166. Kapitel – Der Müllsheriff goes Wurmkompost I

Es ist soweit! Ungeduldig haben wir auf ihn gewartet – nun ist er endlich angekommen:

Unser Wurmkomposter!

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Ihr erinnert Euch: Anatol hatte bereits vor längerer Zeit angekündigt, der Müllmisere, die er nicht länger zu ertragen bereit ist, den Kampf anzusagen. Joghurtbecher, in Plastik eingeschweisstes Obst oder Gemüse, Verpackungen jeglicher Art hat der selbsternannte Müllsheriff bereits aus unserem Leben verbannt: Anatol schickt mich nur noch mit Jutebeuteln und Glasbechern bewaffnet zum Einkaufen auf den Markt und zu Day by Day, unserem verpackungsfreien Laden. Sein Motto: „Was verpackt ist, kaufen wir nicht!“

Zwar habe ich es geschafft, doch heimlich das eine oder andere verpackte Produkt, auf das ich nicht verzichten mag, hinter dem Rücken des argwöhnisch jeden Einkauf überprüfenden Sauriers einzuschmuggeln; dennoch stehe ich natürlich hinter den Anstrengungen des Butlers, zumindest den Müll zu vermeiden, den wir nicht produzieren müssen.

Die letzte verbleibende Müllbastion sind – oder vielmehr: waren! – unsere Bioabfälle. Es gibt bei uns keine braune Tonne, und wenn es sie gäbe, würde ich sie – sogar gegen den Widerstand des Butlers – boykottieren. WG-Erinnerungen aus den späten 80er Jahren lassen mich noch heute erschauern: damals hatte jeder von uns in seinem WG-Zimmerchen eine eigene kleine „braune Tonne“. Bei sommerlichen 35°C im 9 qm „großen“ Dachgeschoßzimmer wurde das Bioabfall-Gefäß alsbald zur grauenerregenden Fliegen- und Fäulniszucht. Der damit einhergehende, hier nicht näher zu beschreibende Geruch, der aus den Zimmern drang, hatte mich dazu bewogen, jegliche Ambition in Richtung „Kompostierung in der Wohnung“ endgültig aufzugeben.

Endgültig…? Nicht ganz!

Anatol ist bei seinen Recherchen zur geruchslosen Kompostierung auf den sogenannten „Wurmkompost“ gestoßen. Dieser verspricht eine völlig gestanksfreie, unkomplizierte Verwertung fast aller Bio-Abfälle des Hauses. Das einfache Prinzip: Kompostwürmer verarbeiten die gesamten pflanzlichen Abfälle des Haushalts in Humus. Der einzige Geruch, der dabei entsteht, ist der frischen Waldbodens – ein Traum!

Nach kurzer Bedenkzeit hatte ich mein Plazet gegeben: ein Wurmkomposter soll her!

Diverse Modelle sind im Handel verfügbar; schnell haben wir jedoch alle Plastik-Konstruktionen verworfen, da das Kompostklima uns dort nicht ideal erscheint (vgl. WG-Erfahrungen).

Den Zuschlag bekommt nach längeren Überlegungen der Keramik-Komposter von wormup.ch – er bietet ein perfektes Wurmklima im Inneren, kühl im Sommer, warm im Winter (die ideale Temperatur für die Würmer liegt zwischen 14° und 25°) – und er schließt nicht luftdicht ab. Zudem sieht er wunderschön aus!

Der Nachteil: wir müssen etwas Geduld haben (es gibt eine Warteliste) und sein Preis ist der Qualität entsprechend: hochwertig.

Heute hat das Warten ein Ende: der Postbote steht mit einem riesigen und recht schwerem Paket vor der Tür, verlangt eine Unterschrift und stellt das Bündel ab. Auch unsere fleissigen neuen Mitbewohner, die Würmchen der Gattung eisenia foetida von wurmidee.de, sind da!

Sofort sollen sie ihr neues Domizil beziehen: den Komposter.

Elie schlüpft lautlos zur Tür hinaus. „Bin bei Anna!“ ruft er uns durchs Treppenhaus zu, als er schon im dritten Stock ist. Obwohl außerordentlich umweltbewusst und ökologiebewegt, hat Elie doch vor Regenwürmern eine panische Angst. Dass auch bei Anna bereits ein Wurmkomposter in der Küche steht, verdrängt er gern.

„Mach das Paket auf!“ zetert Anatol und springt aufgeregt um den riesigen Karton herum. Er kann kaum abwarten, das ersehnte Gerät endlich vor sich zu haben! Vorsichtig schneide ich die Papp-Verpackung auf (diese darf sofort als Wurmfutter weiterverwertet werden, fressen die fleißigen kleinen Helferlein doch in Wasser eingelegten Karton für ihr Leben gern!) und ziehe die schön verarbeiteten Einzelteile unseres Komposters heraus.

Um unerwünschte Interaktionen mit unseren bepelzten Mitbewohnern zu vermeiden, wird der Komposter in die Vorratskammer gestellt. Dort kommt zunächst das Substrat – das ist einfach Erde – mit den Würmchen in die unterste Komposterschale. Darüber legen wir eingeweichte, ausgewrungene Kartonstückchen. Darunter können die Kleinen sich verstecken – was sie auch unverzüglich tun. Im Handumdrehen sind die Winzlinge in der Erde verschwunden!

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Ein erstes Zwischengitter wird auf die Schicht mit den Kartonstückchen gelegt – dann bereitet Anatol das erste Menü für seine neuen Schützlinge vor. Heute gibt es kleingeschnittene Gurkenschale! Diese serviert Anatol sofort.

 

Nun kommt der Deckel auf den Komposter – und es heisst warten. Ich beginne, das Abendessen vorzubereiten; auf den Butler kann ich heute Abend nicht zählen. Nervös hüpft er vor der Vorratskammer auf und ab.

„Meinst Du, sie haben schon was gefressen?“ fragt er aufgeregt.

„Anatol, die Würmer müssen erst mal ankommen. Lass sie in Ruhe. Sie haben eine lange Reise hinter sich und wollen sich ausruhen.“

Seufzend gebe ich etwas Essig und Öl auf die Gurke, die nach Abzweigung des Wurm-Anteils für mich übrig geblieben ist.

Nach 30 Minuten hält Anatol es nicht mehr aus. „Ich will jetzt sehen, ob es ihnen gut geht! Vielleicht fehlt ihnen etwas! Haben sie eigentlich ausreichend Wasser?“ knurrt er mir gereizt zu.

Ich erlaube – nun selbst neugierig geworden – eine kurze Stippvisite im Wurmkomposter, bei der Anatol auch etwas Wasser mit unserer Sprühflasche auf das Substrat sprengen darf.

In der Tat sind etliche Würmchen an die Oberfläche gekommen und tummeln sich in den Kartonstücken. Zzzzzzzssss! Kaum dass das Wasser hineingesprüht wird, schlängeln sie sich in Windeseile in ihr Substrat hinein.

Sprühen werden wir nun jeden Tag ein wenig, denn Trockenheit bekommt den Würmchen überhaupt nicht.

Wir werden über das Befinden unserer fleißigen neuen Mitbewohner natürlich weiter berichten!

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145. Kapitel – Omas Bratkartoffelpfanne

Wie Anatol fast einen Küchenbrand legt und eine alte Erinnerung an meine Großeltern zum Leben erweckt …

Nachdem Anatol sich dem mit gehöriger Verspätung eingetroffenen Weihnachtsgeschenk in der Abgeschiedenheit seiner Küche hatte widmen wollen, war ich in die Stadt gefahren.

Manchmal muss man den Saurier allein werkeln lassen – er kann sonst unangenehm werden und regelrechte verbale Hiebe austeilen.

Nach einem Besuch bei einer Freundin, einem gemeinsamen Stadtbummel und dem obligatorischen Crêpe mit Zucker und Zimt fahre ich zurück nach Hause.

Es ist Abend geworden. Die über die Straße gespannten Laternen beginnen, ihr fahles Licht über das Viertel zu werfen. Kein einziger Sonnenstrahl ist heute durch die dichte graue Wolkendecke gefallen – fast erscheint das Aufleuchten der Straßenlampen wie ein verspäteter Sonnenaufgang.

Ich stelle mein Rad im Fahrradschuppen ab, sehe in den glücklicherweise leer gebliebenen Briefkasten und steige gedankenverloren die Treppe hinauf.

Im dritten Stock fällt mir ein starker Rauchgeruch auf – die Nachbarn haben offenbar etwas anbrennen lassen. Während ich noch meinem innerlichen Bedauern über das verkorkste Abendessen der guten Leute nachhänge, erreiche ich unsere Etagentür – und erstarre.

Aus dem Türrahmen dringen dunkle Rauchschwaden ins Treppenhaus. Die Tür ist von Dunst umsäumt – fast unwirklich erscheint das Bild! Träume ich?

Nun dringen Stimmen – und Husten – durch die Tür. Schlagartig erwache ich aus meinen Träumereien – es brennt!

Saurier und Katzen befinden sich in dem Appartment – was ist zu tun? Reflexartig – und brandwehrtechnisch vollkommen regelwidrig ! – öffne ich die Tür. Ich bin augenblicklich von dichtem Qualm umgeben.

„Anatol! Elie!!“ rufe ich verzweifelt.

In diesem Moment setzt ein ohrenbetäubendes Schrillen ein: der Feuermelder ist angesprungen.

Ich stürze in die Küche, wo sich die Rauchquelle zu befinden scheint. Wie durch dichte Nebelschwaden sehe ich nun schemenhaft den Saurier, am Herd stehend und seelenruhig in einer Pfanne mit vollständig verkohltem Inhalt herumstochernd.

Flammen entdecke ich nirgends.

„Elie, mach endlich das Fenster auf!“ brüllt der Saurier, der mich durch den Qualm noch gar nicht gesehen hat – sogar den Rauchmelder übertönend. „Sonst haben wir hier gleich die Feuerwehr!“

Ich stürze ans Küchenfenster und reisse es auf. Dann greife ich nach der Trittleiter, steige hinauf und drücke auf den Knopf, der den gellenden Alarm des Rauchmelder beendet.

Mit einem Satz bin ich am Herd und herrsche den Butler an: „Was geht hier vor? Willst Du das Haus abfackeln?“

Empört sieht Anatol mich an. „Abfackeln? Das Haus? Natürlich nicht! Ich brenne gerade unsere neue Pfanne ein.“

Dann wendet er sich wieder hingebungsvoll den kohlrabenschwarzen Resten in der Pfanne zu und knurrt kopfschüttelnd „Null Ahnung von Bratpfannen – pfffffff…“

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Der Qualm hat mittlerweile den Raum durch das weit geöffnete Fenster verlassen.

Eine Gefahr für die Bewohner des Hauses habe zu keinem Zeitpunkt bestanden, behauptet der Saurier – ich bin hier allerdings anderer Ansicht und bringe dies auch lautstark zum Ausdruck.

Was die Räucherangelegenheit solle, frage ich den Butler nun wütend!

Etwas kleinlaut meint Anatol, es habe eigentlich eine Überraschung sein sollen. Ich schnaube grimmig. Eine schöne Überraschung!

Nun folgen Erklärungen des Sauriers. Er habe vor ein paar Tagen im Internet eine wunderschöne, handgeschmiedete Eisenpfanne gefunden. Nur mit einer solchen sei es möglich, Bratkartoffeln, die diesen Namen auch verdienten, zu braten. In den neumodischen beschichteten Pfannen könne man keine Bratkartoffeln zubereiten. Zumindest keine guten!

Daher habe er die Pfanne gekauft und sich zusenden lassen. Heute sei das ersehnte Stück endlich angekommen! Eine Eisenpfanne der Firma Turk, aus einem einzigen Stück Eisen von Hand geschmiedet – wie bereits vor hunderten von Jahren!

Verliebt sieht der Saurier auf sein Goldstück, die neue Pfanne, in der brikettähnliche Hinterlassenschaften rauchen.

„Ich hoffe mal, dass DAS DA nicht die von Dir erwähnten besten Bratkartoffeln sind!“ bemerke ich ironisch.

DAS DA sind die zum Einbrennen der Pfanne notwendigen Kartoffelschalen. Sie werden mit Salz und Öl so lange geschmort, bis sie ganz schwarz sind. So wird die Pfanne eingebraten. Das wird schon seit Jahrhunderten so gemacht – was Dir offensichtlich vollkommen unbekannt ist!“ klärt mich das Tier auf. „Die Schalen werden, sobald sie abgekühlt sind, weggeworfen. Und dann brate ich Dir in der Eisenpfanne die besten Bratkartoffeln, die Du je gegessen hast. Die von Deiner Großmutter ausgenommen. Die waren genau so gut.“

Ich stutze. Omas Bratkartoffeln … oh ja, die waren großartig …

Mit einem Schlag ist die Erinnerung da: an die uralte schwarze Pfanne, die in Omas Küchenanrichte aufbewahrt wurde, wenn sie nicht gerade im unermüdlichen Einsatz auf dem hochbetagten Gasherd war, um die köstlichsten Gerichte hervorzubringen, die ich je gegessen habe…

Ich ergreife die neue Pfanne, entferne die kohlschwarzen Kartoffelschalen und sehe das Stück schmiedeeiserner Handwerkskunst näher an. War es möglich? Es war tatsächlich die gleiche Pfanne, das gleiche Modell, wie jenes, das von meiner Großmutter Jahrzehnte lang verwendet worden war.

Bewegt setze ich mich auf unsere Trittleiter. „Anatol, das ist wirklich Omas Pfanne … ich freue mich sehr darüber. Aber nie wieder machst Du solche Einbrennaktionen alleine!“

Anatol verspricht dies hoch und heilig.

Dann verkündet er, Elie habe jedes Stadium des Einbratens mit dem Photoapparat festgehalten. Hier die Bilder:

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Die Pfanne ist ausgepackt.

 

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Anatol studiert die Gebrauchsanleitung.

 

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Nachdem er die Pfanne mit Waschmittel (so schreibt es die Anleitung des Herstellers vor) gut gereinigt und abgetrocknet hat, erhitzt Anatol etwas Sonnenblumenöl darin.

 

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Nun gibt Anatol die Kartoffelschalen hinzu, und eine Handvoll Salz.

 

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Die Kartoffelschalen und das Salz werden in dem Öl so lange gebraten, bis sie ganz dunkel sind. Dabei entsteht sehr viel Rauch! Anatol hat einen Pfannendeckel bereitgelegt, falls das Öl Feuer fangen sollte. Brennendes Öl darf man NIEMALS mit Wasser zu löschen versuchen – eine Explosion wäre die Folge. Die Pfanne muss, falls der Inhalt Feuer fangen sollte, sofort mit dem Deckel zugedeckt werden.

 

Sobald die Schalen dunkel genug sind, nimmt Anatol die Pfanne vom Feuer. Sie darf nun abkühlen. Den Inhalt der Pfanne wirft Anatol weg – jetzt sieht die Pfanne so aus:

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Anatol reinigt die zugegebenermaßen reichlich verkohlte Pfanne nur mit heissem Wasser und einer Spülbürste (ohne Spülmittel!) und trocknet sie gut ab:

Die Pfanne ist einsatzbereit.

Anatol setzt sie wieder auf die Kochplatte, stellt diese auf mittlere Hitze, gibt etwas Öl in die Pfanne und schneidet die Kartoffeln in Würfel:

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Als das Öl heiss ist, wirft Anatol die Kartoffelstückchen in die Pfanne, dass es nur so zischt! Eine spritzfreie Angelegenheit ist dies nicht – aber Anatol ist ja für die Säuberung der Küche zuständig. Zum Glück!

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Ich bin nun gespannt. Meine Erfahrung mit unbeschichteten Pfannen ist diese: alles darin Zubereitete backt augenblicklich wie mit Sekundenkleber angeleimt in der Pfanne fest und lässt sich nur mit brachialer Gewalt und unter Zuhilfenahme von Schaber, Spachtel oder gar Meißel herauskratzen. Der dabei zustandegekommene angebratene Brei ist zumeist kein kulinarischer Genuss.

Nicht so bei der von Anatol eingebrannten neuen Pfanne. Die Kartoffelstücke lassen sich mit dem Spatel in der Pfanne verschieben und wenden, als wäre diese weltraumbeschichtet.

Anatol kratzt sich am Kopf. „Ich bin etwas verblüfft. Ich hatte damit gerechnet, dass die Pfanne gut ist… aber dass darin schon beim ersten Braten gar nichts anbackt – das hatte ich nicht gedacht. Ist die Pfanne vielleicht doch beschichtet?“

Die unebene, eiserne Oberfläche der Pfanne spricht eine klare Sprache: hier ist nichts beschichtet. Die Pfanne ist perfekt eingebrannt.

