Anatol wird von seinem erfolggekrönten Klassenkameraden Angelo und dessen Lakaien – anders kann man die um den Überflieger herumscharwenzelnden Schmeichler nicht nennen – gepiesackt und getriezt. Im Unterricht traut er sich nicht mehr, Fragen zu stellen, und auf dem Schulhof spricht kaum noch ein Klassenkamerad mit ihm. Auf Dinobook und Whatsdino kursieren Meldungen, die Anatol lächerlich machen.
Als ich das gesamte Ausmaß der Schikane, deren Opfer Anatol ist, erkenne, ist meine erste Reaktion ohnmächtige Wut. Fast will ich mir die Schuldigen persönlich vorknöpfen und ihnen eine Abreibung verpassen. Leider muss ich jedoch erkennen, dass Schul- und Cybermobbing ein von den Tätern mit List vorbereitetes Manöver ist: es ist geradezu unmöglich, nachzuweisen, auf wen die Gemeinheiten zurückgehen. Wir haben zwar einen Hauptverdächtigen, aber keine Beweise. Die häßlichen Bemerkungen, die Anatol in der Schule zu ertragen hat, werden meist vor der Clique abgegeben, die auf der Seite des Mobbers steht und die gegen ihn nicht aussagen wird. Wer das Federmäppchen entwendet und in die Mülltonne geworfen hat: es bleibt im Dunklen. Ebenso verhält es sich mit dem Schulheft, in welchem die gemachten Hausaufgaben notiert sind: es verschwindet und wird später zerfleddert und verdreckt auf dem Schulhof wiedergefunden. Der Täter bleibt unerkannt.
Das Opfer hat nur den Schaden – aber keine Zeugen.
Äußerungen, die der Mobber während des Unterrichts abgibt, und die Anatol treffen sollen, werden vom Lehrer nicht immer als „so schlimm“ aufgefasst. Dass sich die spitzen Bemerkungen aber häufen und sich wieder und wieder gegen die selbe Person richten, fällt nicht auf: in jeder Stunde sind andere Lehrer anwesend, die nicht wissen, was in der vorhergehenden und der nachfolgenden Schulstunde passiert.
Das außergewöhnliche Nachhilfeprojekt war Anatols vergeblicher letzter Versuch gewesen, in der Schule und besonders seiner Klasse wieder etwas Ansehen zu erlangen. Aber das Projekt ist von Angelo vor versammelter Mannschaft ins Lächerliche gezogen worden – es wird nun kaum jemals umgesetzt werden. Zu groß ist die Angst der anderen Schüler, ebenfalls in Ungnade zu fallen, falls sie sich an einem solchen Projekt beteiligen.
Anatols Reaktion kann man nicht einmal mehr Verzweiflung nennen. Er liegt unter der Decke in seinem Nestchen und wiederholt seit einer Stunde gebetsmühlenartig den selben Satz: „Ich geh da nie wieder hin!“
Mina, Elies kleine Stoffkuh, hat sich zu Anatol gesetzt und versucht, ihn zu trösten.
Anatols legendäre Chuzpe, seine Fröhlichkeit und Dreistigkeit, sein Selbstvertrauen: es ist alles dem Mobbing anheimgefallen. Anatol ist nicht wiederzuerkennen.
So kann es nicht weitergehen. Uns allen ist klar: es muss etwas geschehen. Nur wie?
Elie sitzt ratlos am Computer.
„Ich hab unendlich viele Seiten gefunden, die sich mit „Mobbing in der Schule“ beschäftigen. Alle sagen das Gleiche: man soll die Lehrer und die Schulleitung informieren. Nur leider ist ja der Direktor auf Angelos Seite! Er ist zu stolz darauf, einen Preisträger von Dinojugend forscht auf der Schule zu haben. Gegen den wird er nie etwas tun. Und die Lehrer auch nicht. Eher müssen wir von der Schule …“
Ich kann es nicht fassen. Da mobbt ein Schüler ungestraft über Wochen einen anderen – und nun soll es gar das Opfer sein, welches weichen muss? Meine Dinos sollen von der Schule, weil ein bösartiger Klassenkamerad ihnen das Leben zur Hölle macht?
Das ist schon deshalb undenkbar, weil es in der Nähe gar keine geeignete andere Schule gibt. Anatols Schule ist ein etwas altmodisches, altsprachlich-humanistisches Gymnasium, an dem man aber nicht nur Latein und Griechisch, sondern auch lebende Sprachen perfekt erlernt. Zudem ist es meine alte Schule … nein, die werden wir nicht aufgeben. Abgesehen davon, dass Anatol auf dem naturwissenschaftlichen Gymnasium, das es hier auch noch gibt, verloren wäre: Mathematik, Physik und Chemie gehören leider nicht zu Anatols Stärken – auch wenn er sich noch so anstrengt.
Nein, wir werden das Feld nicht räumen. Wir leisten Widerstand!
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