96. Kapitel – Der Rotkohl

Seit mehreren Wochen liegt mir Anatol mit dem Rotkohl in den Ohren.

„Wir müssen unbedingt Rotkohl kaufen! Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Den dürfen wir nicht verpassen!“

Ich für meinen Teil habe es mit dem Rotkohl nicht so eilig. Der Kohlkopf ist schwer und unhandlich. Das Kleinschneiden ist mühsam – und meine Aufgabe, da der Butler dafür zu klein ist. Davor schrecke ich etwas zurück. Allerdings hat Anatol mit einem Recht: gut zubereiteter Rotkohl ist eine Delikatesse.

Daher habe ich mich am Samstag breitschlagen lassen und Anatol erlaubt, einen riesigen Rotkohl vom Markt mitzubringen.IMG_3218 Der mittlere Topf ist damit überfordert: Anatol klaubt ganz hinten aus dem Küchenschrank den riesigen Kochtopf hervor. In diesen wird der Kohl hoffentlich hineinpassen.

Auf die Waage bringt der stattliche Kohlkopf ganze 3 kg.

Anatol trägt mir nun auf, das Kohlmonstrum in vier Teile zu schneiden, zu waschen und dann in feinste Streifchen zu hobeln – diese Arbeit sei selbstverständlich unter seiner Würde.

Während ich den Kohl schneide, brät Anatol in dem Topf Äpfelchen und Zwiebelchen mit etwas Olivenöl und viel Zucker an.

Wir lassen uns von dem Rezept unserer Omi aus Pommern inspirieren – original hätte dazu noch Gänseschmalz gegeben werden müssen, aber Anatol kocht ja rein vegan. Daher wird der Rotkohl mit ein wenig Olivenöl zubereitet.

Der Kohl ist nun so fein gehobelt, wie mir das nur möglich ist. Dennoch ernte ich üble Beschimpfungen des Butler, der mich anbrüllt:

„Was ? Das soll feingeschnitten sein ? Noch grober konntest Du es wohl nicht schnippeln ? Höchstens 2mm dick dürfen die Kohlstreifen sein! Mit diesem groben Kram kann ich nichts anfangen! Ich sag es immer wieder: in der Küche bist Du mir ein Klotz am Bein!“

Ich packe das unverschämte Biest und halte es drohend über den Kochtopf. Dies beruhigt den selbsternannten Küchentyrannen etwas.

„Ist ja schon gut – ich werde versuchen, doch noch etwas aus diesen groben „Abschnitten“ zu zaubern. Aber sogar ich kann da nichts versprechen“ fügt er herablassend hinzu.

IMG_3219Auf die gedünsteten, leicht angebratenen Zwiebeln und Äpfel darf ich nun den Kohl geben.

Sogleich träufelt Anatol Essig über den Kohl – so bekomme dieser seine schöne lila, ins tiefblaue gehende Farbe, sagt der Saurier.

Anschließend wird der Kohl gezuckert, und es kommen Gewürznelken, ein paar Pfefferkörner und Salz hinzu.

Der Kohl muss nun – zunächst ohne Deckel – vor sich hinköcheln. Ab und zu rührt Anatol um.

Der Topf ist bis an die Oberkante voller Kohl. Wir hoffen, dass nichts überkochen wird.IMG_3220 Schließlich kann der Topf mit dem Deckel geschlossen werden, und der Kohl muss nun mehrere Stunden schmoren.

Ab und zu schmeckt Anatol ab: unter Gefauche und Geschimpfe – da die Kohlstreifen zu grob geraten sind – werde ich zurechtgewiesen, dass ich den Kohl verhunzt habe. Dass so grob geschnittener Kohl gar nicht schmecken könne – aller Kochkünste zum Trotz, deren Anatol fähig sei.

