125. Kapitel – Wunderland

Rechtschaffen schlummere ich den Schlaf der erschöpften Rechtsreferentin. Tief im Unterbewusstsein weiss ich: schon bald wird der Wecker mich aufschrecken und meiner so bitter nötigen Ruhepause ein Ende bereiten…

Eine pelzige Pfote in meinem Gesicht weckt mich aus meinen Träumen. Es ist Elie: unsanft tatzt er auf meiner Nase herum und zischelt mir zu: „Wach auf!“

Schlaftrunken schrecke ich hoch. „Ist der Wecker kaputt?“ stammele ich. „Ist es schon Morgen?“

„Nein!“ sagt Elie. „Es ist was Schlimmes in der Küche! Minna schreit um Hilfe!“

Ein Schnattern, vielmehr Klappern aus dem Flur ertönt – mir wird bewusst, dass ich dieses Geräusch bereits im Halbschlaf vernommen hatte … Schlagartig bin ich wach: das Klappern entstammt Minna, unserer Spülmaschine, die offenbar verzweifelt aus ihrer Küche bis in den Flur gewandert ist und dort – durch ihr Kabel am weiteren Fortkommen gehindert – laut nach uns ruft.

Ich schiebe meine anfängliche Ungläubigkeit zur Seite – warum sollten in einem Haushalt mit sprechenden Stoffdinosauriern nicht auch lebende Spülmaschinen existieren – und springe aus dem Bett auf.

„Minna, was ist los?“ höre ich mich tatsächlich zu meiner Spülmaschine sagen.

Minna beeilt sich, mir das Problem mitzuteilen. „In der Küche läuft Wasser von den Wänden! Hinten in der Ecke! Und ich bin NICHT schuld daran! Ich bin nicht undicht, ich brauche nicht zur Reparatur. Ich schwöre es!“

Entsetzt stürze ich in die Küche. Dort offenbart sich mir das Grauen. Von der Decke herab bis auf den Boden sickert Wasser in die Küche. Es kommt zweifelsfrei aus dem 5. Stock – von dort, wo gestern noch ausgiebig gefeiert wurde, um den bald bevorstehenden Auszug festlich zu begehen.

„Ein Wasserrohrbruch!“ schießt es mir durch den Kopf. Als erstes muss die Quelle über uns beseitigt werden – dann muss ich die unter uns wohnenden Vermieter informieren. Wie spät ist es überhaupt? Ich finde weder meinen Wecker noch mein Handy.

Schnell weise ich Anatol und Elie an, das zentimetertief in der Küche stehende Wasser aufzuwischen, während ich zu den Nachbarn nach oben laufe, um zu versuchen, die Flut einzudämmen.

Ich öffne die Tür und stehe im Treppenhaus. Die Nachbarn sind bereits auf – sie tragen Möbel ins Erdgeschoß. „Ach ja,“ denke ich. „Sie wollten ja umziehen. Aber mitten in der Nacht…?“

Noch bevor ich einen der möbelbepackten Nachbarn auf den Rohrbruch ansprechen kann, fällt mir auf, dass die Treppe hinunter in den 3. Stock fehlt. Dies ist allerdings ärgerlich – und stellt auch für den Möbeltransport ein Hindernis dar. Meine Nachbarin wirft ihr Hab und Gut daher einfach von oben in den 3. Stock, wo es von einem mir unbekannten Menschen aufgefangen wird.

Indessen sind die Katzen aus der offenbar nun ebenfalls abhanden gekommenen Wohnungstür ins Treppenhaus entwichen. Katze Nini, heute nicht im schwarz-weissen Pelz, sondern braun gesprenkelt, hat es geschafft, in den 3. Stock hinunterzuspringen und schickt sich an, das Haus zu verlassen.

In Panik schreie ich: „Nini! Komm zurück! Du darfst nicht raus!“ Nini ist jedoch bereits im 2. Stock; ich muss es schaffen, die Treppenlücke zu überwinden und Nini hinterherzulaufen!

Anatol – hilfreich wie immer – bringt ein blaues Seil. Ich soll es am noch vorhandenen Treppengeländer festbinden und mich daran bis ins Erdgeschoß herunterhangeln. So würde ich Nini einholen und fangen können!

Als ich das Seil an dem Geländer verknoten möchte, verwandelt es sich unter meinen Händen in eine Kinderstrickleiter. Wird sie mein Gewicht überhaupt tragen? Nini ist nicht mehr zu sehen – Entsetzen bemächtigt sich meiner! Ich darf Nini nicht verlieren … Ich riskiere den Abstieg an der Strickleiter, verheddere mich jedoch bereits beim ersten Versuch, meine Füße auf die unteren Leiterverstrebungen zu setzen. Das Wasser tropft aus der Küche durch die Haustür ins Treppenhaus, während ich wie ein nasser Sack zwischen dem 3. und 4 Stock an der Strickleiter baumele und Minna voller Schrecken beginnt, lautstarke Pieptöne von sich zu geben…

Nun höre ich die Saurier meinen Namen rufen. Lauter und lauter dringt das Rufen zu mir durch, Treppenhaus und Strickleiter verblassen … ich wache auf – diesmal wirklich.

Schweissgebadet und zitternd liege ich im Bett. Saurier und Katzen sitzen besorgt um mich herum. „Seit Minuten schreist Du nach Nini! Wir haben Angst bekommen… Gerade hat die Spülmaschine zuende gespült – vielleicht hast Du deshalb immer gerufen, wir sollen das Wasser aufwischen? Hier ist aber alles trocken. Minna ist dicht.“

Glücklich stelle ich fest, dass im 5. Stock kein Wasserrohbruch stattgefunden hat. Ein kurzer Blick ins Treppenhaus beruhigt mich noch mehr: auch die Treppe ist am Platz.