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Die Bratkartoffeln sind fertig. Anatol serviert sie in einem kleinen Schälchen, damit sie nicht so schnell kalt werden.

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Dann knurrt er mich giftig an: „Das sind meine! Ich muss sie erst mal probieren.“ Der verklärte Blick des Sauriers kurze Zeit später spricht Bände!

Ich darf nun meinerseits die deliziösen Bratkartoffeln kosten.

Für einen kurzen Moment bin ich wieder in der alten Gütersloher Wohnung meiner Großeltern. Ich sitze an dem winzigen Küchentisch vor dem Fenster, an dem man nur Platz findet, wenn man noch nicht ganz drei Jahre alt ist und nicht mit den Erwachsenen ißt … an diesem Tisch schält Oma Kartoffeln und lässt mich alles, was sie schon für mich zubereitet hat, schnabulieren. An eben diesem Tisch sitze ich auch gemeinsam mit Oma, als plötzlich das Licht ausgeht. Wir sitzen im Dunkeln – ich habe Angst… aber Oma hat schnell eine Kerze und Streichhölzer zur Hand – Kartoffeln kann man schließlich auch bei Kerzenschein schälen! Mutig wage ich mich an Opas Hand in den Hausflur, zum Sicherungskasten … hier gelingt es Opa heldenhaft, die Sicherungen an Ort und Stelle zu bringen – wir haben wieder Licht. Es ist das letzte Mal, dass ich meinen Opa sehen werde.

Anatols neue Pfanne hat die Erinnerung lebendig werden lassen. Sie wird mich immer begleiten.

 

131. Kapitel – Abenteuerferien in Britisch Kolumbien

„Quicquid aetatis retro est, mors tenet“

Anatol und Elie haben mich so lange bearbeitet, bis ich nachgegeben habe. Wir werden das alte Kanada-Tagebuch von Susanne & Judith aus dem Jahre 1985 in seinem Original hier im Blog veröffentlichen. Die Beiträge stammen teils von mir (damals 16 Jahre alt) teils von meiner Schwester Judith (damals 13).

Das Tagebuch beginnt mit einem Photo meines Vaters, der uns mitten in der kanadischen Wildnis das Frühstück zubereitet. Auf diesem Bild ist mein Vater genau so alt wie ich heute… wie konnten 30 Jahre so schnell vergehen?

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Sonnabend, den 13.7.85
Endlich ist es soweit! Heute sind wir nach Kanada geflogen. Pünktlich zur Abfahrt ist der Photoapparat kaupttgegangen. Die Batterien waren alle. Weil wir wie üblich zu spät gekommen sind, bekamen wir einen Platz in der „Executive classe“.

Sonntag, den 14.7.85
Wir wollten heute das Auto kaufen…

Hier schaltet sich Elie ein. „Wieso wolltet Ihr denn in Kanada ein Auto kaufen?“ Die Frage ist berechtigt. Ich erkläre die Autofrage: „In Amerika – und dazu gehört Kanada – kann man ohne Auto nichts unternehmen. Die Entfernungen sind so groß, dass man es sich hier schwer vorstellen kann. Wir brauchten also unbedingt ein Auto. Die Automietpreise waren sehr hoch, so haben wir das Auto lieber gleich gekauft. Bevor wir zurückgeflogen sind, haben wir es einfach wieder verkauft. So macht man das dort.“

Es geht weiter im Tagebuch:

Papa hat sich an der Rezeption erkundigt, ob die Geschäfte sonntags aufhaben. Das Mädchen an der Rezeption (Diane) hat ihren Vater (Fred) angerufen, und der hat mit uns das Auto gekauft. Überhaupt sind alle Leute hier sehr hilfsbereit und freundlich.

IMG_3800Montag, den 15.7.85
Heute sind wir zum Cariboo District aufgebrochen! Fred hatte uns empfohlen, dorthin zu fahren und hat uns seinen Grill mitgegeben (für unseren gibt es hier keinen Sprit). Abends waren wir in Chilliwack (Motel mit Schwimmbad!).

IMG_3782Dienstag, den 16.7.1985
Einkauf in Chilliwack (Badehose für Papa). Dann sind wir weiter in Richtung Norden gefahren. Am Abend haben wir zum ersten Mal das Zelt aufgeschlagen, gleich in der Nähe vom Fraser River.

Mittwoch, den 17.07.1985
Die Gegend ist einfach trostlos. Heute morgen sind wir zum Fraser River gegangen, um Gold zu waschen. Nach kurzer Zeit hatten wir welches gefunden! Der ganze Sand steckte voller Goldstaub. Leider konnten wir es einfach nicht vom Sand trennen. Nach einem Bad im Fraser River sind wir abgefahren. Das Land glich einer Wüste, und die Hitze war unerträglich. Seltsamerweise gab es hier überall Geschenkläden und Gewürzstände.

IMG_3863Die sogenannten Städte bestehen aus aneinandergereihten Eisenbahnwaggons. – Eine besonders kleine Stadt war Spuzzum. Einige Meter vor der „Stadt“ sahen wir das Schild „Entering Spuzzum“ und „Welcome“. Dann sahen wir eine verfallene Hütte, eine Tankstelle und viel Müll. Daraufhin kam das Schild „Thanks for visiting Spuzzum“ und das wars. Die Orte Ashcroft und Cache Creek werden hier besser nicht erwähnt, mit Rücksicht auf die Einwohner. – Endlich waren wir am Cariboo. Schreckliche Enttäuschung: es war Taiga. Verkrüppelte Birken und Tannen.

Donnerstag, den 18.7.1985
Die Nacht am Green Lake war sehr kalt. Das fanden auch die Wölfe, deshalb heulten sie wohl so. Morgens wurde es sehr heiss, weil die Sonne aufs Zelt schien. Da der Campingplatz nur mit Plumpsklo ausgerüstet war und die Nachbarn laute Popmusik erschallen ließen, verließen wir diesen Ort nach einem Bad im See schleunigst.

IMG_3864IMG_3785Wir nahmen die Route nach Kamloops, wo wir einen Provincial-Park fanden, auf dem wir blieben. Leider war der Untergrund aus Schotter, in den wir unsere Heringe nicht reinkriegten. Deshalb haben wir das Zelt im Wald aufgebaut. Wir waren gerade fertig, da kam der Campinggroundfritze und befahl uns, das Zelt wieder auf dem Schotter aufzubauen. Dafür sind wir auch gleich am nächsten Morgen wieder abgefahren.

Anatol hat bis hier stillgehalten. Jetzt rutscht er aufgeregt hin und her und will Einzelheiten wissen. Ich unterbreche meinen damaligen Bericht also und lasse Anatol ein paar Fragen stellen.

„Wieso haben da Wölfe geheult!? Gibt es da einfach so Wölfe draußen? Das ist doch toll! Wieso seid Ihr nicht an diesem See geblieben? Der sieht auf den Photos wunderschön aus! Ich verstehe nicht, dass Ihr jeden Tag weitergefahren seid und warum Deine Erzählung so … enttäuscht klingt!“

Das muss ich in der Tat erklären. Warum erschien uns das lang erträumte Kanada, als wir endlich da waren, so unwirtlich und öde? Die Antwort ist einfach: weil wir uns über Jahre etwas ganz anderes unter „Abenteuerferien in Kanada“ vorgestellt hatten.

Unsere Reise nach Kanada hatten wir uns seit Jahren ausgemalt. Wir hatten uns große Wälder und unberührte Landschaften erdacht – unbewusst mit dem Bild eines gigantischen Göttinger Hainbergs im Kopf. Dass Kanada möglicherweise kein größeres Südniedersachsen war, war uns nicht in den Sinn gekommen. Umso schlimmer war die Enttäuschung, als sich die Wirklichkeit als ganz anders als die Traumvorstellung herausstellte.

Anatol bemerkt spitz: „Na ja, aber wie kann man denn so – pardon – hirnverbrannt sein und sich vorher nicht erkundigen über das Land, in das man fährt?“

Ich seufze. „Wir hatten uns ja „erkundigt“. In Büchern wie „Kleines Haus im großen Wald„, „Arundel„, „Die Nordwestpassage“ usw. Wir hatten alle möglichen Abenteuerromane gelesen, die dort spielen. Ich gebe zu, dass es sich hierbei nicht um die einschlägige Reiseliteratur handelt. Um die hatten wir einen großen Bogen gemacht.“

Anatol schnaubt. „Da sind wohl drei Hornochsen auf Reisen gegangen!“ Ich möchte dazu nichts sagen (meine Mutter hatte sich damals ähnlich geäußert und hatte im Übrigen davon abgesehen, mitzukommen) und fahre fort in meinem Reisebericht.

Freitag, den 19.7.1985
Wir haben noch keinmal Mittag gegessen – wir hatten einfach keine Zeit. Heute sind wir ins Okanagan Tal gefahren. Dort soll es schön sein. Pustekuchen! Es war noch schlimmer als vorher und vor allem heißer. Am Kalamalka-See haben wir übernachtet. Er war warm und sehr dreckig.

Sonnabend, den 20.7.1985
Heute kamen wir an einem tollen See vorbei! Man hätte sicher toll baden können. Um zum Strand zu kommen, mussten wir über Privatgebiet gehen. Sofort wurden wir von Häschern ergriffen und zurückbefördert. – Dann kamen wir durch eine „Stadt“, in der es ein englisches Antiquitätengeschäft gab. Wir hielten sofort an. Das Geschäft gehörte einer netten älteren Dame, die Engländerin war. Sie hatte über Britisch Kolumbien genau dieselbe Ansicht wie wir: keine Bäume, keine Städte, keine Kultur. Hier können wir nicht wohnen. Den Traum vom Grundstück haben wir sowieso schon aufgegeben.

Hier mischt Elie sich ein. „Das kann doch gar nicht stimmen, dass es in Britisch Kolumbien keine Bäume gibt! Du übertreibst doch wieder einmal maßlos!“

Ich gebe zu, dass es natürlich in der von uns besuchten Gegend Britisch Kolumbiens auch Bäume gegeben habe. Vereinzelt! Die Region, in die wir gefahren waren, ist aber – dies sagten uns die Anwohner dort – in den vergangenen Jahrhunderten restlos abgeholzt worden. Daher gibt es dort keine Wälder mehr. Man nennt die Gegend auch „Das Arizona Britisch Kolumbiens“. Um in die großen Wälder zu kommen, hätten wir viel weiter nach Norden fahren müssen – noch weiter als zum Green Lake. Dort hatten nachts indessen die Wölfe geheult, was unseren Vater dazu veranlasst hatte, lieber nicht weiter in die Wälder vorzudringen. Bezeichnenderweise waren wir die Einzigen, die im Zelt campten – alle anderen Camper waren in großen, wolfssicheren Campingwägen untergebracht.

„Aber Wölfe greifen doch keine Menschen auf Campingplätzen in ihrem Zelt an!“ ruft Elie empört. „Wölfe haben dazu viel zu viel Angst vor Menschen!“

Kleinlaut räume ich ein, dass wir das auch gedacht hatten. Wenn allerdings nachts die Wölfe um den Campingplatz schleichen und laut heulen, überlegt man es sich zweimal, ob man – darauf vertrauend, dass der Wolf viel mehr Angst hat als man selbst – das Zelt verlässt, um sich auf das 50m entfernte Plumpsklo zu begeben – oder ob man lieber vor Furcht zitternd weiter im Zelt einhält. Beides sind keine zufriedenstellenden Alternativen. So waren wir lieber nicht am Green Lake geblieben und in etwas großzügiger bevölkerte Landstriche – ohne Wölfe – gefahren.

Anatol will nun noch wissen, was es denn mit dem „Traum vom Grundstück“ auf sich hatte.

„Wolltet Ihr etwa auswandern?“ fragt er erstaunt.

Der Traum vom Grundstück hing mit dem geopolitischen Hintergrund der 80er Jahre zusammen: dem kalten Krieg – und erklärte sich auch aus den persönlichen Kriegserfahrungen meiner Eltern. Auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs baute sich damals das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens auf. Dieses sollte uns vor dem Atomkrieg schützen.

Was den damaligen Strategen als „bombensicher“ erschien, war dem einfachen Bürger indessen suspekt – ist doch ein „Gleichgewicht des Schreckens“ ein nicht gerade vertrauenerweckendes Konzept. Jede Seite des „Gleichgewichts“ hätte die Erde 100fach zerstören können – keine angenehme Aussicht. Manche Menschen richteten sich Atombunker unter dem Keller ein und statteten diese mit tausenden Rollen Toilettenpapier und Brühwürfeln aus. Andere erklärten ihr Haus schlicht zur „atomwaffenfreien Zone“, politisch Aktive gingen auf die Straße und demonstrierten. Meine Eltern sahen es als das Sicherste an, im Notfall die Füße entscheiden zu lassen und einfach „abzuhauen“. Die Frage war: wohin? Dies hatte mein Vater getreu einem alten deutschen Motto so beantwortet: ganz tief hinein in den Wald, wo einen niemand findet. Da der größte Wald in Kanada zu erwarten war, war die Wahl auf dieses Land gefallen. Selbst meine Großmutter hatte den Plan des ansonsten von ihr angehimmelten Sohnes damals als „Phantastereien“ bezeichnet – was uns jedoch von dem Kanada-Projekt nicht abgehalten hatte.

Kopfschüttelnd murmelt Anatol „Wie kann man nur so …“ und verstummt gnädigerweise. Dann lässt er mich fortfahren:

Sonntag, den 21.7.1985
Heute wollen wir zurück an die Küste. Dort ist es immer noch am schönsten. Zum Glück haben wir einen schönen Camping-Platz gefunden.

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Montag, den 22.7.1985
Nach Vancouver! Dort haben wir uns noch Grundstücke angesehen, die aber viel zu teuer waren. Abends haben wir gegrillt und sind dann ins Bett gegangen.

Dienstag, den 23.7.1985
Wir haben heute unseren Campingplatz gewechselt. Jetzt sind wir auf einem Platz direkt am Meer. Susanne hat ein Floß gebaut und ist damit umhergeschippert. Leider ist es wieder kaputtgegangen. Dieser Tag war bisher der schönste.

Wir haben eine Ente gefüttert und eine Ente mit ihren Jungen beobachtet. Ein kleines Entchen ist in eine Muschel getreten. Die Muschel hat sich geschlossen und hat das Füßchen der Ente eingeklemmt. Papa konnte das Entchen fangen und es von der Muschel befreien.

IMG_3873Mittwoch, den 24.7.1985
Heute nachmittag sind wir einkaufen gefahren. Bei der Rückfahrt hätte es beinahe einen Unfall gegeben. Dieses Auto hat nämlich keine Kupplung. Genau an der Stelle der Kupplung sitzt die Bremse. Papa wollte in den Leerlauf schalten und hat versehentlich auf die „Kupplung“ getreten. Da es aber die Bremse war, haben wir bei 60 m/h eine Vollbremsung gemacht. Das Auto hat sich quergestellt und es war ein Glück, dass hinter uns kein Auto war.

Donnerstag, den 25.7.1985
Am Nachmittag haben wir heute sehr nette Leute getroffen, mit denen wir uns lange unterhalten haben. Dabei haben wir alle Sonnenbrand gekriegt. Susanne hat abends angefangen, ein kleines Schiff zu bauen.

IMG_3866Freitag, den 26.7.1985
Wir wollten heute einen Ausflug in den Garibaldi-Park machen und im Garibaldi-See baden. Leider wurde nichts daraus. Wir haben auf einem verkehrten Parkplatz geparkt und sind zwei Stunden lang durch die Wildnis in einer „Hazard-Area“ (Steinschlaggebiet) gewandert. Es ging steil bergauf und war furchtbar anstrengend. Papa hat dann noch in einem Wildwasser gebadet.

Samstag, den 27.7.1985
Heute mittag sind wir an den Strand gegangen. Susanne und ich haben einen tollen Flipper gefunden, mit dem wir um die Klippe geschwommen sind. Bei der Rückkehr kamen wir in eine Strömung, die wir jedoch mit einiger Anstrengung durchschwimmen konnten.

Als wir abends nochmal mit Papa die gleiche Tour machten, war die Strömung ungeheuer stark geworden, da die Ebbe eingesetzt hatte. Sehr lange Zeit paddelten wir immer auf der selben Stelle, ohne auch nur einige Zentimeter vorwärts zu kommen.

Sonntag, den 28.7.1985
In unserer Kasse herrscht seit längerem Ebbe. Wir dürfen jeden Tag 14 Dollar ausgeben. Das reicht meistens nicht. Wie müssen uns auf die einfachsten Grundnahrungsmittel beschränken.
Vormittags war Waschtag: Papa hat Anziehsachen und seine Haare gewaschen.