Ich ziehe mich zu Elie aufs Sofa zurück, schlage ein Buch auf und überlasse Anatol die Küche. Zeternd und mit Küchenutensilien klappernd macht sich der Butler daran, die Kartoffeln aufzusetzen, die zum Kohl serviert werden sollen. Die Kohlaffäre scheint für den Saurier eine rechte Haupt- und Staatsaktion zu sein.

Kohl und Kartoffeln köcheln nun fleißig vor sich hin. IMG_3224Anatol baut indessen das Bügelbrett auf und beginnt, die Bügelwäsche zu bearbeiten – nicht ohne Elie und mich mit scharfem Unterton darauf hingewiesen zu haben, dass in diesem Haushalt nichts funktionieren würde, wenn er, Anatol, sich nicht um alles kümmerte.

Ob wir Anatol in Zukunft wohl noch duzen dürften, fragen Elie und ich spitzbübisch – oder ob Seine Herrlichkeit nun fordere, dass man sie im Pluralis Majestatis anspreche?

Darauf erleidet unser Haustyrann einen Wutanfall. Blindwütig stampft er mit der Plüschtatze auf den Boden, dass es nur so knallt. Elie springt vor Schreck vom Sofa auf.

„Ab jetzt streike ich!“ brüllt Anatol. „Alles bleibt an mir hängen! Ihr sitzt wie die Ölgötzen auf dem Sofa, und ich darf arbeiten!“

Ich lasse mich von dem Tobsuchtsanfall des Butlers nicht beeindrucken. Das Biest ist ein hervorragender Schauspieler.

„Anatol, ich habe Dir in der Küche geholfen, bis Du mich als „Klotz am Bein“ bezeichnet und wüst beschimpft hast. Gib es zu: Du hast nur Angst, dass Dir der Kohl nicht gelingt – und suchst nun einen Schuldigen!“

Elie fügt leise hinzu „Also ich esse den Kohl auch, wenn er nicht zu 100% gelungen ist… “

Schlagartig verfliegt der Zornausbruch. Zerknirscht gibt Anatol zu, dass irgendwas mit dem Kohl „nicht stimme“. Aber was das nun sei – ob es an dem groben Zuschnitt, den Äpfeln oder der Nelke läge oder am Olivenöl, das wisse er noch nicht.

Ich probiere den Kohl. Er ist nur nicht ausreichend durchgezogen. Zudem fehlt etwas Salz. Ansonsten ist der Kohl jedoch perfekt – wenn auch etwas zu grob geschnitten, das muss ich zugeben.

IMG_3229Stunden später serviert uns der Butler bester Laune einen köstlichen, wunderbar durchgegarten, süß-säuerlichen Rotkohl mit Salzkartoffeln.

Ich nehme mir dreimal nach, Elie und Anatol viermal.

Unser Starkoch ist selig.

95. Kapitel – Post aus Göttingen

Heute früh liegt ein dicker Umschlag im Briefkasten. Es handelt sich um den Tee- und Gewürzkatalog von Ewert, den wir vor ein paar Tagen bestellt haben.

IMG_3198Ehrfürchtig betrachten wir die beeindruckende Anzahl von Köstlichkeiten, aus der wir nun eine Auswahl treffen müssen.

Anatol flüstert: „Das kostet hier in Frankreich alles ein Vielfaches!“ Ich nicke stumm. Die Preise von Ewert müsste man mindestens mit 5 multiplizieren, um auf (moderate) französische Preise zu kommen.

Frankreich ist ein teures Pflaster, das fällt uns immer wieder auf.

Elie ruft fröhlich: „Wenn das so ist, dann können wir doch von allem etwas bestellen!“

Ich dämpfe den Tatendrang der Saurier und verfüge, dass je ein schwarzer, ein grüner und ein parfümierter Tee gekauft werden dürfen. Mehr sei vorerst nicht vonnöten. Gewürze, meint Anatol, solle man sowieso nicht im gleichen Paket versenden, sondern mit getrennter Post kommen lassen. Sonst könne der empfindliche Tee die Gewürzaromen annehmen. Dennoch werde er jetzt schon eine Liste mit Gewürzen aufstellen, die er später bei Ewert erstehen wolle. Das Sortiment sei einfach überragend.