Froh lege ich mich zurück ins Bett, um noch ein wenig von der verkorksten Nacht zum Ausruhen zu nutzen – aber da klingelt der Wecker.

Ein für allemal beschließe ich, die Spülmaschine nicht mehr auf den Nachtstrom zu programmieren.

124. Kapitel – The Onion Router für Dino-Dummies

IMG_3590Nachdem kürzlich unsere grenzenlose Unwissenheit in Sachen Tor-Netzwerk öffentlich zu Tage getreten ist, habe ich die Saurier angewiesen, eine großangelegte Recherche über Tor anzustellen und daraus ein schriftliches Referat, welches auch ich imstande bin zu verstehen, für den Blog zu erarbeiten.

Die ersten Ergebnisse sind ernüchternd.

Tor ist ein Netzwerk zur Anonymisierung von Verbindungsdaten. Es wird für TCP-Verbindungen eingesetzt und kann beispielsweise für Web-Browsing, Instant Messaging, IRC, SSH, E-Mail, P2P und anderes benutzt werden. Tor schützt seine Nutzer vor der Analyse des Datenverkehrs. Es basiert auf der originalen Idee des Onion-Routings.

Stolz legt Elie mir das Copy-Paste aus Wikipedia – der modernen Variante des Universalspickzettels – vor. „Da steht alles!“ erklärt er fröhlich.

Was verstehe ich?

Richtig – nichts.

Pikiert bestehe ich auf einer Erläuterung. „Steht doch alles da!“ kräht Elie.

„Lesen kann ich! Aber was heisst das denn nun?“ Fast will ich den Saurier am Kragen packen! Dem besseren Verständnis ist dies jedoch nicht dienlich.

Elie kratzt sich am Kopf. „Ja, also erklären was das genau ist … das kann ich nicht. Anatol, weisst Du was das heisst, was da steht?“

Anatol runzelt die Stirn. „Hm also das heisst offenbar, dass Tor irgendwie Verbindungsdaten anonymisiert. Steht ja da. Aber wie es das tut, und warum die im Internet alle vom Darknet sprechen … ja keine Ahnung.“

Wir lesen den Artikel bis zum Ende, aber verstehen immer noch nicht, ob wir Tor nutzen sollten oder nicht, und wie es funktioniert.

Verzweifeltes Klicken im Internet bringt uns schließlich zu SemperVideo. IMG_3593

Hier sehen wir ein Video nach dem anderen. Die Saurier rufen Ah! und Oh!  Schließlich setzen sie sich an ihr Tablet und bringen den folgenden, ganz allein verfassten Text zu „Papier“ :

Heute haben wir bei SemperVideo mehrere tolle Videos über das Tor Netzwerk gesehen. Wir glauben, dass wir es nun viel besser verstanden haben!

Das Tor Netzwerk heisst so, weil es eine Abkürzung von „The Onion Router“ ist. Warum „Onion“ – das wissen wir leider nicht. Es wurde entwickelt, damit verfolgte Menschen über das Internet Informationen austauschen können, ohne sich in Gefahr zu begeben.

Funktionieren tut es so: man installiert die Tor-Software auf seinem Computer und benutzt den Tor-Browser, der über das Tor-Netzwerk ins Internet führt. Das wird von manchen Leuten das „Darknet“ genannt. Aber dazu kommen wir noch.

Wenn wir über den Tor-Browser im Internet sind und eine Webseite aufrufen, dann verläuft die Verbindung von unserem Computer zu dieser Webseite nicht wie sonst über eine nachverfolgbare Linie, sondern sie hüpft von einem „Tor-Knoten“ zum nächsten. Keiner der Knoten kann nachverfolgt werden, nur der letzte der Reihe, der „Exit-Knoten“. Ein Tor-Knoten, das ist jeder Computer, der die Tor-Software eingerichtet hat – also auch unserer, wenn dort Tor installiert ist. Oft sind diese Verbindungen ziemlich langsam, und sie sind verschlüsselt.

So können wir an eine Information kommen, ohne dass jemand unsere IP – die Nummer unseres Computers – nachverfolgen und so erfahren kann, dass wir eben diese Information im Internet aufgerufen haben. Das kann manchmal sehr wichtig sein.

Bei Tor gibt es auch Email-Programme. Damit kann man Nachrichten ganz anonym versenden und auch bekommen. Wie genau man das einrichtet, wissen wir aber nicht.

Es gibt Webseiten, die man nur über das Tor-Netzwerk erreichen kann. Sie enden nicht auf .de, .com, .org oder so, sondern immer auf .onion. Diese Seiten können nicht nachverfolgt werden; niemand kann herausbekommen, wer sie erstellt hat. Sie können von politisch verfolgten Leuten gemacht werden, die die Sicherheit des Tor-Netzwerks brauchen – aber sie können auch von Bösen betrieben werden, die ungestraft Drogen oder Waffen oder noch viel Schlimmeres dort anbieten wollen. Vor denen haben wir große Angst und möchten ihnen auf keinen Fall begegnen.

Wir wissen deshalb noch nicht, ob wir Tor bei uns installieren oder nicht.

Aber wir finden es toll, dass uns die Videos von SemperVideo so gut dabei geholfen haben, das Tor-Netzwerk zu verstehen!

Ich bin stolz auf die Arbeit meiner Saurier. Auch wenn wir unsere Recherchen noch weiter vertiefen sollten, sind wir doch zufrieden, zumindest im Ansatz verstanden zu haben, was Tor ist.