Montag, den 29.7.1985
Heute war ein sehr ereignisreicher Tag. Wir wollten nach Vancouver fahren, um dort ein antikes Salzfässchen zu suchen …

Hier unterbricht Elie mich. „Gerade vorher hieß es in dem Tagebuch, Ihr hättet kein Geld mehr fürs Essen! Wieso wolltet Ihr dann ein „antikes Salzfässchen“? Das klingt für mich sehr seltsam.“

Was Elie nicht weiss: natürlich gab es noch Geld für das Essen. Es sollte aber nicht für so unnütze Dinge wie Essen ausgegeben werden, sondern für „echte Werte“, also Antiquitäten wie z.B. das Salzfässchen. Um das zu verstehen, muss man bei meinem Vater aufgewachsen sein.

Das ist Elie nicht. Er empört sich: „Wie kann man seine Kinder hungern lassen, aber dann antiken Krempel kaufen!“ Ohne es zu wissen, spricht Elie hiermit aus, was meine Mutter meinem Vater nach den „Abenteuerferien“ an den Kopf geworfen hatte – und wogegen sich mein Vater mit den Worten verwahrt hatte, es habe jeden Tag Nudeln, Reis und Cornflakes gegeben und niemand habe Hunger leiden müssen.

Anatol steht der Mund offen. Er kann es nicht fassen. „So etwas habe ich in meiner immerhin mehrere Jahrhunderte umfassenden Butlertätigkeit noch nie gehört“ kann er nur kopfschüttelnd flüstern.

Ich stelle klar, dass „Hungernlassen“ nicht die ganz korrekte Beschreibung dessen ist, was damals in Kanada stattgefunden hatte. „Ein eingeschränkter Speiseplan unter ersatzloser Streichung des Mittagessens“ kommt der Realität näher.

Konsterniert folgen die Saurier weiter meiner Erzählung:

… um dort nach einem antiken Salzfässchen zu suchen. Mittags waren wir essengehen [Anm. Anatol: Endlich!!]. Was uns dabei in einem chinesischen Restaurant passiert ist, kann man in unserem Originaltagebuch nachlesen [Anm. Susanne: wir haben dort nur Knochen mit Sauce serviert bekommen, es war ein sehr seltsames Restaurant.]

Am Abend fanden wir am Auto wieder ein Knöllchen: So ein Mist!

Dienstag, den 30.7.1985
Heute sind wir nach Vancouver-Island gefahren, wo es sehr schön sein soll. Denkste! Es war furchtbar. Überall standen „Eisenbahnwaggons“ (Wohnungen) und der ganze Wald war abgestorben. [Anm. Susanne: wie wir später erfuhren, war die gesamte Insel kurz vorher einem Waldbrand zum Opfer gefallen; das war der Grund dafür, dass man kilometerweit nur heruntergebrannte Baumstrünke sah.] Wir sind durch die ganze Insel gefahren – es war überall gleich. Schließlich blieben wir auf einem Campingplatz bei Tofino. Das Schönste waren die tollen Wellen am Strand. Abends sind wir um 8 Uhr ins Bett gegangen, weil es draußen so schlimm aussah.

IMG_3867 IMG_3868Mittwoch, den 31.7.1985
Nichts wie weg aus dieser trostlosen Gegend! Wir fuhren schurstracks nach Nanaimo und setzten über nach Horseshoe-Bay. Auf unserem geliebten alten Campingplatz fanden wir einen „Walk-in-Site“.

IMG_3869Donnerstag, den 1.8.1985
In der Nacht hat es geregnet, so dass heute morgen alles vernebelt war. Wir fuhren nach Vancouver, um Antiquitätengeschäfte zu suchen, die wir aber nicht fanden. Man empfahl uns, nach Granville zu fahren, wo wor dann auch zwei Salzfässchen und eine Mokkakanne kauften.

Freitag, den 2.8.1985
Keine besonderen Vorkommnisse zu vermerken.

IMG_3870Samstag, den 3.8.1985
Drei kleine Jungen hatten einen armen Fisch gefangen, den sie begutachteten und ziemlich gemein behandelten. Sie schleppten ihn von einer Stelle zur anderen, wobei meist der Kleinste (von uns „die Puppe“ genannt, weil er so süß aussah) den Fisch trug. Uns tat der Fisch leid. Als die beiden Größeren die Puppe einmal allein gelassen hatten, bewegte sich der Fisch. Die Puppe erschrak sehr und ließ den Fisch fallen. Auf ihren winzigen Beinchen lief sie weg, um Hilfe zu holen. Die Abwesenheit der Puppe nutzten wir, um den Fisch zu holen und zu befreien. Zuerst dachten wir, er sei tot, aber nach kurzer Zeit schwamm er weg. Dann kam die Puppe wieder und wollte ihren größeren Brüdern den Fisch zeigen. Der war aber weg. Als die großen Brüder das sahen, wurden sie fuchsteufelswild. Zum Glück konnte sich die Puppe vor der Wut der Brüder zu den Erwachsenen retten. Weitere Fische wurden in unserem Beisein nicht mehr gefangen!

IMG_3872Montag, den 5.8.1985
Heute waren wir nur am Strand. Von einer Klippe aus konnten wir einen Seehund beobachten!

Dienstag, den 6.8.1985
Wir sind wieder in die Stadt gefahren. Dort fanden wir eine wunderschöne Uhr, eine sogenannte Pendüle. Sie hatte einen Glassturz, der wunderschön war, aber schwierig zu transportieren.Die Nacht war heute sehr unangenehm. Zuerst ist Susanne von einer Hummel gebissen worden, sich in ihrem Schlafsack versteckt hatte. Dann kam ein schreckliches Gewitter. Mir war furchtbar schlecht und ich musste spucken, direkt vor’s Zelt. Papa hat das dann mit Meerwasser weggespült, wobei er selbst ganz naß wurde. Keiner von uns konnte schlafen und wir waren am nächsten Morgen hundemüde.Mittwoch, den 7.8.1985
Ich war heute krank, während Susanne und Papa den größten Teil unserer Sachen eingepackt haben.

IMG_3871Donnerstag, den 8.8.1985
Ich bin  jetzt wieder gesund und wir haben den Rest eingepackt. Um halb 12 sind wir vom Campingplatz abgefahren. Dann waren wir beim Flughafen, bei Fred und jetzt beim Autohändler (Carter), dem wir nämlich das Auto verkaufen wollen. – Wir haben das Auto an Fred verkauft. Fred hat uns einen viel besseren Preis geboten als Carter. Dann sind wir mit Fred durch die Stadt gefahren und haben uns noch einiges angesehen: die Simon-Fraser-Universität, einen Park, Freds Boot, das ganz toll ist, mit allem Komfort.

Freitag, den 9.8.1985
Heute, an unserem letzten Tag hier, haben wir noch Platten gekauft: die Chaconne von Vitali mit Jascha Heifetz, die Violinsonaten von Bach mit Glenn Gould (!) und Jaime Laredo und eine Platte mit Szigeti. Dann sind wir zum letzten Mal Fish and Chips essen gegangen, lecker!
Im Flugzeug bekamen wir leider nur einen Platz in der Sardinenklasse.
In Frankfurt ist der Glassturz kaputtgegangen. Wir waren am Boden zerstört. Am liebsten hätten wir alle geweint. So war unsere Ankunft zu Hause von einem traurigen Ereignis überschattet. Wir haben uns aber entschlossen, einen neuen Glassturz blasen zu lassen.

Hier endet das Kanada-Tagebuch.

Anatol und Elie sehen mich schweigend an. Elie kratzt sich am Kopf, Anatol sucht nach Worten. Schließlich meint er: „Wisst Ihr, dass Ihr in Eurer Familie vollkommen durchgeknallt seid? Schon bis zu einem gewissem Grade liebenswert … – aber unzweifelhaft und definitiv meschugge.“

Ich äußere mich dazu diesmal nicht.

128. Kapitel – Kommunion mit Hindernissen

Ein sonniger, warmer Maimorgen bricht an. Nicht irgendein Morgen – nein: heute, am 10. Mai, ist mein Geburtstag. Auch wenn dieser Tag mich daran erinnert, dass ich älter werde, liebe ich meinen Geburtstag. Oft ist es der erste schöne Tag des Jahres. Selbst wenn es regnet: ich habe gern Geburtstag.

Heute ist aber auch aus anderen Gründen ein wichtiges Datum. Jakob, dem dieser Blog gewidmet ist, feiert heute seine Erstkommunion. Dass wir heute nicht bei ihm sind, macht mich traurig. Die Fahrt bis zu Jakob dauert 8 Stunden. Wer soll in meiner Abwesenheit für die Katzen sorgen – Tonio sein Medikament geben, die Kloppereien zwischen Loup und Riri unterbinden und nächtlichen Streit zwischen Noah und Capucine schlichten…? Anatol hatte trotzdem gestern noch böse mit mir geschimpft – es sei eine Schande, dass ich bei der Erstkommunion meines eigenen Neffen nicht zugegen sei. Eine Rabentante sei ich – mehr sei dazu nicht zu sagen.

Kleinlaut hatte ich mich daraufhin in mein Schlafzimmer verkrochen und vergebens nach einer Möglichkeit gesucht, meine Abwesenheit wieder gut zu machen. Dann war ich traurig eingeschlafen.

Als ich aufwache, klappert es bereits in der Küche. Die Saurier sind leise aufgestanden und bereiten ein Geburtstagsfrühstück vor! Ich bin gerührt.

Eben will ich aufstehen und einen Blick in die Küche werfen – schließlich bin ich neugierig darauf, ob die Butler wohl auch Geschenke für mich haben – da klingelt das Telephon. Dies ist am Sonntag – um nicht einmal 8 Uhr – ungewöhnlich.

Bang hebe ich ab. Die Anruferin ist unsere Nachbarin, Annas Mutter. Sie entschuldigt sich vielmals für die Störung am frühen Morgen und schildert ihr Problem, bei dem sie mich um meine Hilfe bittet … heute sei Annas Erstkommunion, und sie erwarte Besuch von Freunden und Verwandten. Richtig – nun fällt es mir wieder ein: Elie hatte gestern, als wir von Jakobs Kommunion gesprochen hatten, erzählt, dass auch Anna heute ihre erste Kommunion feiern würde.

Eine befreundete Familie komme aus Deutschland, und spreche überhaupt kein Französisch. Der als Dolmetscher vorgesehene Student habe eben abgesagt – er liege mit einer Grippe darnieder. Ob ich wohl so freundlich sein wolle, während des Kommunionsgottesdienstes als Übersetzerin zu fungieren? Selbstverständlich sei auch ich zum nachmittäglichen Kaffee und Kuchen mit der ganzen Familie herzlich eingeladen.

Ohne weiter nachzudenken, sage ich zu. Wie will man eine solche Bitte ablehnen? Annas Eltern haben uns mehr als einmal mit Rat und Tat zur Seite gestanden – nun ist es Zeit, sich zumindest ein wenig erkenntlich zu zeigen.

Um halb 10 soll ich mich also vor der Kirche einfinden und dann während des Kommunionsgottesdienst den deutschen Freunden als Simultandolmetscherin zur Verfügung stehen. Hierbei kann ich die Saurier im Grunde gar nicht gebrauchen –  als ich indessen um kurz nach 9 im Sonntagsgewand aus dem Haus schleichen will, krakeelt es laut „Wir kommen mit!“

Ich stöhne. Anna muss Elie per SMS über die bevorstehende Dolmetscheraktion unterrichtet haben; nun sind die beiden Butler nicht mehr zu Hause zu halten. Entnervt stecke ich die beiden Untiere in meine Handtasche, nicht ohne den augenblicklichen Rausschmiß in Aussicht gestellt haben, sollte man während des Gottesdienstes randalieren oder anderweitig stören. Dann begebe ich mich zur Kirche.

Den beiden älteren Herrschaften, die gar kein Französisch sprechen – Heidrun und Friedhelm aus Buxtehude – ist es überflüssigerweise sichtlich peinlich, dass sie meine Dienste in Anspruch nehmen müssen. Zum Glück lenkt uns Anna hier ab: im wunderschönen weissen Kleidchen sieht sie aus wie eine Prinzessin und erklärt den beiden alten Leuten, wo sie sich hinsetzen müssen, um möglichst viel von der Zeremonie sehen zu können. Danach läuft sie zur Gruppe der anderen Erstkommunikanten, winkt uns noch einmal zu – und ist in der Kirche verschwunden.

Kurze Zeit später sitzen wir im Seitenschiff und haben dort tatsächlich einen schönen Blick auf den Altarraum. Langsam füllt sich die Kirche – um 10 Uhr wird der Kommunionsgottesdienst beginnen.

Da – lautes Fluchen ertönt aus meiner Handtasche. Ich zucke zusammen – und versetze der Tasche einen Schlag. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für derlei Respektlosigkeiten! In der Tasche rumort es weiter, ich zische den Sauriern daher eine böse Ermahnung zu. Nun habe augenblicklich Ruhe einzukehren!

„Anatol hat die Kochplatte nicht ausgemacht!“ flüstert Elie. Ich erstarre. Heiser fügt Anatol hinzu „Und ich glaube, auf der Platte steht auch das Plastiktablett noch drauf …“

Panik bemächtigt sich meiner. Während wir hier bei Annas Erstkommunion sitzen, brennt möglicherweise gerade unsere Wohnung ab … blitzschnell fälle ich eine Entscheidung. Ich fische Elie aus der Tasche und drücke ihn Heidrun in die Hand. „Das ist Elie, er ist ebenfalls Übersetzer. Er wird Ihnen alles perfekt auf Deutsch erklären. Ja, er ist ein Stoffdinosaurier, aber als Dolmetscher dennoch recht gut brauchbar. Bei mir brennt es gerade. Ich komme wieder, sobald alles gelöscht ist!“

Hiermit springe ich auf und haste aus der Kirche. Anatol nehme ich mit, um ihn notfalls als Boten einzusetzen, denn per Handy kann ich während des Gottesdienstes nicht mit Heidrun und Friedhelm kommunizieren.

5 Minuten später erreichen wir keuchend unsere Wohnung. Ein beissender Geruch empfängt uns – die Wohnung ist voller Rauch. Die Katzen sitzen verdrossen auf dem Balkon – zum Glück völlig unverletzt.

Der einzige Schaden, der bisher eingetreten ist, ist ein bis zur Unkenntlichkeit verschmortes Tablett. Ich reisse das Stromkabel der Kochplatten aus der Steckdose, entferne die verkokelten Plastikreste notdürftig und öffne alle Fenster zum Durchlüften.

In der Erkenntnis, dass wir hier mehr Glück als Verstand gehabt haben, überprüfe ich alle weiteren Stromkabel und schalte danach im Sicherungskasten die gesamte Stromzufuhr – bis auf die für den Kühlschrank – ab.

Danach setze ich mich – nervlich am Ende – auf den Küchenhocker. Ist wirklich nirgends mehr ein Brandherd? Voller Angst überprüfe ich alles ein weiteres Mal, dann bin ich mir relativ sicher, dass keine Gefahr mehr droht.

Siedendheiss fallen mit Heidrun, Friedhelm und der Gottesdienst ein. Im Schweinsgalopp – anders ist es nicht zu bezeichnen – hetze ich zur Kirche zurück. Das Sonntagskleid ist für derlei Aktionen nicht gemacht. Rußspuren zieren das Oberteil, und ein deutlicher Qualmgeruch ist ebenfalls nicht zu überriechen… Ich habe die vage Hoffnung, dass zumindest mein Rauchgeruch vom Weihrauch in der Kirche überdeckt werden möge. Die Rußflecken versuche ich mit meinem foulard zu kaschieren, was zum Glück teilweise gelingt.

Zurück an der Kirche stellen wir indessen ein größeres Problem fest als es der Rauchgeruch meiner Kleider darstellt: Die Kirchentür ist zu und lässt sich nicht mehr öffnen.

Verzweifelt rüttle ich an der Klinke – die Tür bleibt verschlossen. Ist es möglich, dass man sie von innen abgeschlossen hat, um Störungen vorzubeugen? Ich kann mir dies eigentlich nicht vorstellen. Wahrscheinlicher ist es, dass die schwere Tür klemmt.

Was auch immer der Grund sein mag – wir verzichten darauf, dem weiter nachzugehen und laufen, den Angstschweiss auf der Stirn, um die Kirche herum. Der Eingang zum Seitenschiff lässt sich ebenfalls nicht öffnen; Anatol erklärt mir jedoch, dass dieser sowieso immer verschlossen sei. Da – etwas weiter sehe ich einen dritten Eingang, deutlich kleiner als die beiden großen Kirchentüren.

„Da geht´s zur Sakristei“ erklärt Anatol. Ich drücke die Klinke herunter – und sende ein Stoßgebet zum Himmel: die Tür öffnet sich – Anatol und ich sind in der Sakristei. Hier muss es einen Zugang zum Kirchenschiff geben! Ob wir diesen wohl unbemerkt nutzen können …?