Elie, der nur grünen Tee trinkt, möchte den Jade-Tee aus Taiwan probieren. Anatol ist gespannt auf Ewerts Five o’clock Blattmischung aus Ceylon- und Assamsorten. Und ich – in einem Anfall von Regression – schlage einen Sahne-Tee vor („schwarzer Tee mit Sahne-Aroma“ – wie damals zu Schulzeiten).

Wir werden bei der Bestellung den weissen Klüntjes nicht vergessen – und vielleicht noch einer Empfehlung von Ewert folgen … am Montag werden wir anrufen.

Wir sind sehr gespannt.

94. Kapitel – Die Teezeremonie

Das kalte, neblig-regnerische Wetter hat sie mir in Erinnerung gerufen – die täglich geübte, mit Hingabe zelebrierte Teezeremonie meiner Eltern. Sie begann allnachmittäglich gegen 16 Uhr nach einem ausgedehnten Mittagsschlaf und war so unumstößlich wie ein Naturereignis. Nichts und niemand hätte „den Tee“ verhindern können.

Der Ablauf der Zeremonie ist immer gleichbleibend der folgende: Mein Vater setzt das Teewasser in dem kupfernen Teekessel auf und stellt das blau-weisse Porzellangeschirr zurecht. Die Zubereitung des Tees hingegen ist Aufgabe meiner Mutter: nur sie versteht es, die unterschiedlichen Sorten Tee (meist Assamsorten und Darjeeling) so zu mischen und zu dosieren, dass das unverwechselbare Teearoma entsteht, welches allein der Teezeremonie würdig ist.

Schließlich wird der Tee im Wohnzimmer, welches zugleich das Arbeitszimmer meines Vaters ist, am runden Herrenzimmertisch meiner Großmutter serviert. Die ganze Familie – Großmutter, Mutter, Vater, Kinder, Hund – ist versammelt, während der Tee auf seinem Messingstövchen, welches gefährlich kippelnd auf der Heizung Platz gefunden hat, noch ziehen muss.

Indessen bereitet jeder nach seinem Geschmack seine Teetasse vor. Mein Vater befüllt seine Tasse zur Hälfte mit weissen Klüntjes – meine Mutter gießt sich etwas Milch ein und gibt einen Klüntje hinzu. Ich selbst bin in einer rebellischen Phase und lehne sowohl Milch als auch Klüntjes ab. Der Tee – nun tiefschwarz und kräftig – kann eingegossen werden. Knisternd füllt sich die Tasse meines Vaters. Meine Schwester findet den Tee zu stark; sie mildert ihn mit viel Milch ab. Ich meutere, denn der Tee ist in der Tat von umwerfender Stärke und Bitterkeit. Meine Mutter bietet mir Klüntjes und Milch an – ich entscheide mich schließlich mich für den Kandis. Omi spricht dem Dresdner Stollen zu – dazu passt auch der stärkste Tee.

Bis etwa halb sechs werden wir zusammensitzen und Tee trinken. Mutter und Großmutter erörtern ihre Lieblingsartikel aus der ZEIT und der FAZ, während mein Vater sich mit uns ein wenig lustig darüber macht. Der Hund schnarcht leise und zufrieden, dicht an die warme Heizung angeschmiegt und immer nah bei meiner Mutter, von der er keinen Zentimeter abweicht…

Bis hierhin haben mir Anatol und Elie stumm zugehört. Nun können sie ihre Verwunderung nicht mehr zurückhalten.

Jeden Tag habt Ihr so gemeinsam Tee getrunken?“ ruft Elie erstaunt. „Mussten Deine Eltern denn gar nicht arbeiten?“

Eine berechtigte Frage. Meine Eltern hatten Berufe, die es ihnen ermöglichten, zu fast jeder Tages- und Nachtzeit zu arbeiten – oder auch nicht. Sie waren im Grunde nur Vormittags nicht zu Hause; die restliche Tageszeit konnte frei eingeteilt werden. So war es möglich, eine ausgedehnte Teezeit abzuhalten, die meist ohne weitere Zäsur in die Vorbereitung des Abendessens und schließlich in selbiges einmündete.