Wieso allerdings die Information über den Tor-Exitknoten nicht zurückverfolgbar ist, haben wir noch nicht begriffen. Irgendwoher muss diese Information wissen, wohin sie zurück soll. Und wenn sie das weiss, muss es Möglichkeiten geben, es herauszufinden.

Sicher entspringt diese Frage unserer grenzenlosen Unkenntnis.

Wenn es jemanden gibt, der uns hierzu – sauriergeeignet – aufklären kann: wir wären sehr dankbar!

123. Kapitel – Tor

Eben komme ich von der Arbeit nach Hause. Abgespannt und müde freue ich mich auf eine ruhige Mittagspause, bevor ich zurück ins Büro muss…

Das Essen steht schon auf dem Tisch – die Butler haben sich einmal mehr selbst übertroffen. Bratkartoffeln mit Zwiebelchen, dazu Löwenzahnsalat und Apfelmus zum Nachtisch: glücklich hänge ich meine Jacke an die Garderobe, wasche mir schnell die Hände und setze mich voller Erwartung an den Mittagstisch.

Die Butler indessen diskutieren aufgeregt in der Küche. Ungeduldig rufe ich die beiden Saurier ins Esszimmer, werde jedoch keines Blicks gewürdigt. In ihr Gespräch vertieft setzen sich die Butler zwar an den Tisch, gedenken aber nicht, auch nur ein Wort an mich zu richten.

Dies kann ich so nicht dulden. Obwohl mir solch dramatische Gesten sonst nicht liegen, schlage ich mit der flachen Hand auf den Tisch. Teller, Besteck, Salatschüssel und auch die beiden Saurier heben durch die Erschütterung einige Millimeter von der Tischplatte ab – klirrend landet das Geschirr wieder an seinem Platz. Die Butler verstummen und sehen mich aus vorwurfsvollen Augen an.

„Ja, ich bin auch hier!“ vermelde ich. „Man kann sogar mit mir sprechen! Vielleicht sagt Ihr mir, was Euch so beschäftigt?“

Anatol verdreht die Augen. „Es tut mir leid, aber das verstehst Du sowieso nicht!“

Elie pflichtet ihm bei. „Ja, es ist wirklich was Kompliziertes. Ich glaube nicht, dass Du damit etwas anfangen kannst.“

Auf meinen erbosten Blick hin beeilt sich Elie, mir die Sache doch zu erklären. „Hast Du nicht mitgekriegt, dass sie TV5 Monde gehackt haben? Mir macht das Angst!“

In der Tat hatte ich im Radio gehört, dass der Sender TV5 Opfer einer außerordentlich virulenten Cyberattacke geworden war. Dass Elie vor solchen Angriffen Angst hat, kann ich zwar verstehen – dennoch hoffe ich (möglicherweise zu Unrecht?) auf die Kompetenz unserer Regierungen, uns vor derlei Unbill in Zukunft zu schützen.

„Daran merkt man schon, dass Du gar keine Ahnung hast!“ wirft Elie ein. „Unsere Regierungen werden uns ganz sicher nicht vor diesen Attacken schützen. Im Gegenteil – sie wollen uns nur noch mehr ausspionieren und alle unsere Daten abgreifen! Die NSA macht es ja bereits – und unsere Regierungen tun nichts dagegen! Vorratsdatenspeicherung sag ich nur! Wenn sie dann alles über uns wissen, stecken sie uns ins Gefägnis!“

Anatol nickt. „Genauso ist es. Wir müssen uns selbst schützen!“

Ich bin sprachlos. Sind meine Saurier in die Fänge einer von meinen Eltern vermutlich als „linke Zelle“ bezeichneten Gruppierung geraten? Zu Schulzeiten waren coole Klassenkameraden bei den Trotzkisten; an deren Äußerungen erinnern mich die Erklärungen meiner Butler gerade – obwohl unsere damaligen Diskussionen mit den heutigen Problemen in der Tat wenig zu tun haben.

Elie holt weiter aus. „Lilian hat es heute erzählt! Er kann über Whatsdino mit Angelo in Amerika chatten – und der hat ihm erklärt, dass die NSA alles weiss. Lilian behauptet, Angelo arbeite an einem Forschungsprojekt der Uni Harvard mit: da geht es um Internetüberwachung. Angelo sagt, es gebe keine Sicherheit Internet. Er habe den Hackerangriff auf TV5 daher vorhergesehen! Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, bis so etwas passieren würde. Bald wisse der IS alles über uns und werde unsere Konten lahmlegen und ausrauben!“

Anatol knurrt „Ja ja. Der Besserwisser!“ Elie findet das egal. Besserwisser oder nicht – die Information sei wichtig!

Ich gebe zu bedenken, dass die Information zwar von hoher Bedeutung sei, aber in keiner Weise neu. Letztens hätte ich sogar in der Frankfurter Allgemeinen einen Artikel darüber gelesen. Man müsse daher nicht einmal die Fachpresse bemühen, um darüber Bescheid zu wissen. Was das von Angelo vorhergesagte Ausspionieren unserer Konten durch den IS angehe, so wage ich dies doch zu bezweifeln. Unsere Banken nutzten allesamt sichere Software – schon deren Eigennutz gebiete das.

„Das glaubst nur Du!“ schreit Elie. „Wenn Du unseren Banken wirklich so blind vertraust, solltest Du vielleicht mal über eine Betreuung nachdenken! Und ja – die Misere mit dem Hacking wird überall erwähnt, aber was tun unsere Regierungen dagegen? Nichts!“ Elie hat sich in Rage geredet. „Lilian sagt, es gebe nur eine Möglichkeit, der Überwachung zu entgehen, und das sei Tor!“

Ich runzle die Stirn. Den Saurier muss ich mir demnächst zur Brust nehmen – ich bin vielleicht nicht mit allen digitalen Besonderheiten vertraut, die heutige Schüler aus dem Effeff beherrschen, aber mir eine Betreuung anzuraten, ist eine Unverschämtheit. Ich beschließe, an dieser Stelle nichts dazu zu sagen, behalte mir aber eine klare Erwiderung zu einem späterem Zeitpunkt vor.