Hinter uns klappt die Tür zu: wir stehen im Dunklen. Wo ist nur der Lichtschalter? Vorsichtig tappe ich zurück zur Tür, finde dort aber keinen Schalter.

Anatol ist aus meiner Handtasche gesprungen und raunt mir zu „Hier muss es irgendwo Kerzen geben!“ Nun stoße ich einen Wutschrei aus: „DU hast für heute genug gezündelt! Auf keinen Fall rührst Du heute nochmal Streichhölzer oder elektrische Geräte an!“

Ich versuche, das Untier zu packen und zurück in meine Tasche zu befördern, wo es hoffentlich kein weiteres Unheil anrichten kann, stolpere aber in der Dunkelheit über einen vor mir liegenden Gegenstand. Der Länge nach falle ich hin, werde allerdings in meinem Fall durch ein offenbar im Weg stehendes Regal zunächst gebremst – dann kracht das ganze Regal mit ohrenbetäubendem Lärm zu Boden.

In diesem Moment setzt donnernd die Orgel ein.

Vorsichtig rapple ich mich hoch. „Anatol!“ flüstere ich. „Anatol, ist alles ok mit Dir?“

„Ich bin unter irgendetwas Schwerem drunter!“ wimmert der Saurier. Ich versuche, in der Dunkelheit einen Weg zu meinem Butler zu finden, und fühle schließlich eine seiner Tatzen. Der Saurier ist unter mehreren Kartons Hostien begraben.

Glücklicherweise ist er ansonsten unverletzt. Ich räume die Kartons zur Seite und befreie den Butler. Dann versuche ich, mich an der Wand hochzuziehen … ich ertaste ein Stromkabel! Dieses verfolge ich – und finde endlich den Lichtschalter.

Nun offenbart sich das Ausmaß der von uns angerichteten Katastrophe. In der Dunkelheit war ich über eine winzige Trittleiter gestolpert und hatte dann das Regal mit den liturgischen Geräten, Büchern, Gewändern sowie den Hostien und Kelchen umgerissen. Vom Orgeleinsatz übertönt war der Lärm des umfallenden Regals in der Kirche glücklicherweise unbemerkt geblieben.

Es gelingt mir, das Regal wieder aufzustellen. Dann räume ich so ordentlich wie nur möglich alle Gegenstände wieder ein. Am liebsten wäre ich vor Scham in den Boden versunken. Es hilft indessen nichts: wir müssen den angerichteten Schaden ausbügeln. Bald ist alles wieder am Platz – eine Flasche Messwein ist jedoch am Boden zerschellt. Notdürftig wische ich den Fleck auf und sammle die Scherben ein – und stelle fest, dass Anatol und ich voller Rotweinspritzer sind.

Ich möchte nun nur noch von der Erdoberfläche verschwinden. Nachdem wir aufgewischt und das Chaos beseitigt haben, ist mein erster Impuls, nach Hause zu laufen und mich dort unter der Bettdecke zu verstecken.

Nun öffnet sich allerdings die zur Kirche führende Tür und Herr Langenbruch, der Diakon, betrifft den Raum. Anatol und ich erstarren.

„Frau C.! Was machen Sie denn hier? Ich hatte mir gedacht, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht, als ich die seltsamen Geräusche aus der Sakristei hörte. Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde, würde ich sagen, der Leibhaftige ist geradewegs aus der Hölle aufgestiegen und steht nun vor mir!“ Seufzend zeigt er auf Anatol: „Und Ihren Basilisken haben Sie auch noch dabei. Tsssss …“ Kopfschüttelnd setzt sich der Diakon auf die kleine Trittleiter.

Ich sehe an Anatol und mir herunter. Ruß, Rotweinflecken, dazu ein nicht zu verbergender Qualmduft – wir sehen furchtbar aus. Tränen schießen mir in die Augen. Schluchzend erkläre ich Herrn Langenbruch die Sachlage.

Dieser hat glücklicherweise die Lösung für die Misere. „Sie laufen jetzt nach Hause und ziehen sich etwas Neues an. Den Basilisken verstecken Sie bitte in Ihrer Tasche. Ja, ich weiss, das er gutartig ist. Ich räume nun die Sakristei auf – außer einer Flasche ungeweihten Messweins ist ja nichts kaputtgegangen. In einer Viertelstunde erwarte ich Sie am Haupteingang und öffne die Tür. Sie klemmt wirklich schrecklich. Aber Sie wissen ja – unsere Mittel …“

Heimlich nehme ich mir vor, nachher eine großzügige Spende im Klingelbeutel zu lassen. Ich drücke dem guten Diakon die Hand und renne nach Hause – zum wiederholten Mal.

Kurze Zeit später stehe ich – nun präsentabel – am Eingang der Kirche. Herr Langenbruch zwinkert mir zu. „Das Wichtigste bekommen Sie sogar noch mit! Die Kleinen gehen gerade zu ihrer ersten Kommunion.“

In der Tat sehe ich Anna mit ihren Freunden durch den Mittelgang zum Altar gehen. Leise schleiche ich mich ins Seitenschiff zu Heidrun und Friedhelm, die andächtig Elies Übersetzungskünsten lauschen.

Hier wohnen wir gerührt der Kommunion von Anna und ihren Freunden bei. Ohne die Hilfe des lieben Diakons wäre dies wohl nicht möglich gewesen.

Am Ausgang stecke ich verstohlen einen großen Schein in den Klingelbeutel, an dem ich eine kleine Notiz angebracht habe: „Für eine nicht mehr klemmende Kirchentür!“

Der Rest des Tages verläuft wunderbar ereignislos – bei einem himmlischen Nachmittagskaffee im Garten. Übersetzen muss ich nichts mehr: Heidrun und Friedhelm bestehen darauf, dass Elie weiter dolmetscht. „Er übersetzt das alles so charmant – wir sind begeistert!“ Wenn das so weitergeht, werden die Saurier mich bald ganz überflüssig machen.

Anatol, Elie und ich wünschen Jakob alles Liebe zur Erstkommunion!

127. Kapitel – Back to blue Victoria

Das ersehnte lange Wochenende ist endlich da. Heute kann ich schon um 13 Uhr von der Arbeit nach Hause gehen – und am Nachmittag habe ich frei.

Die Sonne scheint, es ist warm – meine Laune könnte besser gar nicht sein. Heimlich nehme ich mir vor, nach Erledigung aller meiner heute noch anstehenden Termine bei Amorino ein Eis zu essen.

Mit dieser schönen Aussicht im Sinn komme ich zu Hause an. Elie ist nicht da – er macht heute seine Hausaufgaben bei Anna und bleibt dann den ganzen Nachmittag dort. Seit Angelo in Amerika sein „Auslandssemester“ absolviert, ist Elie wieder viel häufiger bei Anna. Anatol und ich beobachten die komplizierte Freundschaft, mischen uns aber nicht ein.

Anatol stellt fest, dass ich auf keinen Fall heute allein in die Stadt gehen kann. Er habe auch Dinge zu erledigen, werde mich also im Rucksack begleiten.

Ich seufze. Mein erster Termin heute Nachmittag ist beim Hautarzt; hier wünsche ich keine neunmalklugen Einmischungen des Sauriers, der dem Arzt erklärt, welche Behandlung er an mir durchführen soll und welche nicht. Ich ermahne den Butler daher auf das Schärfste, sich während meines Arzttermins entweder ruhig zu verhalten oder am besten gleich draußen zu bleiben.

Anatol brummelt etwas, das sowohl Zustimmung als auch Widerspruch bedeuten kann. Ich nehme mir also vor – um jedes Risiko auszuschließen – den Saurier vor der Arztpraxis aus meiner Handtasche zu werfen und ihn nach dem Termin wieder einzusammeln. Einen Eklat beim Arzt mag ich mir nicht vorstellen.

Um 15 Uhr 30 fahren wir mit dem Fahrrad los – Anatol halb im Rucksack, halb auf meiner Schulter sitzend, immer die Nase im Wind.

Mein Termin ist erst um 16 Uhr 30. Wir müssen zwar die ganze Stadt durchqueren, da wir aber noch viel Zeit haben, fahre ich ganz gemütlich an den Quais entlang, bevor wir an einen großen Platz kommen. Unzählige Radfahrer aus allen Richtungen treffen hier aufeinander – zum Glück gibt es gleich mehrere Radwege.

Als wir an einer gut besuchten Café-Terrasse vorbeiradeln, fällt mein Blick auf ein am Straßenrad stehendes, blaues Fahrrad. Traurig denke ich „So sah unser schönes altes Victoria-Fahrrad aus. Es hatte genau diese strahlend blaue Azurfarbe…“.

Melancholisch sehe ich das Rad im Vorbeifahren genauer an – und mich durchfährt ein Schock. Das IST unser altes Victoria-Fahrrad! Zumindest sieht es genau so aus!

Ich bremse – und im selben Moment beginnt der Saurier hinten im Rucksack an, Kobolz zu schießen. Mit seinen scharfen Stegosaurier-Augen hat der das Fahrrad ebenfalls erblickt, und zischt mir zu „Halt an!! Stopp! Da ist unser Rad!“

Augenblicklich kommen wir zum Stehen. Ich sehe das Fahrrad nun aus der Nähe und mir ist sofort klar, dass hier kein Irrtum vorliegt. Es handelt sich um unser altes Victoria-Fahrrad aus den 70er Jahren, das im letzten Sommer gestohlen worden war.

Traurig, verschmutzt und offensichtlich auch beschädigt steht es da – mit einem abscheulichen Bügelschloß an einen Pfosten fest angekettet.

Ohne nachzudenken nehme ich schnurstracks unser Granit-Faltschloss und sichere unser altes Rad damit.

Dann wähle ich mit zitternden Händen die Notrufnummer auf meinem Handy, während ich mich unauffällig vom „Tatort“ entferne.

Ein freundlicher Polizist antwortet mir. „Bitte nennen Sie die Art des polizeilichen Notfalls,“ fordert er mich auf. Aufgeregt ringe ich nach Luft – und um Worte. Dann sprudelt es aus mir heraus: das im letzten Sommer gestohlene Fahrrad, meine polizeiliche Anzeige, deren Abschrift ich sogar dabei habe – das wiedergefundene Rad – und schließlich mein Hilferuf: ich brauche dringend polizeiliche Unterstützung!

Der Freund und Helfer am anderen Ende der Leitung sichert mir sofortigen Beistand zu. Ich muss ihm eine Beschreibung meiner Person geben – Jeans, blauer Kapuzenpulli, rosa Rucksack mit grünem, nervösem Saurier (letzteres sage ich natürlich nicht) – damit die Kollegen mich finden. Seine weitere Anweisung: ich solle mich unauffällig verhalten und von einem etwas entfernteren Standpunkt, nämlich der Straßenseite gegenüber, den Tatort weiter beobachten.

Dies befolgen Anatol und ich. Vor Aufregung bebend setzen wir uns auf ein Holzbänkchen und versuchen, uns zu beruhigen. Das gelingt indessen nicht.

„Anatol, das Rad war doch graviert! Wir hatten extra diesen Code bei Bicycode einstanzen lassen, der auch in unserem Fahrradpass steht! Nun habe ich eben beim Anschließen den Code aber nicht mehr gesehen!“

Panik bemächtigt sich meiner. Habe ich mich geirrt? Ist es doch nicht unser Rad?

Anatol stammelt, er habe die Gravur auch nicht gesehen! Aber es sei 100% unser Rad. Die kleinen blauen Lack-Flecken, mit denen wir die Roststellen zu verdecken versucht hatten, die alte Sachs-Gangschaltung, der immer an der gleichen Stelle ausgefranste Bremszug – hier sei keine Verwechslung möglich. Ob man die Gravur hatte entfernen können?

Anatol schluchzt laut auf – wie sollen wir ohne die Gravur zweifelsfrei beweisen, dass es wirklich unser Fahrrad ist?

Vier junge und sehr kräftige Männer – man könnte sie auch als „Gorillas“ bezeichnen – kommen plötzlich direkt auf uns zu. Das Herz rutscht mir tief in die Hosen. Ist das die Fahrrad-Diebesbande? Haben sie mich beobachtet und kommen nun, um mich zu zwingen, das Rad wieder aufzuschließen?

Einer der jungen Männer streckt den Arm aus und gibt mir die Hand. Er stellt sich als Kriminalkommissar vor. Seine drei Kollegen nicken mir freundlich zu. Wir brauchen keine Angst zu haben – sie sind von der Kriminalpolizei.

Schnell schildere ich die Lage, weise meine polizeiliche Anzeige des Diebstahls vor und zeige den Polizisten das Corpus delicti aus sicherer Entfernung.

Die Kripobeamten erklären mir in knappen Worten das weitere Vorgehen. Sie würden nun versuchen, den Fahrraddieb – oder Käufer des Diebesgutes – zu überführen. Dazu würden sie den ganzen Nachmittag bei dem fest angeschlossenen Fahrrad bleiben – in der Hoffnung, dass der Dieb kommen und es aufzuschließen versuchen werde. Der Fahrraddiebstahl habe mittlerweile Ausmaße organisiserter Kriminalität angenommen und man setze daher alles daran, die Vergehen aufzuklären – um den Diebes- und Hehlerbanden das Handwerk zu legen.

Bang frage ich, ob mein Fahrrad hierbei keiner weiteren Gefahr ausgesetzt sei. Die Polizisten verneinen dies. Ich solle beruhigt zu meinem Termin fahren und danach wieder hier zum Treffpunkt kommen. Dann werde man sich auch über die Rückgabe des Rads an mich verständigen.

Da im Rucksack stark randaliert wird, versetze ich selbigem einen leichten Schlag. Irritiert sehen die Polizisten mich an. „Führen Sie ein Tier mit?“ fragt der Kommissar. Ich verneine dies unsicher und entferne mich schnellstens – nicht ohne versprochen zu haben, so bald wie möglich wiederzukommen. Dann werfe ich einen letzten Blick auf das blaue Fahrrad …

Bevor ich losradle, höre ich den Kommissar sagen „Leute, das ist die beste Überwachung, die ich seit Jahren hatte. Kommt, wir setzen uns da auf die Caféterrasse und warten. Ich nehme eine Cola.“

50 Meter weiter öffne ich den Rucksack und schnauze das grüne Untier an. „Bist Du verrückt, so einen Lärm zu machen! Wenn wir unser Rad wiederhaben wollen, hast Du Dich ab jetzt ruhig zu verhalten!“

Kleinlaut verspricht Anatol, dass man von ihm nun nichts mehr hören werde. Er wolle ja nur sein Rad! Das geht mir genauso…

Beim Arzt warten wir bis fast 18 Uhr auf meinen Termin. Wie auf heissen Kohlen sitze ich im Wartezimmer.

Um 18 Uhr 30 treffen Anatol und ich wieder am Tatort ein. Das Fahrrad steht weiterhin am Platz, die Kripobeamten sind bei ihrer 5. Limonade. Im Dienst wird selbstverständlich kein Alkohol getrunken.

Leider hat sich niemand dem Fahrrad genähert. Die Überwachung soll daher noch etwa anderthalb Stunden laufen. Danach würde man sich bei mir melden. Ich solle nun nach Hause fahren und auf weitere Weisung warten.

Enttäuscht entferne ich mich. Was soll ich tun? Entgegen dem Rat des Polizisten fahre ich nicht nach Hause, sondern begebe mich zu Amorino, wo ich für Anatol und mich ein veganes Eis kaufe.

Dann beratschlagen wir.

Ich bin dafür, so lange in unmittelbarer Nähe des Rades zu bleiben, bis die Polizei das Schloß des Diebes aufsägt und wir das Rad entweder mitnehmen können oder aber es in polizeilichen Gewahrsam genommen wird. Anatol teilt diese Meinung. Wir fahren nicht nach Hause, bevor das Rad nicht in Sicherheit ist!

Um kurz vor 20 Uhr finden wir uns erneut am Tatort ein. Der Kommissar ist nicht mehr zugegen, auch die anderen Polizisten sind weg. Das Rad steht indessen am Platz: weiterhin durch mein Schloß gesichert.

Wieder setzen wir uns auf das Holzbänkchen und warten. Wir werden unser Fahrrad nicht mehr aus den Augen lassen, bis es in Sicherheit ist – wie lange auch immer das dauern wird.

