, Dir empfehle ich, zukünftige Bastelaktionen nur noch nach Absprache mit mir durchzuführen. Du hättest Elie niemals sagen dürfen, die Papp-Attrappe, die Du gebaut hast, sei ein echtes Tablet. Dafür entschuldigst Du Dich bitte bei Elie.“

Anatol sagt, dass es ihm wirklich leid tut. Elie umarmt ihn nun einfach. Meine beiden Butler haben sich viel zu lieb, um lange aufeinander böse zu sein.

Das Papp-Tablet verschwindet indessen in meiner Schreibtischschublade.

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34. Kapitel – Elie auf dem Schulweg

IMG_2041Elie ist sehr aufgeregt. Das hat einen Grund: Elie will heute zum ersten Mal mit seinem tollen neuen Tretroller, den Anatol ihm gestern gebaut hat, zu Schule fahren.

Da der Schulweg vorwiegend durch den Park und nur an einer Stelle an einer großen Straße – über eine Kreuzung mit Schülerlotsen – entlangführt, bin ich einverstanden, dass  der Roller mitgenommen wird. Gefährlich ist das Rollerfahren auf dem Schulweg nicht – zumal Anatol Elie noch ein ganzes Stück begleiten will.

Aber damit nicht genug. Nicht nur der Roller soll heute mit in die Schule, sondern auch Mina.

Wer ist Mina?

Mina ist eigentlich ein Geschenk. Elie ist am kommenden Samstagnachmittag zum Geburtstag der kleinen Nachbarsdinosaurierin – Anna heisst sie – eingeladen. Zu einer Geburtstagsfeier bringt man ein Geschenk mit, und so bin ich am Samstag in die Stadt gefahren und habe für Anna eine niedliche schwarz-weisse Stoffkuh erstanden.

Noch bevor wir sie zu Hause in ein Geschenkpapier einwickeln konnten, hatte Elie bereits entschieden, dass die kleine Stoffkuh Mina heisse und von nun an in seiner grünen Schildkröten-Schultasche herumgetragen werden müsse:

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Natürlich soll Mina heute auch mit in die Schule. Sie solle dort etwas lernen, und noch ein bisschen klüger werden, findet Elie.

Ich weise darauf hin, dass Mina am Donnerstag zu Anna ziehen werde – weil sie ihr Geburtstagsgeschenk sei und Elie sie nicht behalten könne. Elie antwortet entrüstet, dass dem ja ein heutiger Schulbesuch nicht entgegenstehe – und so erlaube ich, dass nicht nur der Roller, sondern auch Mina heute mit zur Schule gehen darf. Insgeheim ist mir bewusst, dass das eine Eselei ist – aber ich kann es Elie nicht abschlagen.

Anatol und Elie zockeln also mit dem Roller und Mina in der Schildkrötentasche los. Es ist halb 8 – die Schule beginnt um 10 vor 8, und eine gute Viertelstunde geht man schon, auch mit dem Roller.

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Ich räume den Frühstückstisch ab und füttere die Katzen. Dann beginne ich, zu schreiben – denn heute arbeite ich zu Hause.

Um kurz nach 8 höre ich Anatol die Treppe heraufkommen. Er bereitet sich einen Tee zu und setzt sich neben den Computer. Elie sei sehr stolz auf seinen Roller gewesen, berichtet Anatol. Er habe Mina genau erklärt, wie man Roller fahre, wie man auf dem Schulweg aufpasse, dass man sich nicht verlaufe und wie man sicher und wohlbehalten mit Hilfe der Schülerlotsen die Straße überquere. Anatol bezweifelt, dass es am Samstag möglich sein werde, Mina an Anna zu verschenken. Ich seufze. „Da hast Du vermutlich Recht, Anatol. Ich seh das auch schon kommen.“

Ich vertiefe mich in meine Novelle und Anatol macht es sich mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich. Die morgendlichen Sonnenstrahlen fallen durch die Balkontüre in die Wohnung. Es ist ein frischer, klarer Frühlingstag – zum Schreiben ideal.

Ein Geräusch dringt aus dem Treppenhaus hoch. Anatol sieht von seiner Lektüre auf. „Da weint doch jemand!“ sagt er. Ich stehe auf und gehe zur Tür.

Im Treppenhaus wartet ein Häuflein Elend auf uns. Es ist Elie. Die Tränen laufen ihm die Wangen herunter – die Schildkrötentasche ist bereits durchnässt.

„Elie, was ist denn passiert? Wieso bist Du nicht in der Schule? Ist die erste Stunde ausgefallen?“ frage ich – glaube es aber nicht, denn das wäre ja kein Grund, zu weinen. Elie schluchzt – er kann zunächst gar nicht sprechen. Erst als Anatol ihn zur Beruhigung streichelt, geht es etwas besser. Nach und nach erfahren wir die ganze Geschichte.

Elie erzählt, Anatol habe ihn bis zum kleinen Mäuerchen gebracht, an dem sie sich immer trennen, wenn Anatol ihn auf dem Schulweg begleite. Elie will nämlich allein in der Schule ankommen (das ist eine Marotte von ihm: „Schließlich kann ich allein zur Schule gehen!“ sagt er immer).

Am Mäuerchen habe Anatol ihm geraten, den Roller lieber dort zu verstecken und mit dem Rollerschloss an das Zaungitter anzuschließen. Auf dem Schulhof sei der Roller nicht sicher; er habe schon von Rollerdiebstahl oder gar Vandalismus gehört. Es sei also besser, den Roller nicht direkt an der Schule abzustellen.