Dann räuspere ich mich und frage „Und was ist dieses „Tor“? Ihr spielt doch sonst keinen Fußball?“

Anatol stöhnt auf.

Elie starrt mich entsetzt an. „Du willst uns jetzt nicht sagen, Du hast noch nie von „Tor“ gehört?“ Fast will seine Stimme überschnappen. Ich beeile mich daher, meine Fußballanspielung ins Lächerliche zu ziehen.

„Das war nur ein Witz,“ erkläre ich, zugegenermaßen etwas lahm. „Trotzdem würde ich mich freuen, wenn man mir jetzt darlegen könnte, was das für ein Tor ist!“

„Sie weiss es wirklich nicht“ seufzt Elie. „Tor ist ein Browser, mit dem man völlig anonym im Netz surfen kann. Niemand kann Dich dort ausspionieren! Lilian sagt, damit habe man fast 100%ige Sicherheit.“

Anatol nickt zustimmend. „Und den richten wir nachher auf Deinem Computer ein!“

Ich erstarre. Schlagartig erinnere ich mich an einen Artikel, den ich vor einiger Zeit Im Internet gelesen hatte … in diesem war es um einen Zwiebel-Router, der ins Darknet führe, gegangen. Kriminelle, Terroristen, Pornohändler und Drogendealer tummelten sich angeblich dort.

Ich verleihe meinem Entsetzen durch einen wilden Wutschrei Ausdruck: „AUF GAR KEINEN FALL WIRD SO ETWAS AUF MEINEM COMPUTER EINGERICHTET!“

Wutschnaubend stehe ich vom Tisch auf, schnappe das Laptop, das Tablet und mein iPhone und lasse den gesamten digitalen Klimbim in meinem Rucksack verschwinden.

„Jetzt ist Schluß mit Internet! Die größte Gefahr für meine Daten geht offenbar von Euch beiden aus! Die Geräte kommen ins Büro und bleiben dort. Hier im Haus gibt es das nicht mehr. Kein Internet – keine Gefahr, von Regierung, IS oder NSA ausspioniert zu werden. Basta!“

Elie heult auf. „Und wie soll ich jetzt mit Anna chatten? Und mit Lilian??“

„Vielleicht gehst Du einfach zu ihnen rüber?“ Ich erinnere Elie daran, dass Anna gegenüber und Lilian gleich nebenan im Rasenweg wohne.

Anatol versucht, mich zu besänftigen. „Warum reagierst Du denn jetzt so über? Tor ist ein absolut sicherer Browser – da kann gar nichts passieren. Also, das sagt jedenfalls Lilian!“

Ich erinnere Anatol daran, dass es  sich bei Lilian um einen etwa 10jähriger Stoffdinosaurier handele, der seine Informatikerweisheiten über Whatsdino von Angelo, einem gleichaltrigen altklugen Klassenkameraden beziehe. Dass ich die wohlgewählten Browsereinstellungen auf meinem Laptop keinesfalls verändern werde, nur weil zwei minderjährige Plüschtiere dies empföhlen.

Hier bringt Anatol indessen ein gewichtiges Argument vor. „Sogar Dein Freund, der Captain, empfiehlt Tor! Also zumindest spricht er in seinem Blog „Linux ohne Angst“ davon.“

Es stimmt, dass der Captain mir oft von Email-Verschlüsselungen wie Enigmail berichtet hat. Gleich einen Zugang ins Darknet zu legen – das hat er mir indessen nie nahegelegt.

Ich werde mich jedoch mit den Möglichkeiten, die Tor bietet, auseinandersetzen und insbesondere den Audioblogeintrag des Captains über Tor genauestens studieren. Vorerst schreckt mich vor allem die Tatsache ab, dass ich nicht einmal ansatzweise verstehe, was es mit Tor, dem Darknet und der Zwiebelgeschichte auf sich hat.

Geschicktes Nachfragen bei den Sauriern bestätigt meinen Verdacht, dass es bei ihnen nicht anders aussieht – auch wenn sie dies zu verbergen suchen. So glauben die beiden beispielsweise, dass die Cyberattacke auf TV5 hätte verhindert werden können, wenn TV5 Tor gehabt hätte.

Es wird noch viel Nachhilfe in Medienkompetenz nötig sein.

122. Kapitel – Post von Momox

IMG_3578Anatol und Elie sind sprachlos. Seit vorhin starren sie auf den Bildschirm unseres Computers und lesen die Message wieder und wieder.

Momox, bzw. die Momox-Community-Managerin, hat unseren Blogeintrag vom Ostersonntag auf Google+ gelesen, uns eine sehr freundliche Nachricht geschickt und nach der Fortsetzung gefragt!

Die Saurier sind über alle Maßen stolz und gerührt, dass „ihre“ Momox-Geschichte bis dorthin gelangt ist – und löchern mich nun damit, schnellstens daran weiter zu schreiben.

Hier daher ein kleiner Überblick über den weiteren Verlauf unserer Momox-Erfahrung.

Unser erstes Paket ist angekommen und wird laut Kontoauskunft soeben überprüft. Dem Momox-Kollegen wird wohl nicht verborgen bleiben, dass drei Viertel der Sachen nicht mit im Paket sind … hoffentlich verursacht dies keine allzugroßen Verwerfungen.