Etwa eine Viertelstunde später schrillt mein Handy. Der Kommissar ist am anderen Ende der Leitung. Er habe die Angelegenheit mit seiner polizeilichen Hierarchie geklärt und könne mir nun verbindliche Anweisung zum weiteren Vorgehen erteilen. Die Gravur des Rades sei zwar durch Einwirkung des Diebes auf den ersten Blick entfernt worden – bei genauer Betrachtung habe man die Ziffern jedoch ablesen und mit meinem Fahrradpass abgleichen können. So sei ohne jeden Zweifel bewiesen, dass es sich hier um mein altes, gestohlenes Fahrrad handele. Das Aufbrechen des Schlosses des Diebes sei indessen nicht Aufgabe der Polizei – dies müsse ich selber vornehmen, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Schlossers. Sobald ich das Rad an mich genommen habe, solle ich mich kurzfristig – mitsamt dem Rad – auf der Wache vorstellen, wo man mir die weiteren Schritte erklären werde. Hierauf verabschiedet sich der Kommissar und lässt mich mit dem Problem allein, mein Fahrrad „loszueisen“.

Was ist zu tun? Wie knacke ich – um 20 Uhr 15 mitten in Stadt – ein Fahrradschloß – ohne jegliche schriftliche Berechtigung dazu …? Unschlüssig kratze ich mich am Kopf.

Anatol zetert aus vollem Halse los: „Nun ruf schon Deinen Schlosser an! Der soll kommen und das Schloss aufsägen! So hat es doch der Kommissar gesagt!“

Ich wähle die Nummer des Schlossers. Keine Antwort. Ich hinterlasse eine Nachricht. Dann suche ich – meinem Smartphone sei dank – im Internet nach Schlossern, die 24h/24 intervenieren…

Nach dem ersten Anruf bei einem Schlüssel-Notdienst wird mir klar, warum die Polizei dies nicht durchführen will: der Einsatz soll 169 Euro kosten. Ich lehne dankend ab.

Nach mehreren Anrufen ohne Erfolg treffe ich auf den Schlüsseldienst der Grand Rue. Dieser sagt zu, für 65 Euro mein Fahrrad freizusägen – und zwar in einer Viertelstunde. Dieses Angebot nehme ich ohne zu zögern an.

Eine halbe Stunde später liegt das Schloss des Übeltäters aufgesägt auf der Straße und ich halte mein gutes altes blaues Victoria-Fahrrad in Händen. IMG_3656

Nun fällt mir auf, dass sich das Hinterrad nicht dreht. Dies macht den Transport nach Hause (auf dem neuen Fahrrad fahrend, das alte nebendran mit der anderen Hand lenkend) überaus schwierig, da ich das alte Rad quasi neben mir herschleifen muss.

Nach 500 Metern ist der Hinterreifen durch das Gezerre über den Asphalt durchgewetzt und platt. Mein rechter Arm, der das Fahrrad neben uns herschiebt, fällt fast schon ab … und wir haben noch etwa 3 Kilometer vor uns.

Trotz aller Widrigkeiten schaffen wir es bis nach Hause.

Dort klingele ich die Nachbarn heraus, die damals – unwillentlich – das Abhandenkommen des Rades verursacht hatten. Sie wollen uns sogar die Kosten für den Schlosser ersetzen!

Ich bin sehr gerührt.

Kurze Zeit später fallen wir vollkommen erschöpft ins Bett und wachen erst um 8 Uhr des nächsten Morgens wieder auf.

Anatols erste Handlung besteht darin, das schöne alte Rad von dem hässlichen Sattel zu befreien, den der Dieb ihm aufgesetzt hatte. Danach wird das Rad mit Motorradshampoo eingehend gewaschen. Leider fallen uns hier diverse Beschädigungen auf – wir hoffen, dass unser trefflicher Fahrrad-Reparateur dies alles wird beheben können.

116. Kapitel – Paint it, black

No more will my green sea go turn a deeper blue
I could not foresee this thing happening to you

Es ist Mittag – gleich werden die Butler aus der Schule kommen. Der Tisch ist gedeckt, das Essen vorbereitet: heute soll es Pfannkuchen mit Salat geben. Die zu erwartende Unterbrechung passt mir indessen gar nicht: ausgerechnet jetzt habe ich eine kreative Phase und komme mit meiner Novelle gut voran.

Die Tür geht auf – aber anstelle von zwei fröhlich schwatzenden Sauriern betritt nur ein kleines grünes Wesen die Wohnung. Es lässt den Kopf hängen und wirkt um mehrere Zentimeter geschrumpft. Eine schwarze Wolke scheint es zu umgeben.

Es ist Anatol.

Stumm stellt er seinen Schulranzen in die Ecke und verkriecht sich in sein Nest. Auf meine Ansprache reagiert er zunächst mit einem leisen Weinen, dann sagt er mit erstickter Stimme: „Ich geh da nicht mehr hin – nie, nie wieder!“

Noch bevor ich Genaueres aus Anatol herausfragen kann, kommt Elie herein. Er sieht ebenfalls sehr bedrückt aus.

Was ist passiert?

„ER hat mich fertig gemacht. Vor der ganzen Klasse!“ schluchzt Anatol. Um seine Fassung ist es nun geschehen. „Das Schlimmste ist, dass wir morgen unser Projekt beim Schuldirektor vorstellen müssen – aber ER hat allen schon jetzt gesagt, dass es nicht funktionieren wird, dass meine Idee doof ist und dass ich mir wieder einmal nur Mist ausgedacht habe! Und dass ich sowieso blöd und nervig bin.“

„ER“ ist Angelo – der Widersacher, die Nemesis meiner beiden Saurier. Der Überflieger, dem alles gelingt, der Elie die heimliche Geliebte – Anna – ausgespannt hat und der mit einem Fingerzeig darüber entscheiden kann, wer ab sofort geschnitten und wer in die von allen bewunderte Clique um den Crack aufgenommen wird. Dass Anatol nicht zu letzterer zählt, versteht sich von selbst.

Zunächst in Elies Klasse eingeschult hat Angelo gleich drei Jahrgänge übersprungen und geht nun in Anatols Klasse – wo er nicht nur Klassenbester ist, sondern auch oft den Lehrer vertritt, wenn dieser abwesend ist.

Ich hatte derlei Erzählungen bisher als „Sauriergarn“ abgetan. Anatols desolater Zustand bringt mich jedoch zu der Überzeugung, dass an den Geschichten etwas Wahres sein muss: Anatol geht gern zur Schule, und dass er nun „nie wieder dort hin“ will, ist bedenklich.

In den letzten Monaten hatte ich allerdings seltsame Veränderungen in Anatols Verhalten bemerkt: er sitzt nun bis tief in die Nacht an seinen Hausaufgaben, überprüft alle Arbeiten mehrfach, bevor er sie abgibt und lernt geradezu verbissen alle Fächer nach, in denen er nicht perfekt ist. Ich hatte das auf einen fehlgeleiteten Ehrgeiz geschoben, von dem ich gehofft hatte, dass er sich von allein geben würde. Nun sieht es jedoch so aus, als ob die Arbeitswut der puren Verzweiflung entspringt.

Ich versuche mich dem Problem zu nähern, indem ich zunächst ganz neutral nach dem „Projekt“ frage, um das es augenscheinlich geht. Was hat es mit diesem Vorhaben auf sich?

Das „Projekt“ ist eine von Elie, Anatol, Mirko und Levone erdachte Hausaufgaben-Hilfsorganisation, die darin besteht, dass die die Schüler einander bei den Hausaufgaben helfen. Dies ist keine revolutionäre Idee – derlei Aktionen gibt es ja zu Hauf.

Das Besondere bei der von den kleinen Sauriern ins Leben gerufenen Organisation ist ein Rotationsprinzip: jede Schülerin und jeder Schüler soll das von den anderen Erlernte an den nächsten Schüler weitergeben – so daß auch die schwächeren Schüler einmal in die Rolle des Nachhilfelehrers schlüpfen. Damit das keine Katastrophen zur Folge hat, darf jeder kleine Nachhilfelehrer (soweit er dies wünscht) den eigenen Nachhilfelehrer zur Sicherheit in die von ihm bestrittene Stunde mitnehmen, muss diese aber allein vorbereiten und auch allein abhalten. Nur im Notfall soll der Nachhilfesaurier eingreifen.

Anatol, Elie und ihre Freunde glauben, dass man etwas, das man anderen erklärt, viel besser selbst versteht, als wenn man es nur passiv lernt. Ich finde die Idee großartig, bin mir aber ob ihrer Umsetzbarkeit nicht wirklich sicher.

„Herr Hildebrandt, unser Physiklehrer, mag das Projekt auch!“ sagt Elie. „Er hat uns sogar angeboten, dabei mitzumachen. Aber wir wollten es ja ganz allein organisieren, ohne Lehrer. Nun können wir die Sache wohl in die Tonne verabschieden. Angelo hat es zunichte gemacht. Es will niemand mehr etwas davon wissen.“

Anatol schluchzt laut auf. „Es war meine Idee. Und das ist auch der einzige Grund, aus dem Angelo das Projekt nicht mag!“

Hier werde ich hellhörig. Wie kann es sein, dass ein Schüler ein Projekt zerstört, nur weil es von einem bestimmten anderen Schüler ausgedacht wurde? Ich bin vermutlich zu naiv – aber ich kann es mir kaum vorstellen.

„Angelo kann mich nicht leiden. Seit ich damals das Referat gehalten habe und die Eins in Physik bekommen habe, tut er alles, um mich lächerlich zu machen. Dass Elie ihm Entengrütze ans Fenster geschmissen hat, hat auch nicht wirklich geholfen. Und nun erzählt er überall, wie dumm ich angeblich sei. Wenn ich in der Mathestunde eine Frage stelle, verdreht er die Augen! Als ich gestern in Französisch etwas nicht ganz richtig ausgesprochen habe, hat er laut gestöhnt und „schon wieder“ gesagt … andauernd ist etwas, mit dem er mich bloßstellt! Aber wer in seiner Clique ist, der kann die größten Fehler machen – das macht nichts. Mirko und Edouard stehen auch auf seiner Abschußliste. Mirko hat letzte Woche gesagt, er würde am liebsten sterben. Er hat außer Edouard und mir gar keine Freunde mehr.“

Ich bin fassungslos. Was Anatol beschreibt, ist Mobbing! Warum reagieren die Lehrer nicht, wenn kleine Schüler so drangsaliert werden, dass sie nicht mehr leben wollen? Wutentbrannt kündige ich an, noch heute den Direktor des Gymnasiums anzurufen, die Untaten des Scheusals, das unseligerweise in die selbe Klasse wie Anatol geht, zu melden und Sanktionen zu fordern!

Lautes Protestgeschrei der Saurier ist die Folge. „Auf keinen Fall rufst Du den Direktor an!“ schreit Anatol. „Dann bin ich ein Verräter und brauche nie wieder in der Schule aufzutauchen!“

„Aber das willst Du ja schon jetzt nicht mehr, Anatol“ gebe ich leise zu bedenken.

„Der Direktor ist der Angelos größter Fan“, sagt Elie. „Mit dem brauchst Du nicht zu sprechen. Angelo ist Preisträger von Dinojugend forscht, er hat bei Dinojugend musiziert schon etliche Preise bekommen, heisst es. Der Direktor würde nie etwas gegen Angelo unternehmen – schon damit er auf unserer Schule bleibt. Nein, wir haben das alles schon mit Mirko und Edouard durchdacht. Wenn, dann müssen wir Angelo mit seinen eigenen Waffen schlagen. Leider wissen wir noch nicht, wie. Angelo sagt uns ja auch immer, wie dumm und unfähig wir sind. Daran muss es liegen.“ Elie lässt den Kopf hängen. „Ich weiss nicht, was Anna an ihm findet“ fügt er hinzu. „Vielleicht hat sie Angst, zu den Ausgestoßenen zu gehören, wenn sie sich von ihm trennt? Ich kann überhaupt nicht mehr mit ihr sprechen – jedenfalls nicht allein.“

Vorerst bleibt festzuhalten, dass wir für das Problem keine Lösung haben.

Ich stelle die Pfanne aufs Feuer und beginne, unsere Flinsen zu braten. Dann sage ich zu Anatol: „Ich werde nicht weiter zulassen, dass dieser Angelo Dich und die anderen so schikaniert. Wir werden uns eine Strategie ausdenken. Aber nun wird Mittag gegessen. Danach sehen wir weiter.“

… Fortsetzung folgt

106. Kapitel – Anatol backt Springerle

Der kritischste Tag des Jahres ist angebrochen – der erste Weihnachtsfeiertag. Heute backt Anatol. Nachdem er den Rotkohl aufgesetzt hat, holt er die Backutensilien aus dem Küchenschrank und kündigt an, was wir sowieso bereits wissen – und fürchten:

„Ich backe jetzt die Springerle!“

Wir wissen nicht, woran es liegt – ist doch Anatol ansonsten ein Meisterkoch: die Springerle misslingen Anatol beharrlich. Jahr für Jahr macht er sich aufs Neue ans Springerlebacken – und jahraus jahrein muss er neue Fehlschläge einstecken. Das eine Mal bleiben die Springerle im Model kleben, das andere Mal zerbröckeln sie. In einem Jahr sind die Springerle wie aus Stahlbeton, dann wieder matschiger Krümelkram. Anatol sieht das Springerlefiasko mittlerweile als persönliche Heimsuchung – und Herausforderung – an.

„Was habe ich den Springerle nur getan“ seufzt Anatol jedes Jahr, wenn sein obligatorischer Wutausbruch vorbei ist. Elie und ich passen den Moment, in dem Anatols Wut sich springerlebedingt in der Küche entlädt, ab, um gerade dann „kurz weg“ zu sein. Hernach bauen wir den Butler mit Lob und einer Tasse Tee wieder auf. Dies wird indes jedes Jahr schwieriger.

Dieses Jahr wird – wie üblich – ein neues Rezept ausprobiert. Während Anatol in der Küche werkelt, nimmt Elie mich beiseite.

„Was tun wir, wenn seine Aniskekse wieder mal Mist sind …?“ flüstert er mir ängstlich zu. „Ich kann doch dieses Jahr nicht zu Anna rüber. Du weiss schon – Angelo ist da.“ Ich kratze mich ratlos am Kopf. „Ich weiss es nicht, Elie. Ich befürchte jedoch Schlimmstes. Vorhin habe ich mir das Rezept angesehen. Ich denke, das kann nicht gutgehen.“

IMG_3370Anatol hatte sich eine ganz neue Art, die Springerle zuzubereiten, ausgedacht. Händereibend hatte er in der Küche gestanden und gemeint „Diesmal muss es klappen!“

Veganer Ei-Ersatz, Puderzucker und Hirschhornsalz waren bald mit dem Mehl verknetet. Ich hatte darauf bestanden, dass diesmal ein richtiger Ei-Ersatz angeschafft wird, aber Anatol hatte das abgelehnt. „Das geht auch mit Mondamin!“ hatte er gesagt.

IMG_3371Ich bezweifle dies. Unser Mondamin – ein Geschenk einer sparsamen Freundin, die nichts wegwerfen kann – war bereits im Jahre 2008 abgelaufen.

Auch, wenn Maisstärke vielleicht nicht verdirbt – geschmacklich besser wird sie in der langen Zeit nicht. Anatol hatte jedoch gemeint, „das ginge noch“.

Da wir kein Weizenmehl mehr verwenden dürfen (Anatol hält das für ungesund), hat Anatol Einkorn- und Kamutmehl ins Springerlerezept gegeben. Ob das schmeckt …?

Anatol ist sich seiner Sache – wie jedes Jahr – ganz sicher. Die Springerle müssen heute gelingen. Ein erneutes Scheitern ist einfach ausgeschlossen.

IMG_3372Optisch sind die Springerle nicht zu beanstanden. Die Model haben ganze Arbeit geleistet, diesmal ist auch nichts kleben geblieben.

Der Ofen wird auf 140° Umluft eingestellt, und der Springerleteig 30 Minuten darin gebacken.

Als der Backofen sein fröhliches „Ping“ von sich gibt, welches das Ende der Backzeit ankündigt, schlüpft Elie zur Tür heraus. „Ich bin bei Mirko! Bis nachher!“ ruft er uns noch zu – und ist verschwunden.

Ich habe keinen Vorwand, unter dem ich mich absetzen könnte – daher greife ich zu einer Notlüge. „Anatol, ich fühle mich nicht besonders gut. Ich lege mich kurz hin!“ sage ich schnell und schleiche ins Schlafzimmer, wo ich den Wut-Urschrei des Sauriers erwarte.

Dieser unterbleibt jedoch. Ich lasse mehrere Minuten verstreichen – kein Wutgeheul erklingt.

War es möglich? Sollten die Springerle diesmal gelungen sein?

Vorsichtig verlasse ich das Schlafzimmer und höre fröhliches Pfeifen aus der Küche. Verwundert sieht Anatol mich an. „Geht es Dir schon besser?“ fragt er stirnerunzelnd.

IMG_3373Ich gehe auf die Frage nicht ein, denn mein Blick fällt auf etwas geradezu Unglaubliches: ein Backblech voller offensichtlich perfekt gelungener Springerle.