„Das klingt so gemütlich!“ findet Elie. Anatol nickt.

Ich schweige. Nicht immer war unser Familienleben so idyllisch, wie es sich nun – 30 Jahre später – anhört. Dennoch denke ich, da mir unsere Teezeit in Erinnerung kommt, sogar mit etwas Wehmut an damals zurück.

Vielleicht ist nun der Moment gekommen, an etwas Positives aus der Vergangenheit anzuknüpfen?

Anatol möchte wissen, was meine Mutter für Teesorten verwendete. Er meint, mit etwas Übung könne er den Tee meiner Mutter ganz sicher nachahmen, wenn nicht gar ihn genauso zubereiten wie sie. Ich weiss, dass Anatol bei so etwas sehr geschickt sein kann.

Mir fällt ein, dass bereits der Tee-Einkauf und seine Auswahl keinesfalls dem Zufall überlassen wurden. Der Tee wurde nur bei Alfred Ewert Tee & Gewürze eingekauft, von meinen Eltern kurz „Ewert“ genannt. Das geheimnisvolle Ladenlokal in der Weender Straße beherbergte unzählige Gewürzdosen, Teebüchsen und Spezialitäten aus aller Welt. Omi nannte es gern einen „Kolonialwarenladen“ – diese Bezeichnung war allerdings schon damals überaltert.

„Warum kaufen wir nicht bei Ewert auch so einen schönen Tee?“ bettelt Elie.

„Elie, solch ein starker, bitterer Tee würde Dir überhaupt nicht schmecken“ gebe ich zu bedenken. „Anatol und Du, Ihr trinkt doch fast nur grünen Tee.“

„Ja eben!“ jammert Elie. „Ich will endlich mal was anderes ausprobieren!“

Anatol hat indessen das Internet bemüht. „Guck mal!“ ruft er ganz aufgeregt. „Ich habe die Adresse gefunden! Ewert ist immer noch in Göttingen! Vielleicht können wir etwas dort bestellen?“

Nach einigem Zögern lasse ich mich breitschlagen und rufe bei Ewert an.  Eine sehr freundliche Verkäuferin, der ich unser Anliegen schildere, bestätigt, dass ein Versand problemlos möglich sei. Sie schlägt mir zunächst die Zusendung des Katalogs vor, in dem wir uns dann alles Gewünschte aussuchen können.

Sprachlos – und sehr erfreut – lege ich auf. Vielleicht werden wir schon bald einen echten Ostfriesentee kochen können?

„Du musst dann aber auch Klüntjes da kaufen!“ kräht Elie fröhlich.

„Sonst ist der Tee ja viel zu bitter!“

Von unserer Bestellung bei Ewert werden wir berichten.

IMG_3194 Teatime mit den Dinos

93. Kapitel – Halloween

Heute ist Sonntag. Die Sonne scheint, und es ist so warm, dass man sich fast noch im Sommer wähnt. Die Katzen dösen faul auf dem Bett, aber die Butler finden keine Ruhe.

„Seit Wochen versprichst Du uns, dass wir einen Ausflug machen!“ quengelt Elie. Anatol pflichtet ihm bei. „Wir sehen Dich kaum noch. Ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wann wir das letzte Mal etwas zusammen unternommen haben.“

Leider haben sich meine Arbeitszeiten seit mehreren Monaten derart ausgeweitet, dass ich in der Tat nun noch zum Schlafen zu Hause bin.