Vom Entrümpelungsfieber gepackt haben Elie und Anatol heute – unter strenger Überwachung meinerseits – ein zweites Momox-Paket zusammengestellt und auch bereits auf die Reise geschickt. Auf den Fortgang unseres Entrümpelungs-Abenteuers dürfen wir gespannt sein! IMG_3573

Nachtrag:

Unsere beiden Momox-Pakete sind nun eingetroffen. Eines ist bereits bearbeitet, und alle Sachen bis auf ein Buch sind von Momox angenommen worden. Das Geld ist sogar heute schon auf unserem Konto eingegangen!

Wir sind begeistert und werden jederzeit gern wieder momoxen!

121. Kapitel – Entrümpeln mit Momox

Jedes Jahr um Ostern steht er an: der große Frühjahrsputz. Seit mehreren Tagen rumort Anatol in den Schränken und Regalen, um das alljährliche Großreinemachen vorzubereiten.

Angeregt durch einen Beitrag in einem der von ihm hochgeschätzten Minimalistenblogs hatte Anatol angekündigt, die Wohnung dieses Jahr nicht nur grundzureinigen, sondern nachhaltig zu entrümpeln. Dazu gehöre auch die Entkernung unserer Bücherregale und das Aussortieren von nicht mehr gelesenen Büchern.

Hier hatte ich zunächst auf das Schärfste protestiert. Bücher seien kein Gerümpel! Sie gehörten zu unseren Grundfesten; und auch, wenn ich sie nicht mehr ständig läse, so wolle ich doch meine Lieblingsbücher weiter um mich haben. Einer Entrümpelung meiner Bücherregale träte ich somit entschieden entgegen.

Anatol hatte widersprochen. „Und was ist mit den Dutzenden von Taschenbüchern, die Du niemals mehr ansehen, geschweige denn lesen wirst? Es ist doch schade, sie hier verstauben zu lassen – während andere Leute sie gern lesen würden! Sie sollen nicht ins Altpapier, sondern zurück in den Lebenskreislauf jedes Buches: zu den Lesern!“

Ich war in der Tat ins Grübeln gekommen. Viele Bücher standen nur herum, bedeuteten mir aber nichts. Ich hatte sie gelesen und brauchte sie eigentlich nicht weiter aufzubewahren …

So hatte ich Anatol schließlich mein Plazet gegeben. Gewisse Bücher dürften aussortiert werden, ebenso CDs und DVDs. Nur: wohin damit?

Hier hatte Anatol seinen Trumpf gezogen. „Du hast wohl noch nie von Momox gehört!“ hatte er triumphierend erklärt.

Ich hatte stirnrunzend zugegeben, dass mir „Momox“ in der Tat gänzlich unbekannt sei.

Schnell hatte Anatol mich aufgeklärt. Momox sei eine Plattform, die gebrauchte Bücher, CDs und auch DVDs kaufe, um sie dann weiterzuveräußern. Der Verkauf sei ganz einfach: man scanne die Bücher per Handy ein, nachdem man ein Kundenkonto eröffnet habe, drucke einen Versandschein aus und bringe die verpackten Bücher zu einer Poststelle. In unserem Fall sei das der Hermesversand in Kehl. Der Versand sei kostenlos.

Ich war sprachlos gewesen. Dieses Momox hörte sich großartig an – aber hielt es auch, was es versprach? Das hatte Anatol zwar nicht aus eigener Erfahrung belegen können, da er selbst noch nie etwas über Momox verkauft habe – er habe im Internet jedoch nur positive Bewertungen gelesen.

Schließlich hatte ich mich entschlossen, einen Versuch zu starten und Anatol erlaubt, ein Paket mit Büchern zusammenzustellen und abzusenden.

Das Päckchen war schnell verpackt und zum Hermesversand gebracht worden. Nun war nur noch darauf zu warten, dass es bei Momox ankam, dort Gefallen fand und bezahlt wurde.

In sicherer Erwartung des positiven Ausgangs unserer Transaktion ist Anatol heute geneigt, eine weitere Bücher- und CD-Sammelaktion vorzubereiten. Ich widersetze mich dem nicht – weiss ich doch, dass alle Bücher, bevor sie abgesendet werden, erst von mir freigegeben werden müssen.

Nach dem Osterspaziergang macht sich Anatol mit Unterstützung von Elie daran, alle Regale zu leeren, auszuwischen und dann Bücher, CDs und DVDs zu sortieren und zu kleinen Stapeln zusammenzustellen. Ich arbeite zwar an meiner Novelle, habe aber doch ein Auge auf die Saurier. Mit Wohlgefallen sehe ich, wie Anatol sorgfältig auswählt, welche Bücher nach vorheriger Absprache für Momox eingescannt werden – dies nimmt Elie mit dem Handy vor – und welche ins saubere Regal zurückkommen.

Das Endergebnis begutachte ich, bin einverstanden und gebe Anatol die Erlaubnis, den Verkauf am Computer abzuschließen. Dies besteht darin, die eingescannten Bücher zu überprüfen und dann den „Verkaufen“-Button anzuklicken.

Der Saurier erledigt dies und macht sich sodann an die Verpackung der Sachen.

Ich interessiere mich nun doch für den voraussichtlichen Verkaufspreis, den wir mit den Büchern erzielen könnten und frage „Was kriegen wir denn für das alles? Steht da schon ein Preis?“

Elie meint „Moment, ich sehe mal in unser Konto“ und tippt die Adresse des Momox-Accounts ein.

Obwohl dies bei Elie nicht sehr deutlich zu sehen ist, bemerke ich doch, dass der Saurier plötzlich blass wird.