Elie habe das beherzigt und den Roller im Versteck gut verschlossen zurückgelassen:

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Leider ist er dabei so konzentriert auf das Verstecken und Festschließen des Rollers, dass er die Schildkrötentasche mitsamt Mina einfach neben dem Roller vergisst und ohne sie weiter zur Schule marschiert.

Dieses Versehen fällt ihm siedend heiss ein, als er auf dem Schulhof ankommt. Die Tasche ist nicht mehr da, und Mina auch nicht! Und die Schule fängt in einer Minute an.

Etwas Schlimmeres hätte sich Elie in seinen schrecklichsten Alpträumen nicht ausmalen können. Er darf doch die Schule nicht verpassen! Aber was würde mit Mina und der Schildkrötentasche passieren, wenn jemand sie findet? Es ist nicht auszudenken!

Obwohl Elie genau weiss, dass es streng verboten ist, einfach die Schule wieder zu verlassen, obwohl die erste Stunde fast schon angefangen hat, rennt er einfach los. Er läuft durch die Unterführung vor der Schule auf die andere Straßenseite, die ganze Bürgerstraße hoch am Park vorbei, dann über die Kreuzung vor dem Rathaus und bis zum Parkplatz am Kiosk, wo der Roller am Mäuerchen versteckt ist. Vor lauter Angst, Mina vielleicht nicht mehr zu finden, schlägt sein Herz bis zum Hals!

Nun ist er am Versteck angelangt – und GOTT SEI DANK: Mina sitzt immer noch brav in der Schildkrötentasche und wartet auf Elie. Sie ist von niemandem mitgenommen worden. Vor lauter Erleichterung fängt Elie lauthals zu weinen an.

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Mina ist gerettet, die Schildkrötentasche ebenfalls und der Roller steht unversehrt in seinem Versteck. Es ist nun eigentlich alles gut – bis darauf, dass die erste Stunde schon begonnen hat, und Elie genau weiss, dass Frau Goyke – die Mathematiklehrerin – es über alles hasst, wenn man zu spät kommt. Sie kann es nicht verstehen, dass man nicht früh genug zur Schule losgeht. Dass man den richtigen Zeitpunkt einfach „vergessen“ habe, lässt sie nicht gelten! Sie sagt dann mit strenger Stimme: „Als ich klein war, hieß es ‚Vergessen ist Buckel messen‘! Und das bedeutete, dass man übers Knie gelegt wurde und den Hosenboden versohlt bekam!“

Davor hat Elie unglaubliche Angst. Ausgerechnet heute muss die erste Stunde bei Frau Goyke sein! So spät, wie er heute dran ist, ist überhaupt noch niemals jemand in die Schule gekommen. Als ihm das bewusst wird, beginnt er, noch lauter zu weinen als vorher.

Was er nicht weiss: Frau Goyke ist in Wirklichkeit eine sehr liebe Lehrerin und würde niemals einem Schüler den Hosenboden verhauen. Aber sie ist streng und Elie hat deshalb große Angst vor ihr.

Er kann also auf gar keinen Fall in die Schule zurück. Weinend macht er sich deshalb auf den Weg nach Hause – wo er nun, gegen halb 9, völlig aufgelöst eintrifft.

Anatol schüttelt den Kopf. „Elie, was hast Du da nur angestellt. Aber sieh es mal so: Der Roller ist da, Mina ist da, Deine Schildkrötentasche ist da. Es ist überhaupt nichts Schlimmes passiert – außer, dass Du die ganze erste Stunde bei Frau Goyke verpasst hat. Darum beneide ich Dich wirklich nicht…“. Elie fängt wieder an, zu schluchzen. Er meint, er wolle nie wieder in die Schule gehen, nie nie wieder!

Dem widerspreche ich mit Entschiedenheit. „Elie, Dir ist ein dummes Missgeschick widerfahren. So etwas kann leider passieren. Das ist aber kein Grund, nicht mehr in die Schule zu gehen. Wir machen es jetzt so: Du bleibst hier, bis die 3. Stunde anfängt. Die 2. Stunde hat sowieso schon begonnen, die verpasst Du leider auch noch. Du musst diese beiden Stunden später nachholen – das sollte möglich sein. Ich schreibe Dir nun einen Entschuldigungszettel und erkläre Deinem Lehrer, dass Du heute morgen ein Problem gehabt hast und deshalb erst zur 3. Stunde kommen kannst. Das ist ja auch die Wahrheit. Was hast Du denn in der 3. Stunde? Handarbeiten? Das ist bei Fräulein Evers, nicht? Gut, dann schreibe ich jetzt den Entschuldigungsbrief an Fräulein Evers. Und zur Schule bringe ich Dich nachher mit dem Fahrrad – der Roller und Mina bleiben zuhause. Anatol wird gut auf sie aufpassen.“

Elie kann unter seinen Tränen nun doch wieder lächeln. Anatol macht ihm schnell einen heissen Kakao und etwas später fahren wir dann los, zur Schule. Diesmal mit meinem Fahrrad!

Dass Mina nach diesem Abenteuer nicht mehr wie geplant an Anna verschenkt werden kann, versteht sich von selbst. Elie sagt mir aber gerade, dass in der Stofftier-Jobbörse die Zwillingsschwester von Mina – Mona – auch auf eine Stelle warte. Ob es nicht besser sei, wenn Mona anstelle von Mina zu Anna ziehe …

Anatol und ich halten das auch für die beste Lösung.