Diese schneidet Anatol nun mit dem großen Brotmesser aus.

So stolz habe ich den Butler lange nicht gesehen.

Hier sehen wir das Ergebnis seiner Hartnäckigkeit. Ich hätte nie gedacht, dass ich dies erleben würde: Anatol vor einem Teller schöner Springerle. IMG_3376Aber schmecken die Aniskekse auch …?

Im Hinblick auf die seltsamen Ingredienzien – insbesondere das prähistorische Mondamin – bin ich skeptisch.

Anatol belehrt mich, dass Springerle nicht sofort gegessen werden. Sie sollten mehrere Wochen ruhen, bevor sich die die ihnen eigene Konsistenz und ihr Geschmack ausgeformt haben.

Ungeduldig wie das Tier ist, knabbert es hingegen bald an einem Randstück, um sein Werk zu begutachten. „Hm.“ meint es. „Das nächste Mal nehmen wir eher kein Mondamin. Ich denke, ich werde mal No-Egg versuchen. Und vielleicht sollten wir doch auf Weissmehl umsteigen, zumindest auf Dinkelmehl. Aber: sie schmecken!“

Ich probiere ein Stückchen und bin verblüfft. Die Springerle schmecken wirklich gut.

Bald ist ein großer Teil des Gebäcks verschwunden – den Rest heben wir für Elie auf.

Welches Rezept hat Anatol verwendet?

Das ursprüngliche Rezept stammt von chefkoch.de; dieses hat Anatol in ein veganes Rezept umgewandelt und die Mengen halbiert:

– Anstelle eines Eis: 1 gehäufter Esslöffel Mondamin (bitte frisches verwenden und nicht wie Anatol uraltes, abgelaufenes!)
– 125g Puderzucker
– etwas Natron / Bicarbonat (ca. 1/4 TL)
– 1-2 EL Wasser (nach Gefühl)
Dies alles wird lange Zeit schaumig geschlagen. Im Rezept steht 45 Minuten, aber das haben wir nicht geschafft. Zu dem schaumigen Gemisch kommt 1 Messerspitze Hischhornsalz, welches Anatol in ca. 1/2 TL Wodka aufgelöst hat. Danach wird alles weiter gerührt.
Dazu werden dann 125g Mehl (am besten gesiebt) gegeben, und alles gut mit dem Handmixer geknetet.

Der Teig soll dann eine Nacht ruhen, aber das hat Anatol zu lang gedauert. Er hat den Teig direkt ausgerollt, die Springerleformen darauf gedrückt (gut mit Mehl bestäuben!) und dann den Teig in ein gefettetes und mit Anissamen bestreutes Blech gegeben.

Danach kam der Teig bei 140° Umluft für 30 Minuten in den Backofen.

Anatol, Elie und ich wünschen guten Appetit, raten aber zur Verwendung eines richtigen Ei-Ersatzes, z.B. No-Egg.

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101. Kapitel – Liebeskummer zu Weihnachten

Elie ist seit gestern nicht mehr ansprechbar. Was sich seit einigen Wochen bereits abgezeichnet hatte, ist nun offiziel: Anna und Angelo sind ein Paar. Und Elie weiss nicht, wohin mit seinem Liebeskummer.

Kluge Sprüche wie „Es gibt doch so viele andere nette Dino-Mädchen!“ sparen Anatol und ich uns. Helfen kann Elie im Moment gar nichts – und schon gar kein gutes Zureden. Schließlich hatte Elie jeden freien Moment mit Anna verbracht, und auch bereits die kommenden Weihnachtstage heimlich verplant, um mit ihr zusammen zu sein. Für Elie ist das seine gesamte Zukunft – und dementsprechend groß ist seine Verzweiflung.

„Ich backe jetzt eine Cornish Pasty.“ kündigt Anatol an. „Du brauchst jetzt was richtig Kräftiges, um Dich wieder auf die Beine zu bringen, Elie.“  Elie schüttelt den Kopf. „Ich esse nichts.“

„Wir werden ja sehen. Ich backe jetzt. Irgendetwas musst Du schließlich essen.“ Und zu mir gewandt „Nimm ihm die Ingeborg Bachmann Gedichte weg. Das kann ihm jetzt nicht gut tun.“

Ich trete näher an Elies Versteck heran und sehe mit Bestürzung, dass Elie sich ein regelrechtes literarisches Liebeskummer-Arsenal angelegt hat: „Die gestundete Zeit“ und „Die Anrufung des Großen Bären“ von Ingeborg Bachmann, Gedichte von Erich Fried, Anna Achmatowa … Goethes „Werther“. Als ich darauf hinweise, dass dies kein Schriftgut sei, das Elie jetzt aufbauen werde, ernte ich als einzige Antwort ein wütendes Knurren.

‚Wer sich noch wehren kann, hat sich nicht aufgegeben‘, sage ich mir, und lasse Elie in seiner Melancholie versinken. Es gibt, Momente, in denen das sein muss. Dennoch nehme ich mir vor, besonders die Lektüre des „Werther“ genau zu überwachen.

IMG_3296Anatol hat sich währenddessen in der Küche an den Backutensilien zu schaffen gemacht. Der Teig für die Cornish Pasty ist fast fertig – Anatol hat eine vegane Variante der englischen Delikatesse entwickelt. Das Rezept stammt urspünglich von der gestrengen „Cornish Pasty Association„; diese wacht darüber, dass die Cornish Pasty in ihrer originären Form erhalten bleibt und keiner modernen Geschmacksverirrung zum Opfer fällt.

Der Teig der Pasty wird aus Brotmehl (Anatol nimmt recht dunkles Dinkel-Vollkornmehl), Margarine, Salz und Wasser hergestellt und gut geknetet. Dann kommt er für mehrere Stunden in den Kühlschrank, wo er ruhen muss. Diese Etappe sparen wir uns heute, da nicht genügend Zeit dafür ist. Normalerweise sollte der Teig aber etwa 3 Stunden im Kühlschrank bleiben.

Nun schneidet Anatol einen Kohlrabi, eine große Kartoffel und eine Schalotte in winzige Würfelchen, und salzt und pfeffert das Gemisch großzügig. Dann rollt er den Pasty-Teig aus und gibt das Gemüse sowie etwas Sojajoghurt darauf.

Plötzlich schlägt sich der Butler mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ich Esel!“ ruft er ungehalten. Und an mich gerichtet: „Oder vielmehr – DU Esel! Warum hast Du die Pastinake vergessen? Die wollte ich in die Pasty tun, um zu probieren, ob wir damit das Rindfleisch ersetzen können!“ Ich gehe auf die Provokation nicht ein und bemerke nur ruhig „Dann müssen wir die Pastinake eben nächstes Mal versuchen, Anatol“.

Der Butler zischt „Ja, das müssen wir wohl.“ Zum Glück lässt er es dabei bewenden. In die Cornish Pasty kommt traditionell gewürfeltes Rindfleisch – aber für uns als Vegetarierer bzw. Veganer ist das natürlich ein No Go.

Der nächste Schritt besteht darin, den Teig „umzuklappen“ und eine Art Pastete daraus zu formen. Dies ist ein heikler Moment, da der Teig nicht einreissen darf. Anatol gelingt dies heute glücklicherweise ohne Probleme.

IMG_3297Danach wird ein hübscher Rand um die Pasty geknetet und die Pasty so ganz geschlossen. Zum Schluss piekst Anatol ein kleines Loch oben in die Pasty, damit beim Backen der Dampf entweichen kann – sonst platzt die Pasty an einer ungünstigen Stelle auf, was natürlich nicht gewünscht ist.

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Anatol hat den Backofen bereits auf 210°C vorgeheizt. In diesen wird die Pasty nun geschoben – um dort eine ganze Stunde zu backen.

Wir sind gespannt auf das Ergebnis.

Eine Stunde später klingelt der Backofen – die Pasty ist fertig. Anatol ist stolz auf sein Werk.

IMG_3299IMG_3300IMG_3301Die Pasty ist köstlich. Wir hoffen, dass wir Elie werden überreden können, zumindest ein kleines Stückchen zu probieren.

100. Kapitel – Weihnachts-vorbereitungen

Leise fluchend rumort Anatol in der Küche – er durchwühlt den Küchenschrank. Irgendetwas ist nicht nach dem Geschmack des Butlers, und ich gehe davon aus, dass er es mir bald mitteilen wird.

„Wir haben keinerlei Weihnachtsgewürze mehr! NICHTS ist mehr da – dabei solltest Du letzte Woche doch Gewürze bei Ewert bestellen! Wie soll ich nun die Weihnachtsplätzchen backen?“ schimpft der Saurier. „Du hast das vergessen – gibs zu!“

Betreten sehe ich zu Boden. Wie soll ich es erklären? Ich habe die Bestellung bei Ewert nicht vergessen – ich habe sie absichtlich nicht getätigt. Eine Gewürzbestellung bedeutet Plätzchen backen, und Plätzchen backen heisst Plätzchen essen. Dies wiederum ist gleichbedeutend mit dem häßlichen Wort „Kilogramm“.

Ich hatte mich daher heimlich entschlossen, dieses Jahr keine Gewürze zu ordern. Ohne Gewürze keine Plätzchen – und das ist gut so. Im Büro und bei Freunden wird man ja sowieso mit Weihnachtsgebäck versorgt … wozu muss dann die Versuchung auch noch daheim zugegen sein – dort, wo man ihr am hilflosesten ausgeliefert ist?

Der Butler ist außer sich vor Zorn. „Weil DU dich bei den Plätzchen nicht ein klein wenig zurückhalten kannst, sollen wir nun alle keine bekommen? Das schlägt dem Fass den Boden aus!“ zetert das Untier.

Unerwarteterweise bekomme ich Unterstützung von Elie. „Anatol, wir essen doch sowieso schon den ganzen Tag über Weihnachtssüßigkeiten. Anna backt die leckeren Bredele, und von Angelo kriegen wir diesen tollen Pannetone, den seine Eltern immer in Mailand bestellen. Meine Hose zwickt schon, und ich würde ehrlich gesagt gern wieder etwas abnehmen …“

Beleidigt knallt Anatol die Tür des Küchenschranks zu. „Dann gibt es eben dieses Jahr keine selbstgebackenen Plätzchen! Wenn die Euch sowieso nur fett machen!“ Der letzte Satz geht in einem Schluchzen unter – Anatol beginnt zu weinen. Offenbar hat ihn unsere Plätzchen-Diät tiefer getroffen, als ich das für möglich gehalten hätte.

Elie ist bestürzt. „Anatol, Deine Plätzchen sind einsame Spitzenklasse! Sie sind so gut, dass wir nicht mehr aufhören können, zu essen, wenn sie erst einmal dastehen … Wenn sie uns nicht so gut schmecken würden, müssten wir uns wohl nicht fürchten, davon zuzunehmen…“ beeilt er sich, zu erklären.

Ich pflichte Elie bei. „Die Plätzchen waren letztes Jahr unglaublich lecker. Eigentlich ist es eine Schande, darauf zu verzichten … am liebsten mag ich die Anisplätzchen – die Springerle!“

Anatol weint laut. „Die Springerle gelingen mir doch nie. Also, sie bleiben immer in der Form kleben, und gehen dann kaputt. Letztes Jahr waren sie schon wieder nur Krümelkram. Ich hatte mich so gefreut, sie dieses Jahr vielleicht mal ordentlich hinzubekommen!“

Meine Zwangsdiät hat für eine Familientragödie gesorgt. Ich möchte mich am liebsten ohrfeigen. Für eine Bestellung bei Ewert ist es nun zu spät. Oder doch nicht? Heimlich nehme ich mir vor, nachher bei Ewert anzurufen und um eine Expressbestellung zu bitten – soweit das möglich ist.

Den Butler muss ich nun irgendwie besänftigen. „Anatol, möchtest Du nachher mit nach Kehl kommen? Ich muss doch die Geschenke zur Post bringen. Wir könnten sogar bei Dreher Mittag essen – Dreher magst Du doch so gern!“

Anatol schnieft. Ich merke, dass er auf den unerwarteten Ausflug Lust hat, es aber nicht so schnell zugeben mag. Ich lasse dem Butler daher etwas Zeit. „Ich fahre um 12 Uhr los. Wenn Du magst, komm einfach mit.“

Elie ist heute mittag bei Freunden eingeladen – er wird die nächsten beiden Stunden damit verbringen, sein „Outfit“ zu perfektionieren: Anna ist ebenfalls eingeladen.

Um kurz vor 12 hüpft Anatol wortlos in meine Tasche. Er möchte also mitkommen – ein gutes Zeichen. Die Laune scheint sich deutlich aufgehellt zu haben: der Butler kann sich sogar schon wieder über Elie lustigmachen. „Vielleicht solltest Du noch etwas Eau de Cologne auflegen, Elie. Deins bemerkt man überhaupt nicht!“

Anatol spielt auf die dichte Parfumwolke an, in die Elie sich gehüllt hat – offenbar, um Anna zu beeindrucken. Ein Hausschuh verfehlt meinen Kopf nur knapp (Anatol – das Ziel des Geschosses – sitzt in meiner Handtasche, die ich bereits geschultert hatte) … schnell schlage die Haustür hinter uns zu. Unser Ausflug kann beginnen.

Nach einem kurzen Zwischenstopp bei DM kehren wir wie geplant bei Dreher ein. Und zwar gehen wir nicht in die Filiale im neuen Einkaufszentrum „City Center“ – nein, wir begeben uns in die schöne, altmodische Konditorei mitten in der Stadt. Dort lieben wir es, an der Theke in der Nähe der Backstube zu sitzen, Tee zu trinken, und den großen Salon zu beobachten, in dem unablässig Köstlichkeiten von zahllosen Serviererinnen kredenzt werden.

IMG_3292Heute können wir jedoch keine Zeit damit vergeuden, den Teesalon zu begaffen: heisst es doch, die gesamte Weihnachtspost (oder jedenfalls einen großen Teil davon) zu verfassen, in Kuverts zu stecken und zu adressieren – um sie dann zur Post zu bringen.

Da es mir zu Hause nicht gelingt, Weihnachtskarten zu schreiben, muss dies bei Dreher stattfinden.

Eine Karte nach der anderen fülle ich, während Anatol mir elegant formulierte Sätze diktiert. So fließt uns die Weihnachtspost ganz leicht aus der Feder. IMG_3295

Nachdem alle Weihnachtskarten geschrieben sind, packe ich das große Klebeband aus. Die Päckchen müssen nun befüllt werden – zu jeder Weihnachtskarte das richtige Geschenk. Anatol überwacht diesen Vorgang mit Argusaugen, denn was wäre peinlicher, als das falsche Geschenk zur falschen Weihnachtskarte zu stecken – und an den falschen Empfänger zu versenden.

Nachdem alles im hoffentlich korrekten Päckchen sicher verpackt ist, kommen wir zum Höhepunkt des heutigen Tages: der Bestellung des Mittagessens.

Anatol sucht einen überbackenen Toast aus, der mit frischem Salat serviert wird und den ich eigentlich gar nicht essen dürfte. Da meine Diätvorstellungen aber heute bereits einmal zu Verwerfungen geführt haben, sage ich lieber nichts.

Das Festmahl wird gebracht. Anatol scheint mir die Plätzchenaffäre glücklicherweise nicht mehr übel zu nehmen – IMG_3294jedenfalls beteiligt er sich gebührend an den Toasts, die in Rekordzeit verschwinden.

Unsere Parkzeit ist abgelaufen. Eilig verlassen wir den gastlichen Ort, um noch vor dem Auge des Gesetzes am Auto einzutreffen, was auch gelingt.

Die Paketaufgabe bei der Post verläuft reibungslos, nachdem wir die neue Post in der Blumenstraße gefunden haben. Das alte, große Postgebäude ist vor kurzem abgerissen worden. Die neue Filiale ist allerdings deutlich angenehmer als die frühere Hauptpost.

Wir treffen einen freundlichen Kollegen aus dem Büro, der ebenfalls heute seine Weihnachtspäckchen verschickt. Nach einem kurzen Plausch treten wir die Heimreise an.

Müde, aber glücklich betreten wir die Wohnung. Anatol nuschelt etwas von „Mittagsschlaf“ und will in seinem Nestchen verschwinden, da vernehmen wir ein leises Wimmern.

Elie ist schon wieder zu Hause. Wollte er nicht den Nachmittag mit Anna und den Schulkameraden verbringen?

„Was ist denn los, Elie …“ frage ich bang.

„Sie will nichts von mir“ schluchzt Elie. „Sie hat es mir gesagt. Sie mag mich einfach so – „als Freund“. In Wirklichkeit ist sie immer noch in Angelo verliebt!“ Elies Stimme versagt.