„Was ist denn da passiert …“ flüstert er, sichtlich verwirrt. Anatol ist mit einem Satz am Computerbildschirm – und stösst einen Entsetzensschrei aus. Nun springe ich auch auf – irgendetwas muss bei dem Momox-Verkauf nicht so gelaufen sein, wie es hätte sollen.

Bildschirmfoto 2015-04-05 um 19.17.04 - Arbeitskopie 2Das Momox-Konto ist übersichtlich gestaltet. Gleich fällt mir die Präsenz von zwei Verkäufen auf. Diese ist logisch: wir haben vor ein paar Tagen ein erstes Paket an Momox versendet. Nicht richtig erscheint indessen der Betrag, den dieser erste Verkauf ausweist – ist er doch deutlich höher als der zunächst veranschlagte.

Ich sehe mir die Details der beiden Verkäufe an – und erstarre. Unser Verkauf von letzter Woche wird nun als deutlich „aufgestockt“ angezeigt: die Saurier haben offenbar die Bücher von heute mit dem Verkauf von letzter Woche zusammengefügt. Dies allein wäre noch kein Beinbruch, jedoch haben sie zusätzlich dazu jedes Buch ein weiteres Mal unter dem heutigen Datum verkauft.

Nicht nur ist somit der erste Versand unvollständig, sondern jedes Buch ist zweimal im Verkauf – so als gebe es von jedem Buch zwei Exemplare und nicht nur eines. Die Verkäufe sind auch bereits bestätigt und lassen sich nicht mehr korrigieren.

Ich explodiere.

„Wie ist es möglich, dass so ein unglaublicher Mist hier passiert, während ich noch daneben sitze !?“ brülle ich, die Zornesröte im Gesicht.

IMG_3565Die Saurier sind indes nicht mehr zu sehen.

Nach kurzer, wütender Suche entdecke ich sie unter dem Schrank, wo ich sie am Schlafittchen packe und aus dem Versteck hervorziehe. Elie heult – Anatol zittert am ganzen Leib.

Schlagartig verfliegt meine Wut. Im Grunde bin ich selbst schuld an der Momox-Misere: warum habe ich die beiden Saurier nicht besser überwacht, oder zumindest den Verkaufsvorgang beobachtet?

Ich verhänge eine General-Momoxamnestie für die Saurier und nehme die gesamte Schuld auf mich, woraufhin sich die Butler ein wenig beruhigen.

Allerdings möchte ich nun wissen, was zu der jetzigen verfahrenen Situation hatte führen können. Wie konnten die Bücher doppelt verkauft werden und noch dazu zu dem schon versendeten Paket hinzugefügt werden?

Elie schnieft. „Ich habe immer schön mit dem Handy die Bar-Codes eingescannt. Hier: so! IMG_3567Die Sachen werden dann im Handy so lange gespeichert, bin man auf „Kauf abschließen“ geht. Danach kommt eine Mail, und mit der überträgt man die Bücher in das Kundenkonto. Das mit der Mail hat immer Anatol gemacht.“

Anatol gibt dies zähneknirschend zu. Es sei denkbar – wenngleich nicht sicher! –  dass er mehrere dieser Mails gleichzeitig bearbeitet habe. Dies könne möglicherweise dazu geführt haben, dass mehrere Verkaufsvorgänge geöffnet worden seien. Da diese dann nebeneinander existierten, habe das Progamm eventuell nicht beachtet, dass es sich um die gleichen Artikel gehandelt habe … anders könne er sich den Sachverhalt nicht erklären.

Was das Zusammenfügen der Verkaufsvorgänge angehe, so könne er sich vorstellen – ohne dies allerdings sicher attestieren zu können – dass man dies angeklickt habe, weil man davon ausgegangen sei, es handele sich um die heutigen Verkäufe, nicht aber den von letzter Woche.

Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich von all dem neudeutschen Geschwätz (Verkäufsvorgänge werden „geöffnet“, „zusammengefügt“, „existieren nebeneinander“ und werden „in Kundenkonten übertragen“) gar nichts verstehe. Was ich jedoch verstehe, ist dies: die Momox-Geschichte ist gründlich schiefgegangen, und zwar allein durch unser – bzw. mein – Verschulden.

Eine Lösung für die Misere zeichnet sich indessen nicht ab. Wer hier allein helfen kann, ist Momox – allerdings nicht an Feiertagen. Wir werden uns daher bis Dienstag gedulden müssen, bis wir Momox das Desaster darlegen und um Nachsicht oder besser: um Gnade bitten können.

Elie weint immer noch. „Kommen wir jetzt ins Gefängnis?“ schluchzt er. Diese Frage kann ich glücklicherweise verneinen.

Nachdem ich die allgemeinen Geschäftsbedingungen von Momox genauer konsultiert habe, bin ich sicher, dass uns auch kein zivilrechtliches Ungemach drohen dürfte. Dennoch wird es mir besser gehen, wenn die Sache mit Momox am Dienstag – hoffentlich – geklärt werden kann.

Die Butler bekommen für die nächste Woche ein strenges Entrümpelungs- und Momoxverbot. Nicht, dass sie am Ende noch unsere Wohnung vermomoxen – wir sind nur Mieter.

120. Kapitel – Frohe Ostern!

Anatol, Elie und ich wünschen Euch allen ein frohes Osterfest!

Wir drei haben heute noch gar nichts österliches unternommen. Elie liegt faul im Nestchen und schmökert, Anatol hat uns den schönen Darjeelingtee von Ewert gekocht und ich will mich nun an die Entrümpelung meines CD-Regals machen.

Draußen strahlt die Sonne vom Himmel – nachher werden wir sicher einen Osterspaziergang im Park machen.

Die Butler hoffen, dort vielleicht noch ein paar Ostereier zu finden!