„Wie wäre es, wenn wir heute morgen ins Café Brant gehen?“ frage ich. „Dort gibt es ein großartiges Frühstück, auf Wunsch mit frischgepresstem Orangensaft! Danach könnten wir sogar einen Ausflug mit dem Fahrrad machen.“

Die Butler – heute kann man mit so einem Vorschlag keinen Saurier mehr beeindrucken – beraten sich. Frühstücken im Café Brant ist „irgendwie out“. Wer unter den Sauriern „hip“ ist, geht am Samstag kurz vor Mitternacht zum Abhängen ins „Aviateurs“. Gegen 6 Uhr früh gibt es einen doppelten Espresso am Tresen, und dann bekommt man den „It-Saurier“ vor 17 Uhr nicht mehr zu Gesicht. Frühstücken ist für Rentner.

Da somit heute früh um 11 Uhr keinerlei Gefahr besteht, von einem der vielbewunderten It-Saurier im Café Brant gesehen zu werden, sind die Butler einverstanden. Elie ist später mit Anna verabredet – die beiden treffen sich heute mit ihrer Amnesty-Gruppe. Daher werden Anatol und ich unseren Fahrradausflug wohl alleine unternehmen.

Auf dem Weg zum Café fallen uns die heute etwas überholt wirkenden Kürbisse und künstlichen Spinnweben in verschiedenen Vitrinen auf. Ein versprengter Halloween-Fan huscht, in sein Kostüm gehüllt, in einen Hauseingang. „Nicht einmal eine Halloween-Deko hatten wir dieses Jahr!“ sagt Elie vorwurfsvoll.

Ich sehe ihn bestürzt an. „Das ist nicht Dein Ernst, Elie? Was sollen wir denn mit einer Halloween-Deko bei uns zu Hause !?“

„Ja was wohl? Vielleicht eine Halloween-Party geben wie die anderen?“ schreit Elie wütend. „Eventuell mal etwas feiern, mit Freunden!? Aber das geht ja alles immer nicht mit Dir und den Katzen!“

Mir fehlen die Worte. Anatol kommt mir zur Hilfe. „Elie, Halloween ist doch nur Marketing. Bei sowas muss man nicht mitmachen. Du bist sonst auch immer so kritisch bei allem, mit Amnesty und Sea Shepherd und Deinen sonstigen Aktivitäten. Dieses Halloween-Gedöns solltest Du da eigentlich nicht gut finden …“

Elie ist entrüstet. „Nur weil ich mich für Amnesty und Sea Shepherd engagiere, soll ich kein Halloween mehr feiern dürfen?“ zetert er. „Ich feiere, was und wann ich will! Und Ihr seid doof!“

Meine Traumvorstellung – ein gepflegtes, friedliches Sonntagsfrühstück im Kreise meiner Lieben im Café Brant – zerschlägt sich gerade. Ein handfester Familienkrach droht. Schon setzt Anatol zu einer spitzen Bemerkung an, während Elie rot vor Wut wird – da kommt mir ein rettender Gedanke.

„Ich habe vorhin bei Wortman – in dem Blog, der uns so gut gefällt! – eine Halloween-Blogparade gefunden. Da geht es nur um Halloween. Man kann dort einen Halloween-Fragebogen ausfüllen, auch wenn man Halloween gar nicht mag. Jeder kann dazu sagen, was er will. Wollen wir das machen? Also – im Café, während wir frühstücken?“

Und ich füge mit drohendem Unterton hinzu „Wenn es allerdings weitergeht mit der Streiterei, gibt es weder Frühstück noch Café Brant noch Fahrradausflug – dann heisst es für Euch Katzenklos auswaschen und dazu Stubenarrest für den Rest des Tages!“ Diese Drohung finde ich zwar außerordentlich streng (derartige Strafmaßnahmen habe ich noch nie angewendet), aber offenbar brauchen die Saurier einen Dämpfer.