Offenbar müssen sich Anna und Elie ausgesprochen haben – und dies war nicht im Sinne von Elie verlaufen. Die Geschichte zwischen den beiden war nie ganz klar gewesen … schon im letzten Sommer hatte es sich indessen abgezeichnet, dass Anna sich für den „Bad Boy“ – den schillernden, undurchschaubaren Angelo – entscheiden würde. Elie war immer schon ihr bester Freund gewesen. Dass dies viel mehr bedeutet und dass eine solche Freundschaft Jahrzehnte, ja ein ganzes Leben überdauert, kann Elie heute jedoch nicht trösten.

„Sie wird Weihnachten bei Angelo feiern!“ weint Elie. „Dabei habe ich doch so ein schönes Geschenk für sie, das ich ihr selbst überreichen wollte – und da soll Angelo NICHT dabei sein!“

Einen Trost habe ich für Elie nicht. Nur eins kann ich ihm ans Herz legen: Zeit vergehen lassen … und ein neues Kapitel seines Lebens schreiben.

99. Kapitel – Der Sturm

Heute ist Freitag, der 12. Dezember – und mein letzter Arbeitstag vor den Weihnachtsferien. Mit Mühe habe ich es geschafft, vor Weihnachten einige Urlaubstage zu erkämpfen – möchte ich doch wenigsten ein paar Weihnachtsgeschenke erstehen, verpacken und dann noch rechtzeitig zum Fest versenden. Unser Weihnachtspäckchen, welches letztes Jahr erst nach Neujahr bei den Beschenkten eintraf und für Belustigung sorgte, ist den Sauriern und mir in peinlicher Erinnerung.

Dieses Jahr soll alles anders werden, haben die Butler beschlossen. Weihnachten soll mit Muße und vor allem Freude und Harmonie vorbereitet werden – der etwas ordinäre Ausdruck für die Stimmung, die uns vorschwebt, ist: „unstressig“.

Ob dies gelingt, ist indessen unsicher. Mein letzter Tag im Büro – Freitag – stellt sich im Grunde als das Äquivalent von drei vollen Arbeitstagen heraus. Er beginnt – verspätet – um 7 Uhr 30. Mehrere gigantische Projekte müssen – wie könnte es anders sein – ausgerechnet heute zuende gebracht werden, darunter insbesondere ein Verlagsprojekt, welches mir schon seit Wochen auf der Seele liegt. Zudem soll ein lang geplantes Weihnachtsessen mit einem Vertragspartner heute stattfinden – allein dies wird mindestens drei Stunden in Anspruch nehmen.

Freundliche Kollegen bringen alle Vorgänge, die sie noch vor Weihnachten abschließen möchten, in mein Büro, mit der ernsten Anweisung „Aber bitte alles bis spätestens heute abend – es ist sehr eilig damit!“

Um 20 Uhr bin ich immer noch mitten in einer telephonischen Vertragsverhandlung … Das Handy klingelt. Ich entschuldige mich bei den Kollegen und nehme den Anruf an. Es ist Anatol – heimtückisch mit unterdrückter Rufnummer ! – und er ist außerordentlich aufgebracht. „WO BLEIBST DU?“ brüllt er in den Hörer. Ich zucke zusammen.

„Anatol, es wird noch etwas über eine Stunde hier dauern. Bitte kümmert Euch um die Katzen und räumt die Wohnung auf. Ich werde heute abend nicht mehr dazu kommen.“ Die Antwort lässt nicht auf sich warten: unter Gegrummel hängt Anatol ein. Bevor die Leitung weg ist, höre ich ihn noch zu Elie sagen: „Ich glaub, es wird Ärger geben… sie weiss das mit der Wohnung noch gar nicht…“ Die Aussage bleibt nebulös, verheisst jedoch nichts Gutes.

„War das Ihr Ehemann…?“ fragt einer der Kollegen ängstlich. Ich verneine und kläre den Herrn auf „Es handelte sich bei der aufgebrachten Erscheinung in meinem Handy um meine … Haushaltshilfe.“ Und mit autoritärer Stimme, die den Kollegen suggerieren soll, dass ich meine Butler im Griff habe, füge ich hinzu „Ich werde das später mit ihm klären.“

Die Verhandlung kann nun fortgesetzt werden.

Deutlich nach 21 Uhr trete ich den Heimweg an. Seit mittags wütet ein schwerer Sturm – Äste liegen auf der Straße, Fahrräder sind umgestürzt. Ich schaffe es mit Mühe und Not bis nach Hause, stelle das Fahrrad in den Unterstand und steige bang die vier Etagen bis zu unserer Wohnung hinauf. Hier werde ich von den Katzen freudig begrüßt – von den Butlern fehlt jede Spur.

An der Tür prangt ein sichtlich in Eile bekritzelter Zettel: „Sind im Park. Die Burg ist eingestürzt und sie haben Strolchi entführt! A + E“

Bevor ich mich darüber aufregen kann, dass die Saurier um 21 Uhr 30 immer noch im dunklen Park umherstreifen (in der Tat hatte man in den letzten Tagen mehrmals  eine „selbstgebaute Burg im Park“ erwähnt), fällt mein Blick in die Küche. Ich muss mich setzen.

Die Küchenablage mitsamt der Spüle kann nur noch als „Abraumhalde“ bezeichnet werden. IMG_3262

Darunter quillt die Spülmaschine von schmutzigem Geschirr über – offenbar war es den Butlern nicht in den Sinn gekommen, sie anzustellen.

Das Äußerste stellt indessen der Küchenboden dar. IMG_3261Auf diesem hatten die Katzen ihr biologisch artgerechtes Rohfutter (BARF) nicht nur zu sich genommen, sondern offenbar mit Begeisterung großzügig an Wände, Küchenschränke und Polstermöbel gekleistert.

Neues Katzenfutter muss demnächst hergestellt werden (ich hatte auf Unterstützung durch die Butler gehofft!); um das auftauende Fleisch scharwenzeln die Katzen mit unschuldiger Miene und deutlichem Appetit bereits herum.

Grauen erfasst mich. Die Saurier haben sichtlich seit Tagen nichts mehr im Haushalt getan. Ich selbst nutze die Wohnung seit längerem – wegen des extrem gestiegenen Arbeitsanfalls – nur noch zum Schlafen … der verheerende Zustand gerade der Küche war mir nicht aufgefallen.

Wutschnaubend greife ich zum Telephon. Die Butler haben nun SOFORT zurückzukommen. Und wer ist überhaupt dieser entführte „Strolchi“, von dem auf dem Zettel die Rede ist?

Das Telephongespräch wird sehr knapp. Die Saurier sind glücklicherweise kleinlaut und behaupten, sowieso bereits auf dem Rückweg zu sein.

Ich mache mich an die Entkernungsarbeiten in der Küche, werfe Unrat weg, schrubbe Möbeloberflächen. Kurze Zeit später kommen zwei zerknischte Dinos herein und beginnen still, den Küchenboden zu wischen. Um 23 Uhr 30 sieht die Küche endlich annehmbar aus.

IMG_3264Die Spülmaschine läuft, der Boden ist sauber und die Katzenfutterherstellung, die am morgigen Tag stattfinden wird, ist vorbereitet. Ich beginne, mich in meiner eigenen Wohnung wieder wohl zu fühlen.

Nun erzählen die Butler. In den letzten Tagen sei es ihnen ganz unmöglich gewesen, den Haushalt zu führen. Mit den Dino-Kumpels habe man im Park eine richtig tolle Burg gebaut, aus Backsteinen, die dort „so herumgelegen“ hätten. Ich vermute, dass es Steine waren, die für das neue Pflaster der Wege in den Schillerwiesen verwendet werden sollen … diese sind nun von den Dinos weggeschleppt und zum Aufbau der „Burg“ genutzt worden. Ich verdrehe die Augen. Auch hier wird Ärger auf uns zukommen – wenn dem Baudezernat der Stadt klar wird, dass meine Saurier Backsteine entwendet haben.

Die Dinobande um Anatol und Elie sei dann von einer fremden Bande angegriffen worden, die ihnen die Steine geneidet hätte! Die „Anderen“ seien zu fünft oder sechst gewesen, hätten die Burg eingerissen und die Steine weggeschleppt. Das Schlimmste sei aber gewesen, dass sie auch den kleinen weissen Dackelmischling „Strolchi“, den Angelo von seinen Eltern bekommen hatte und der nun sein Ein und Alles war, gefangen hätten und in ihrer eigenen Burg nun als Geisel hielten!

So sei es unumgänglich gewesen, die feindliche Burg zu stürmen. Nach einer eiligen Mobilmachung aller Kumpels – Angelo sei vor Sorge um seinen Strolchi nicht mehr ansprechbar gewesen, daher habe man Verstärkung geholt – habe man das feindliche Lager von zwei Seiten in die Zange genommen, die Wände umgeworfen, Strolchi aus der Gewalt seiner Entführer befreit und ihn zu Angelo zurückgebracht, der weinend in den Trümmern der eigenen Burg gesessen habe.

So waren nun beide Burgen geschleift, aber Strolchi war zurück bei einem seligen Angelo.

Die Antwort der Feinde habe nicht auf sich warten lassen. In großer Überzahl seien sie unter Gebrüll über die ohnehin in Trümmern liegenden Burg unserer Dinos hergefallen. Ein eiliger taktischer Rückzug – insbesondere zum Schutze von Strolchi – sei nun unvermeidbar gewesen. Gezwungenermaßen habe man den Trümmerberg zunächst den Feinden überlassen, sei aber, als letzterere zum Abendessen hätten heimkehren müssen, zurückgeschlichen und habe alle Backsteine zum Wiederaufbau der eigenen Burg von den Feinden entwendet – ja im Grunde nur das rechtmäßig unseren Dinos zustehende Baumaterial zurückgeholt.

Zu diesem Zeitpunkt sei es schon 20 Uhr gewesen. Man habe dann gehofft, mich zuhause bei der Vorbereitung des Abendessens anzutreffen, da die kriegerischen Handlungen, Anstürme und Rückzüge, vor allem aber das ständige Hin- und Herschleppen der Steine, die mindestens 4 mal den Besitzer gewechselt hatten, für Hunger gesorgt hätten. Daher auch der ungehaltene Anruf auf meinem Handy.

Man habe sich dann mit dem letzten noch sauberen Messer nur flugs ein Brot geschmiert und sei schnell zur Burg zurückgekehrt, die sogar zur Zeit noch stehe. Angelo habe Strolchi in Sicherheit gebracht und den Kumpels versprochen, bald eine riesige Party für sie zu geben, da sie Strolchi gerettet hätten.

Die Feinde hingegen werde man in Zukunft engmaschig überwachen – sei doch zu befürchten, dass sie die Burg erneut angreifen könnten.

Ich dämpfe den kriegerischen Ehrgeiz der beiden Haudegen, indem ich sie ins Dino-Nestchen verfrachte und unter die Decke stecke, wo sie augenblicklich einschlafen.

Die Ferien können beginnen.

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Göttingen, in den Schillerwiesen, 1978

96. Kapitel – Der Rotkohl

Seit mehreren Wochen liegt mir Anatol mit dem Rotkohl in den Ohren.

„Wir müssen unbedingt Rotkohl kaufen! Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Den dürfen wir nicht verpassen!“

Ich für meinen Teil habe es mit dem Rotkohl nicht so eilig. Der Kohlkopf ist schwer und unhandlich. Das Kleinschneiden ist mühsam – und meine Aufgabe, da der Butler dafür zu klein ist. Davor schrecke ich etwas zurück. Allerdings hat Anatol mit einem Recht: gut zubereiteter Rotkohl ist eine Delikatesse.

Daher habe ich mich am Samstag breitschlagen lassen und Anatol erlaubt, einen riesigen Rotkohl vom Markt mitzubringen.IMG_3218 Der mittlere Topf ist damit überfordert: Anatol klaubt ganz hinten aus dem Küchenschrank den riesigen Kochtopf hervor. In diesen wird der Kohl hoffentlich hineinpassen.

Auf die Waage bringt der stattliche Kohlkopf ganze 3 kg.

Anatol trägt mir nun auf, das Kohlmonstrum in vier Teile zu schneiden, zu waschen und dann in feinste Streifchen zu hobeln – diese Arbeit sei selbstverständlich unter seiner Würde.

Während ich den Kohl schneide, brät Anatol in dem Topf Äpfelchen und Zwiebelchen mit etwas Olivenöl und viel Zucker an.

Wir lassen uns von dem Rezept unserer Omi aus Pommern inspirieren – original hätte dazu noch Gänseschmalz gegeben werden müssen, aber Anatol kocht ja rein vegan. Daher wird der Rotkohl mit ein wenig Olivenöl zubereitet.

Der Kohl ist nun so fein gehobelt, wie mir das nur möglich ist. Dennoch ernte ich üble Beschimpfungen des Butler, der mich anbrüllt:

„Was ? Das soll feingeschnitten sein ? Noch grober konntest Du es wohl nicht schnippeln ? Höchstens 2mm dick dürfen die Kohlstreifen sein! Mit diesem groben Kram kann ich nichts anfangen! Ich sag es immer wieder: in der Küche bist Du mir ein Klotz am Bein!“

Ich packe das unverschämte Biest und halte es drohend über den Kochtopf. Dies beruhigt den selbsternannten Küchentyrannen etwas.

„Ist ja schon gut – ich werde versuchen, doch noch etwas aus diesen groben „Abschnitten“ zu zaubern. Aber sogar ich kann da nichts versprechen“ fügt er herablassend hinzu.

IMG_3219Auf die gedünsteten, leicht angebratenen Zwiebeln und Äpfel darf ich nun den Kohl geben.

Sogleich träufelt Anatol Essig über den Kohl – so bekomme dieser seine schöne lila, ins tiefblaue gehende Farbe, sagt der Saurier.

Anschließend wird der Kohl gezuckert, und es kommen Gewürznelken, ein paar Pfefferkörner und Salz hinzu.

Der Kohl muss nun – zunächst ohne Deckel – vor sich hinköcheln. Ab und zu rührt Anatol um.

Der Topf ist bis an die Oberkante voller Kohl. Wir hoffen, dass nichts überkochen wird.IMG_3220 Schließlich kann der Topf mit dem Deckel geschlossen werden, und der Kohl muss nun mehrere Stunden schmoren.

Ab und zu schmeckt Anatol ab: unter Gefauche und Geschimpfe – da die Kohlstreifen zu grob geraten sind – werde ich zurechtgewiesen, dass ich den Kohl verhunzt habe. Dass so grob geschnittener Kohl gar nicht schmecken könne – aller Kochkünste zum Trotz, deren Anatol fähig sei.

Ich ziehe mich zu Elie aufs Sofa zurück, schlage ein Buch auf und überlasse Anatol die Küche. Zeternd und mit Küchenutensilien klappernd macht sich der Butler daran, die Kartoffeln aufzusetzen, die zum Kohl serviert werden sollen. Die Kohlaffäre scheint für den Saurier eine rechte Haupt- und Staatsaktion zu sein.

Kohl und Kartoffeln köcheln nun fleißig vor sich hin. IMG_3224Anatol baut indessen das Bügelbrett auf und beginnt, die Bügelwäsche zu bearbeiten – nicht ohne Elie und mich mit scharfem Unterton darauf hingewiesen zu haben, dass in diesem Haushalt nichts funktionieren würde, wenn er, Anatol, sich nicht um alles kümmerte.

Ob wir Anatol in Zukunft wohl noch duzen dürften, fragen Elie und ich spitzbübisch – oder ob Seine Herrlichkeit nun fordere, dass man sie im Pluralis Majestatis anspreche?

Darauf erleidet unser Haustyrann einen Wutanfall. Blindwütig stampft er mit der Plüschtatze auf den Boden, dass es nur so knallt. Elie springt vor Schreck vom Sofa auf.

„Ab jetzt streike ich!“ brüllt Anatol. „Alles bleibt an mir hängen! Ihr sitzt wie die Ölgötzen auf dem Sofa, und ich darf arbeiten!“

Ich lasse mich von dem Tobsuchtsanfall des Butlers nicht beeindrucken. Das Biest ist ein hervorragender Schauspieler.

„Anatol, ich habe Dir in der Küche geholfen, bis Du mich als „Klotz am Bein“ bezeichnet und wüst beschimpft hast. Gib es zu: Du hast nur Angst, dass Dir der Kohl nicht gelingt – und suchst nun einen Schuldigen!“

Elie fügt leise hinzu „Also ich esse den Kohl auch, wenn er nicht zu 100% gelungen ist… “

Schlagartig verfliegt der Zornausbruch. Zerknirscht gibt Anatol zu, dass irgendwas mit dem Kohl „nicht stimme“. Aber was das nun sei – ob es an dem groben Zuschnitt, den Äpfeln oder der Nelke läge oder am Olivenöl, das wisse er noch nicht.