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119. Kapitel – Mobberdämmerung

Was bisher geschah:

Boshafte Klassenkameraden – insbesondere der smarte Angelo – haben sich angewöhnt, Anatol zu drangsalieren. Dem heutigen Brauch folgend, derlei Problemen mittels einer psychologischen Behandlung bzw. eines Coachings abzuhelfen, habe ich Anatol bei einem Anti-Mobbingkurs mit Schlagfertigkeitstraining angemeldet.

Diesen Kurs hat Anatol eine Woche lang besucht. Sein Selbstbewusstsein ist gegen Ende dieses Kurses – ein wenig zu unserem Bedauern – ins fast Unermessliche gestiegen. Ob das in der kommenden Woche anstehende Aufeinandertreffen der nun auf Gleichstand gebrachten Egos der Kontrahenten einen positiven Ausgang nehmen wird – wir wagen es nicht vorherzusagen.

Anatol übt in seinem Zimmer ein letztes Mal seine Schlagfertigkeitslektionen, während Elie und ich im Wohnzimmer einen Nachmittagstee trinken.

Elie zieht die Stirn in Falten. „Das gibt ein Drama – ich sehe es kommen. Diese ganzen Kurse und Coachings, da glaube ich nicht dran! Die dienen doch nur dazu, schüchternen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wenn sie dann ihrem mobbenden Chef die perfekte schlagfertige Antwort geben, sind sie auch noch ihre Stelle los! Oder glaubst Du, dass irgendjemand seinem Mobber-Chef sagen wird ‚Übrigens, wie weit ist es mit Ihrer Scheidung?‘, wenn der Chef wieder mal eine fiese Bemerkung macht? Das tut doch niemand. Und wenn, dann braucht er danach einen neuen Job. Nein, aus meiner Sicht ist das alles Nepp! Gegen Mobbing muss man anders vorgehen.“

Im Grunde teile ich Elies Meinung. Mobbing sollte man mit rechtlichen Maßnahmen bekämpfen können – aber wir alle wissen, wie schwer das ist. Dem Mobber mit schlauen Sprüchen kommen, wenn er bereits die Oberhand hat, das scheint auch mir sehr gewagt.

Anatol ist indessen fest davon überzeugt, dass es ihm gelingen wird, der Schikane innerhalb kurzer Zeit Herr zu werden. Was gibt ihm diese Sicherheit? Anatol erklärt es uns.

„Beim Coaching haben wir Situationen durchgespielt, die mir tatsächlich mit Angelo passiert sind. Die Coachin hat das alles mit mir analysiert – und nun bin ich der festen Überzeugung, dass Angelo ein Blender ist. Er hat in Wirklichkeit nur wenig Ahnung! Es traut sich aber niemand, mal genauer nachzufragen. Übrigens habe ich gegoogelt: auf der Webseite von Dinojugend forscht steht er nirgends als Preisträger drauf. Vielleicht hat er das nur erfunden! Ich werde mich jedenfalls von dem nicht mehr piesacken lassen.“

Siegessicher verlässt Anatol heute früh das Haus. Ich setze mich an den Computer, um den zweiten Teil meiner Novelle in Angriff zu nehmen, aber es kommen mir keine Ideen. Um 10 Uhr lösche ich alles heute Geschriebene und mache mich daran, die Abstellkammer aufzuräumen. Zu sehr beschäftigen mich die Gedanken an Anatols geplante Anti-Mobbing-Aktion.

Nun ist es 13 Uhr – bald sollten die beiden Butler aus der Schule kommen… jodoch betritt um viertel nach Eins nur Elie die Wohnung.

„Anatol sitzt nach,“ erklärt er lakonisch. „Sie denken darüber nach, ihn der Schule zu verweisen. Also die Lehrerkonferenz. Na ja, ich habs ja gesagt.“

Entsetzt will ich die ganze Geschichte hören, bevor ich den Schuldirektor anrufen werde. Elie fasst den explosiven Vormittag zusammen.

Zur ersten „Begegnung“ mit dem Widersacher sei es in der Französischstunde gekommen. Angelo, der Überflieger, habe bei einer Antwort Anatols einen kleinen Aussprachefehler ins Lächerliche gezogen – worauf seine Clique in hämisches Gelächter ausgebrochen sei. Anatol habe dies allerdings nicht auf sich beruhen lassen, sondern habe dem „Feind“ entgegengeschleudert, wenn er so schlau sei, solle er doch mal den Subjonctif I des Verbs acquérir in der ersten Person sagen. Er würde auf die Antwort notfalls auch warten!

Da Angelo diese Konjugation nicht beherrschte (was ihm im Grunde nicht vorzuwerfen war, da man dieses Verb noch nicht im Unterricht behandelt hatte), obwohl er sich selbst als den ultimativen Französisch-Crack bezeichnete, habe Anatol diesmal die Lacher auf seiner Seite gehabt – nämlich die Schüler, die ebenfalls unter der Knute des Klassenbesten litten.

In der nachfolgenden Pause habe Angelo Anatol mit seiner Clique umringt. Elie, Mirko und Edouard sei das Herz tief in die Hose gerutscht, da sie die Vergeltung der Bande fürchteten. Anatol habe ihnen jedoch vorher gesagt, es werde gewiss nichts passieren. Sollte die Clique ihn auf dem Schulhof tätlich angreifen, habe er endlich einen Beweis für die Boshaftigkeiten, den auch die Lehrer nicht mehr würden ignorieren können. Größere Sorgen mache er sich um den Nachhauseweg, aber dafür habe er auch eine Lösung parat.

Es sei dann zunächst zu einem verbalen Schlagabtausch gekommen. Angelo habe Anatol als „grünen Wurm“ bezeichnet, der einen „Zwergenaufstand probe“. Dies werde ihm schlecht bekommen, wie er noch sehen werde.