Schlagartig ist Ruhe. Anatol verkneift sich seine böse Bemerkung und Elie schluckt seine Wut hinunter. Mit Grabesmiene betreten sie das Café. Ich bestelle das Frühstück und lese mit betont gutgelaunter Stimme die erste Frage des Halloween-Fragebogens vor, in der Hoffnung, dass sich die Saurierverstimmung nun legen mögeIMG_3184:

„1. Für die einen ist es ein blöder Ami-Brauch, für die anderen ein ernsthafter Feiertag: Wie ist Eure Meinung zu Halloween?“

Hier sehe ich Anatol scharf an. Er soll zuerst Elie zu Worte kommen lassen, der sich vorhin ein wenig von uns in die Enge getrieben gefühlt hatte. „Elie, sag doch mal, was Du an Halloween magst.“

Elie räuspert sich. „Ich finde die ausgehöhlten Kürbisse mit den Kerzen drin wunderschön. Überall brennen kleine orangefarbene Lichter, wenn es draußen schon dunkel ist … das ist so gemütlich! Man kann sich verkleiden und Gespenst spielen. Und wenn wir von Haus zu Haus gehen und bei den Leuten klingeln, bekommen wir Süßigkeiten.“

„Ja, und manchmal tun die Leute sogar so, als hätten sie Angst vor Euch!“ kichert Anatol. Ich gebe dem Unruhestifter einen Tritt mit der Fußspitze. Elie hat sich gerade erst wieder beruhigt – und das soll auch so bleiben.

„Die Leute haben wirklich Angst vor uns! Am Freitag, als wir mit Anna und Lilian von Haus zu Haus gegangen sind, waren wir auch bei Angelos Eltern. Angelos Vater war an der Tür und hat gesagt: „Kinder, ich zittere vor Angst – so furchterregend seht Ihr aus!“ Und dann hat er uns ganz viele Pralinen gegeben. Soviel haben wir nirgends sonst bekommen!“

Anatol stöhnt.

Ich begreife indessen endlich, woher das Konfekt kommt, das ich gestern im Küchenschrank entdeckt habe. Konfekt dieser Qualität gibt es sonst bei uns nicht. Es muss aus einer Konfiserie aus Brüssel oder Paris stammen und sündhaft teuer gewesen sein – was Angeles Eltern offenbar nicht davon abgehalten hat, es an die Halloweenkinder zu verschenken. Ich schüttele konsterniert den Kopf und lese die zweite Frage vor.

„2. Feierst du Halloween und wenn ja, wie?“

Elie ruft „Klar feiere ich Halloween mit meinen Freunden! Wir verkleiden uns mit Bettlaken als Gespenster und erschrecken draußen die Leute, bis sie uns Leckereien schenken!“.

Anatol ist weitaus lakonischer. „Ich habe den Quatsch noch nie gefeiert. Aber nun gut – jeder wie er mag. Was ist eigentlich mit Dir?“ fragt er dann mich. Ich bin überrascht – mir selbst hatte ich diese Frage noch nie gestellt. Als ich klein war, gab es kein Halloween. Das Fest war bei uns vollkommen unbekannt. Ich muss das erste Mal davon gehört haben, als ich schon mitten im Studium war. 1995 oder 96 waren wir zu Halloween mit den Kommilitonen verkleidet in den Irish Pub gegangen und hatten dort das gute Kilkenny-Bier getrunken. 2001 war ich einmal bei Kollegen zur Halloweenparty eingeladen gewesen. Seitdem hatte ich Halloween nicht mehr gefeiert – ohne dass mir etwas gefehlt hätte.

3. Was ist dein Lieblingskostüm?

IMG_3186Auch hier meldet sich wieder Elie als erster. „Ich habe ein tolles Gespensterkostüm! Ich habe einfach zwei Löcher in meine Serviette geschnitten, so kann ich da durchgucken. Die Leute glauben dann immer, ich sei Hui Buh!“

Anatol bestätigt, dass die Hui Buh-Verkleidung täuschend echt aussähe. Er selbst habe so auch schon gedacht, Hui Buh begegnet zu sein.

Die Frage Nr. 4: “Was war dein Kindheitsmonster?“ muss ich umformulieren. „Vor welchen Monstern habt Ihr Angst?“, frage ich die Butler. Beide zucken zusammen. „Vor dem Urzeitsaurier haben wir Angst.“ flüstern sie. „Vor dem, der kleine Dinos frisst!“

Elie fügt ganz leise hinzu „Vor dem Knochenmann habe ich auch Angst. Der lebt bei Frau Maier im Biologie-Raum. Also eigentlich in dem Kabuff daneben. Manchmal steht er aber noch im Bio-Raum, weil die Großen mit ihm gearbeitet haben. Dann gehe ich nicht rein, wenn der da steht!“

Anatol seufzt. „Elie, Dein „Knochenmann“ ist ein Plastikskelett, an dem wir Anatomie lernen sollen. Und es „lebt“ nicht.“
Ich hingegen kann Elie verstehen. Auch bei uns an der Schule gab es im Biologie-Raum einen Knochenmann, vor dem ich mich fürchtete. Und ich bin mir nicht sicher, ob er aus Plastik war …

Die Butler wollen nun wissen, wovor ich mich früher ängstigte. Da gab es einiges … besonders große Furcht hatte ich vor dem Teufel im Radio-Kasperletheater. Ich war mir sicher, dass der Teufel, wenn ich nicht sehr aufpasste, durch die Tuning-Schlitze im Radio aus selbigem herausfahren könnte und dann in meinem Kinderzimmer „vor sich hinteufeln“ würde. Diese Gefahr bannte ich, indem ich die Tuning-Knöpfe derart verstellte, dass dem Teufel kein Platz zum Entweichen aus dem Radio blieb. Dass das Radio danach nur noch Rauschen von sich gab, aber kein Kasperletheater, störte mich nur wenig.

Anatol und Elie lachen sich schief. „Du hast gedacht, der Teufel kommt aus dem Radio raus???“ prusten sie. „Ja, das dachte ich…“ gebe ich unumwunden zu.

Elie  kichert. „Dabei weiss doch jedes Kind, dass der Teufel da gar nicht raus kann! Ok, vor dem Teufel habe ich auch Angst. Schließlich ist der böse. Aber durchs Radio kommen kann er nicht. Er wohnt doch in der Hölle. Die ist tief unten in der Erde.“

Anatol sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich bedeute ihm, jetzt einfach nichts zu sagen. Elie darf ruhig weiter glauben, dass der Teufel in der Hölle – tief unter uns – lebt.

Eine weitere Frage ist zu beantworten, die Frage Nr. 5: Viele Leute schwören, nicht abergläubisch zu sein. Aber Hand auf’s Herz: Jeder glaubt doch irgendwie, Glück und Pech beeinflussen zu können. Welchem Aberglauben hängst du an?

Elie glaubt fest an seinen Glücks-Chèche. Wenn er den Chèche trage, könne ihm nicht Schlimmes widerfahren. Anatol schüttelt den Kopf. „Seit dem, was mir mit meinem Ritterumhang passiert ist, glaube ich so etwas nicht mehr. Aberglaube ist eine Mogelpackung. Er hält nicht, was er verspricht!“

Dem muss ich beipflichten. Dennoch ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich auf Holz klopfe, um Ungemach abzuwenden. Schaden kann es jedenfalls nicht … ein wenig abergläubisch ist sicher jeder von uns.

Frage Nr. 6. „Glaubt Ihr an Geister?
“ ist da schon konkreter. Anatol schnaubt verächtlich. „Natürlich glaube ich NICHT an Geister. Sowas gibts nicht.“ Ich gebe ihm uneingeschränkt Recht.

Elie ist sich da nicht so sicher. „Also ich glaube schon an Gespenster! Sie haben sie letztens sogar im Fernsehen gezeigt. Man konnte sehen, wie sich die Möbel verschoben haben, und die Leute hatten richtig Angst! Ich hatte auch Angst. Und wovor ich Angst habe, da glaube ich dran! Sonst müsste ich mich nicht fürchten – das wäre ja sinnlos.“

Diese Argumentation erscheint logisch. Anatol gerät ins Grübeln. Offenbar hat auch er insgeheim von Zeit zu Zeit vor Gespenstern Angst – obwohl er nicht an sie glaubt. Existiert etwas, nur weil wir uns davor fürchten?