Anatol, nun wieder im Vollbesitz seiner legendären Unverfrorenheit, habe darauf geantwortet, er sei lieber ein grüner Wurm, als ein „arroganter, aufgeblasener Lackaffe“. Da Angelo daraufhin vor Wut zu platzen drohte und sich Tätlichkeiten ankündigten, habe Anatol sein Heil in schleuniger Flucht gesucht. In Anbetracht der starken zahlenmäßigen Übermacht des Gegners sei dieser Rückzug nicht ehrlos gewesen. Angelo habe den Flüchtigen jedoch eingeholt, worauf sich ein kurzes Handgemenge entsponnen habe.

Anatol habe es glücklicherweise geschafft, sich aus der Umklammerung des Widersachers zu lösen und flugs auf die große Buche auf dem Schulhof zu klettern. Angelo, vor Wut schäumend, sei bei der Verfolgung Anatols in einer günstig am Fuße der Buche gelegenen Schlammpfütze ausgerutscht und morastbekleistert aus der Lache gestiegen. In diesem Moment habe Anatol begonnen, den bekleckerten Gegenspieler unter lautem Gezeter mit offenbar eigens zu diesem Zwecke mitgeführten, schon etwas älteren Tomaten zu bewerfen.

Ein prompt herbeigeeilter Lehrer habe dem Spektakel schließlich ein Ende bereitet.

Angelo sei in den Waschraum gebracht worden, wo er einer notdürftigen Reinigung unterzogen worden sei. Anatol habe man in das Büro des Direktors geführt. Dieser habe zunächst versucht, Anatol einzuschüchtern – was indessen nicht gelungen sei. Anatol habe auf der Anwesenheit seines Vertrauenslehrers bei der Vernehmung  bestanden. Erst als Herr Hildebrandt ins Zimmer des Direktors gekommen sei, habe Anatol den gesamten Verlauf des Mobbings von seinem Beginn an erzählt. Dies und die danach ad hoc einberufene Lehrerkonferenz habe fast drei Stunden gedauert. Am Unterricht haben weder Angelo noch Anatol mehr teilgenommen.

All dies wisse Elie von Herrn Hildebrandt, der ihn bei Schulschluss in Kenntnis gesetzt habe. Vorerst habe man offenbar entschieden, Anatol wegen des Tomatenwerfens, welches als überproportionale Handlung und nicht als notwendige Verteidigung beurteilt worden sei, eine Stunde nachsitzen zu lassen. Darüberhinausgehende Maßnahmen seien allerdings noch nicht beschlossen. Der Direktor habe zunächst vorgehabt, Anatol von der Schule zu werfen, sei damit aber am entschiedenen Widerstand des Lehrerkollegiums gescheitert.

Angelo habe man heute an der Schule nicht mehr gesehen.

Elie lässt den Kopf hängen. „All das wird noch ein Nachspiel haben. Und kein gutes!“

Ich hingegen bin insgeheim stolz auf meinen Butler. Er hat Mut bewiesen, und sich die Ungerechtigkeiten des durchtriebenen Angelo nicht gefallen lassen. Egal was das für Folgen haben wird: wir werden damit klarkommen. Zudem bin ich sicher, dass Anatols Vertrauenslehrer, Herr Hildebrandt, aber auch der Lateinlehrer Herr Justus auf Anatols Seite stehen werden. Beide sind regelmäßig Zielscheibe von Angelos Spitzen, da ihr Unterricht angeblich „nicht ausreichend wissenschaftlich qualifiziert“ sei.

Als Anatol am frühen Nachmittag aus der Schule kommt, haben Elie und ich Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade vorbereitet.

Anatol ist müde, aber gefasst. Er meint, dass es ab jetzt kein weiteres Mobbing mehr geben werde. Die Lehrerkonferenz habe beschlossen, dagegen ganz allgemein vorzugehen. Herr Hildebrandt sei zum Mobbing-Referenten ernannt worden. Sobald man sich als Opfer von Schikane oder Hänseleien sehe, könne man sich nun an ihn wenden. Stolz vertilgt Anatol seine Pfannkuchen. Dann verkriecht er sich, von Emotionen überwältigt, weinend in seinem Nest. Aber diesmal ist es ein gutes Weinen!

Am nächsten Tag werden wir von Herr Hildebrandt erfahren, dass Angelo für ein Auslandssemester an die Harvard-Universität gerufen worden sei. Ob das stimmt, oder ob es nur eine Bemäntelung für ein Aussetzen ist, ist uns egal. Angelo wird erst in sechs Monaten wieder aufs MPG zurückkehren und dann voraussichtlich in eine andere Klasse gehen.

Von jetzt an gehen Anatol und seine Freunde wieder unbeschwert in die Schule.

Nachtrag:

Mobbing in der Schule ist ein sehr ernstes Thema. Wenn Ihr Opfer von Hänseleien und Schikane seid: sprecht mit Euren Eltern und mit den Lehrern darüber. Sucht Verbündete und bleibt nicht allein. Wartet nicht ab, sondern handelt schnell. Gebt dem Mobber keine Macht über Euch, indem Ihr es über einen längeren Zeitraum ertragt. Es wird nicht von allein besser!

Jeder kann Opfer von Mobbing werden. Das Opfer von Mobbing ist niemals schuld daran – schuld ist allein der Täter! Lasst Euch nicht einreden, dass Ihr selbst Ursache des Mobbings seid. Oft ist der Täter neidisch; manchmal entscheidet aber auch nur der Zufall darüber, dass man Opfer von Mobbing wird. Niemand hat es verdient, gemobbt zu werden!