Die nächste Frage ist eigentlich nicht für so kleine Saurier geeignet. Ich stelle sie trotzdem … denn sie ist wichtig: 7. Der Tod lauert überall… In welcher Situation ist dir mal der Gedanke gekommen: “Ich hätte gerade sterben können?”


Anatol ist plötzlich ganz aufgeregt. „Elie, als Du so schwer verletzt warst – da dachte ich, Du könntest sterben. Es war schrecklich. Aber zum Glück haben die Zwerge Dich wieder gesundgemacht.“ Elie nickt. „Ich weiss immer noch nicht, was damals mit mir passiert ist … vielleicht ist es auch besser so.“

Ich erinnere mich an eine sehr dumme Situation, in der ich durchaus hätte sterben können, wenn ich nicht großes Glück gehabt hätte. So peinlich ist mir die Sache, dass ich sie den Butlern nicht erzählen will. Nur drei Stichworte: Liebeskummer, Rum, Koma … mehr brauchen die beiden nicht zu wissen. Zum Glück ist außer einer dauerhaften und bis heute anhaltenden Abneigung gegen Alkohol nichts davon zurückgeblieben.

Frage Nr. 8 stelle ich den beiden Butlern nicht, da sie sie nicht beantworten könnten. 8. In unserer heutigen Zeit wird der Tod gerne ausgeblendet. Wie gehst du persönlich damit um?

Mit dem Tod wollte man wohl zu keiner Zeit zu tun haben …  und ich denke, das ist ganz gut so. Wenn man zu sehr an das Ende denkt, verpasst man dann nicht das Beste im Leben?

Ich lese den Butlern die letzte Frage vor. 9. Ich lege dir 1000 Euro in bar auf den Tisch und einen Zettel, auf dem steht “Hiermit verkaufe ich dem Besitzer dieses Vertrags meine Seele.” Würdest du das Geld nehmen und den Zettel unterschreiben?“

Elie ruft entsetzt: „Das unterschreibe ich auf keinen Fall! Für kein Geld der Welt!“

Anatol knurrt: „Klar unterschreib ich. So leicht habe ich noch nie 1000 Euro verdient. Seine Seele kann man nicht verkaufen. Wie soll das denn gehen. Bei dem Deal kriegt der Typ einen wertlosen Zettel, und ich 1000 Euro. Da muss ich nicht lang überlegen!“

Man sieht es Elie förmlich an, wie es ihn ihm arbeitet. Zweifelnd fragt er „Du meinst, der Typ kriegt dann deine Seele gar nicht…?“

„Nein. Kriegt er nicht. Sowas geht nicht. Aber die 1000 Euro, die bekomme ich!“

Ratlos sieht Elie mich an. „Stimmt das…?“ fragt er. Ich weiss es auch nicht.

„Stell Dir nur mal vor, das wäre ein Zauberer, Anatol! Und der hat dann Deine Seele… Ich glaube, so ist die Frage gemeint: nämlich dass das ein Zauberer ist. So jemand wie der Holländer-Michel! Du wärst wie der Kohlenmunk-Peter, der seine Seele für Geld verkauft hat… Und jetzt hab ich total Angst!“ schreit Elie.

Anatol weiss nun doch nicht mehr so genau, wie er die Frage beantworten soll. Wir hatten letztens zusammen „Das kalte Herz“ als Hörspiel angehört – und uns sehr gegruselt. Anatol hatte den Kohlenmunk-Peter damals noch als „ziemlich blöd“ bezeichnet.

Kleinlaut meint er nun, er würde seine Erklärung dann eben anfechten. Oder das Geld zurückgeben … Oder lieber doch nicht unterschreiben!

Ich denke auch, dass das das Vernünftigste ist.