Ich probiere den Kohl. Er ist nur nicht ausreichend durchgezogen. Zudem fehlt etwas Salz. Ansonsten ist der Kohl jedoch perfekt – wenn auch etwas zu grob geschnitten, das muss ich zugeben.

IMG_3229Stunden später serviert uns der Butler bester Laune einen köstlichen, wunderbar durchgegarten, süß-säuerlichen Rotkohl mit Salzkartoffeln.

Ich nehme mir dreimal nach, Elie und Anatol viermal.

Unser Starkoch ist selig.

94. Kapitel – Die Teezeremonie

Das kalte, neblig-regnerische Wetter hat sie mir in Erinnerung gerufen – die täglich geübte, mit Hingabe zelebrierte Teezeremonie meiner Eltern. Sie begann allnachmittäglich gegen 16 Uhr nach einem ausgedehnten Mittagsschlaf und war so unumstößlich wie ein Naturereignis. Nichts und niemand hätte „den Tee“ verhindern können.

Der Ablauf der Zeremonie ist immer gleichbleibend der folgende: Mein Vater setzt das Teewasser in dem kupfernen Teekessel auf und stellt das blau-weisse Porzellangeschirr zurecht. Die Zubereitung des Tees hingegen ist Aufgabe meiner Mutter: nur sie versteht es, die unterschiedlichen Sorten Tee (meist Assamsorten und Darjeeling) so zu mischen und zu dosieren, dass das unverwechselbare Teearoma entsteht, welches allein der Teezeremonie würdig ist.

Schließlich wird der Tee im Wohnzimmer, welches zugleich das Arbeitszimmer meines Vaters ist, am runden Herrenzimmertisch meiner Großmutter serviert. Die ganze Familie – Großmutter, Mutter, Vater, Kinder, Hund – ist versammelt, während der Tee auf seinem Messingstövchen, welches gefährlich kippelnd auf der Heizung Platz gefunden hat, noch ziehen muss.

Indessen bereitet jeder nach seinem Geschmack seine Teetasse vor. Mein Vater befüllt seine Tasse zur Hälfte mit weissen Klüntjes – meine Mutter gießt sich etwas Milch ein und gibt einen Klüntje hinzu. Ich selbst bin in einer rebellischen Phase und lehne sowohl Milch als auch Klüntjes ab. Der Tee – nun tiefschwarz und kräftig – kann eingegossen werden. Knisternd füllt sich die Tasse meines Vaters. Meine Schwester findet den Tee zu stark; sie mildert ihn mit viel Milch ab. Ich meutere, denn der Tee ist in der Tat von umwerfender Stärke und Bitterkeit. Meine Mutter bietet mir Klüntjes und Milch an – ich entscheide mich schließlich mich für den Kandis. Omi spricht dem Dresdner Stollen zu – dazu passt auch der stärkste Tee.

Bis etwa halb sechs werden wir zusammensitzen und Tee trinken. Mutter und Großmutter erörtern ihre Lieblingsartikel aus der ZEIT und der FAZ, während mein Vater sich mit uns ein wenig lustig darüber macht. Der Hund schnarcht leise und zufrieden, dicht an die warme Heizung angeschmiegt und immer nah bei meiner Mutter, von der er keinen Zentimeter abweicht…

Bis hierhin haben mir Anatol und Elie stumm zugehört. Nun können sie ihre Verwunderung nicht mehr zurückhalten.

Jeden Tag habt Ihr so gemeinsam Tee getrunken?“ ruft Elie erstaunt. „Mussten Deine Eltern denn gar nicht arbeiten?“

Eine berechtigte Frage. Meine Eltern hatten Berufe, die es ihnen ermöglichten, zu fast jeder Tages- und Nachtzeit zu arbeiten – oder auch nicht. Sie waren im Grunde nur Vormittags nicht zu Hause; die restliche Tageszeit konnte frei eingeteilt werden. So war es möglich, eine ausgedehnte Teezeit abzuhalten, die meist ohne weitere Zäsur in die Vorbereitung des Abendessens und schließlich in selbiges einmündete.

„Das klingt so gemütlich!“ findet Elie. Anatol nickt.

Ich schweige. Nicht immer war unser Familienleben so idyllisch, wie es sich nun – 30 Jahre später – anhört. Dennoch denke ich, da mir unsere Teezeit in Erinnerung kommt, sogar mit etwas Wehmut an damals zurück.

Vielleicht ist nun der Moment gekommen, an etwas Positives aus der Vergangenheit anzuknüpfen?

Anatol möchte wissen, was meine Mutter für Teesorten verwendete. Er meint, mit etwas Übung könne er den Tee meiner Mutter ganz sicher nachahmen, wenn nicht gar ihn genauso zubereiten wie sie. Ich weiss, dass Anatol bei so etwas sehr geschickt sein kann.

Mir fällt ein, dass bereits der Tee-Einkauf und seine Auswahl keinesfalls dem Zufall überlassen wurden. Der Tee wurde nur bei Alfred Ewert Tee & Gewürze eingekauft, von meinen Eltern kurz „Ewert“ genannt. Das geheimnisvolle Ladenlokal in der Weender Straße beherbergte unzählige Gewürzdosen, Teebüchsen und Spezialitäten aus aller Welt. Omi nannte es gern einen „Kolonialwarenladen“ – diese Bezeichnung war allerdings schon damals überaltert.

„Warum kaufen wir nicht bei Ewert auch so einen schönen Tee?“ bettelt Elie.

„Elie, solch ein starker, bitterer Tee würde Dir überhaupt nicht schmecken“ gebe ich zu bedenken. „Anatol und Du, Ihr trinkt doch fast nur grünen Tee.“

„Ja eben!“ jammert Elie. „Ich will endlich mal was anderes ausprobieren!“

Anatol hat indessen das Internet bemüht. „Guck mal!“ ruft er ganz aufgeregt. „Ich habe die Adresse gefunden! Ewert ist immer noch in Göttingen! Vielleicht können wir etwas dort bestellen?“

Nach einigem Zögern lasse ich mich breitschlagen und rufe bei Ewert an.  Eine sehr freundliche Verkäuferin, der ich unser Anliegen schildere, bestätigt, dass ein Versand problemlos möglich sei. Sie schlägt mir zunächst die Zusendung des Katalogs vor, in dem wir uns dann alles Gewünschte aussuchen können.

Sprachlos – und sehr erfreut – lege ich auf. Vielleicht werden wir schon bald einen echten Ostfriesentee kochen können?

„Du musst dann aber auch Klüntjes da kaufen!“ kräht Elie fröhlich.

„Sonst ist der Tee ja viel zu bitter!“

Von unserer Bestellung bei Ewert werden wir berichten.

IMG_3194 Teatime mit den Dinos

78. Kapitel – Verlust… das geliebte Victoria-Fahrrad

Anatol weint seit vorhin nur noch. Sein wunderschönes azurblaues Victoria-Fahrrad ist weg – für immer.

Er hatte das Fahrrad in den Keller gestellt und es dort sicher geglaubt. Normalerweise war es immer abgeschlossen – aber für die Fahrt nach Montbard vor 10 Tagen hatten wir das Schloss von Anatols Rad genommen, um mein Fahrrad damit zu sichern. Anatol hatte dann vergessen, sein Rad wieder abzuschließen…

Ein früherer Nachbar war gestern im Haus gewesen, um Sachen abzuholen. Diese Gelegenheit hatte er genutzt, um den Leuten aus dem ersten Stock zu sagen, dass das blaue Fahrrad offenbar herrenlos sei – jeder könne es benutzen.

Meine Nachbarn aus dem ersten Stock hatten das Rad daher gestern ihrer Tochter geliehen. Diese war damit zu einem Open Air Konzert gefahren, hatte es dort mit anderen Rädern anschließen lassen, aber nicht aufgepasst, als die anderen Räder aufgeschlossen worden waren.

Als sie um 5 Uhr früh das Fahrrad suchte, war es weg.

Anatol hatte es 1979 geschenkt bekommen. Zu Weihnachten. Seitdem hatte es ihn nicht mehr verlassen. Der Butler weint und weint und weint – Ihr könnt es Euch gar nicht vorstellen.

Morgen gehe ich zur Polizei und erstatte Anzeige, aber ohne Hoffnung.

Was mache ich nur mit Anatol… das Fahrrad ist unersetzlich. Ein neues Rad wollten die Nachbarn bereits beschaffen, um Anatol zu trösten, oder ihm Geld für ein neues Rad geben – aber darum geht es nicht. Kein Geld dieser Welt wird jemals Anatols Fahrrad, das 1979 unter dem Weihnachtsbaum stand, ersetzen können.

Ich habe Anatol nun gesagt, dass es ok ist, wenn er um sein Fahrrad weint. Als meinem Vater 1984 sein Fahrrad – auch ein Victoria-Rad – gestohlen wurde, habe er auch geweint. Obwohl er schon 45 Jahre alt war.

Das Fahrrad meines Vaters habe ich jedoch ein Jahr später wieder gefunden… und zwar hatte ich jemanden damit durch die Stadt fahren sehen: diese Person hatte ich damals gestellt, das Fahrrad gesichert und die Polizei gerufen … so bekam mein Vater sein Rad wieder. Wunder geschehen manchmal.

Ich konnte Anatol mit dieser Geschichte etwas beruhigen. Vielleicht geschieht ja noch einmal ein Wunder. Andernfalls muss Anatol sich damit abfinden, dass unser schönes blaues Fahrrad in die ewigen Jagdgründe der Fahrräder eingegangen ist und nur in seiner Erinnerung weiterleben wird.

Eben ist Anatol in sein Nestchen gekrochen und will jetzt versuchen, zu schlafen. Dieser Tag hat ihn sehr mitgenommen.

Was heut müde gehet unter,
Hebt sich morgen neugeboren.
Manches bleibt in Nacht verloren –
Hüte dich, bleib wach und munter!

Joseph von Eichendorff

63. Kapitel – With a little help from my … Omi !

Es ist kurz nach eins. Anatol hat das Mittagessen bald fertig, während ich noch an meiner Novelle schreibe, mit der ich endlich ein gutes Stück weitergekommen bin.

„Anatol, ist Elie denn noch nicht zu Hause?“ rufe ich in die Küche. Dort ertönt ein Klappern, irgendetwas muss dem Butler heruntergefallen sein.

„Was erschrickst Du mich so! Fast hätte ich mich beim Kartoffeln-Abgießen verbrüht. Nein, Elie ist noch nicht da. Komisch – die Schule war doch heute nach der 5. Stunde aus, nicht?“

Das ist richtig. Elie hätte eigentlich um zwanzig vor eins hier sein müssen. Ich beginne, mir Sorgen zu machen. „Anatol, kannst Du gucken, wo Elie steckt? Den Schulweg abgehen oder so? Ich würde gern noch etwas weiterschreiben.“

„Unmöglich. Ich bin noch nicht mit dem Essen fertig – gerade erst fange ich mit der Soße für den Nachtisch an. Ich kann jetzt nicht weg. Sonst gibt es heute Mittag kein Essen.“

Seufzend stehe ich auf. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich selbst aufs Rad zu schwingen und nach Elie zu suchen.

Schnell fahre ich den Hainholzweg hinunter, über den Friedländerweg in Richtung Cheltenhampark. Dort, direkt am Parkeingang, steht Elies Roller – das Handarbeits-Täschchen am Lenker baumelnd.
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Wo ist Elie?

Ich höre ein leises Wimmern. Zwei Schritte weiter finde ich den Dinosaurier, unter einem Baum sitzend – in Tränen aufgelöst.IMG_2577

„Was ist denn passiert? Anatol und ich haben uns Sorgen gemacht! Hat Dich jemand geärgert?“

„Nein!“ heult Elie. „Es ist die Spinne!“ Auf meinen entgeisterten Bick hin fängt Elie an, sein Missgeschick zu erzählen. Er sei um halb eins aus der Schule gekommen. Mit seinem Roller sei er durch den Park gefahren und am Kornelkirschenbaum vorbeigekommen. Dort habe er den Roller kurz abgestellt und ein paar Kornelkirschen gepflückt. Als er dann mit dem Roller habe weiterfahren wollen, sei ihm eine Spinne aufgefallen, die heimtückisch sich vom Lenker direkt in sein Handarbeits-Täschchen abgeseilt habe und dann in den Tiefen des Täschchens verschwunden sei.

Elie hat panische Angst vor Spinnen. Es sei ihm unmöglich gewesen, den Roller mit dem am Lenker hängenden Täschchen und der mutmaßlich sich darin befindenden Spinne zu berühren und nach Hause zu fahren. Er habe sich daher in sicherer Entfernung hingesetzt, die Tasche im Auge behalten, und darauf gewartet, dass die Spinne wieder aus der Tasche herausklettere. So warte er seit einer halben Stunde.

Ich muss mich ebenfalls setzen. „Elie, Du weisst, dass Dir die hiesigen Spinnen überhaupt nichts tun können? Es gibt keinen Grund, vor ihnen Angst zu haben. Sie sind im Gegenteil sogar sehr nützliche Tiere, denn sie halten uns die Mücken vom Leib!“

Dann frage ich vorsichtig: „Wie groß ist diese Spinne überhaupt, die jetzt angeblich in Deinem Handarbeits-Täschchen sitzt?“

„Sie ist gigantisch!“ schreit Elie und zeigt mit seinen Tatzen eine etwa 2 mm große „Riesenspinne“ an.

„Ich werde die Spinne jetzt aus Deinem Täschchen herausholen, ok?“ sage ich, nehme das Täschchen vom Lenker und öffne es. Eine Spinne sehe ich nicht. Ich entnehme der Tasche das Nadelkissen, die Wollknäuel, Stricknadeln und Häkelhaken … aber keine Spinne.

„Elie, hier ist keine Spinne drin. Kann es sein, dass sich die Spinne gar nicht in das Täschchen hinuntergehangelt hat? Sondern dass sie sich brav bis auf den Boden abgeseilt hat und dann ihres Wegs gekrabbelt ist?“

„Nein nein, das kann nicht sein“ weint Elie. „Sie muss da drin sein, bestimmt! Hol sie bloß raus aus dem Täschchen! Ich kann die Sachen jetzt gar nicht mehr anfassen vor Angst – und das Schlimmste ist, dass ich bis übermorgen eine Nadelarbeit machen muss – Fräulein Evers will sie am Mittwoch haben! Die wird auch benotet!“ Elie ist verzweifelt.

„Elie, das ist verrückt. In deinem Täschchen ist KEINE Spinne. Es gibt deshalb auch keinen Grund, das Täschchen und die ganzen Sachen nicht mehr anzufassen. Wir fahren jetzt nach Hause, dann gibt es Essen und heute Nachmittag fängst Du an, diese Nadelarbeit vorzubereiten. Wenn Du Fräulein Evers erzählst, dass Du die Hausarbeit nicht gemacht hast, weil angeblich eine Spinne in Dein Handarbeits-Täschchen gekrochen ist, wird sie bestimmt noch wütender auf Dich als sie es sowieso schon ist.“

Elie ist in „Textil- und Handarbeiten“ leider mit Abstand der schlechteste Schüler der Klasse, was aber nicht daran liegt, dass er unbegabt ist. Nein: Elie weigert sich beharrlich, die von der Lehrerin vorgegebenen Themen zu beachten.

Wenn er ein Wandbild aus Stoff besticken soll, fertigt Elie lieber eine Umhängetasche an. Begründung: „Wandbilder sind doof! Umhängetaschen sind toll.“ Wenn ein Webstoff hergestellt werden soll, baut Elie aus den Webschiffchen Pfeil und Bogen und schießt damit auf Fräulein Evers. Den kleinen Schulwebrahmen funktioniert er zu einem Saiteninstrument um und zupft darauf herum. Im Kunstunterricht, den ebenfalls Fräulein Evers gibt, malt Elie, was ihm gerade einfällt – nicht aber die von der Lehrerin festgelegten Motive. Dem Panther, der in einem Dschungelbild auftauchen soll, gesellt er ein Pantherbaby hinzu („Es ist kein Panther, sondern eine Pantherin, und das hier ist ihr Pantherbaby!“). Auf den Befehl, das Pantherbaby mit Deckweiss zu übermalen, da es nicht ins Sujet gehöre, antwortet Elie mit Wutgeheul. Das Pantherbaby bleibt – Elie kassiert dafür eine 5. Er hat sein Pantherbaby gerettet – nur das zählt.

Die anderen Schüler, allen voran der smarte Angelo, schütteln den Kopf. Doch Elie bleibt ein rebellischer Geist. Fräulein Evers gesteht zwar zu, dass Elie durchaus kreative Ideen habe. Diese würden jedoch ihren Unterricht sprengen. Elie hat daher in Kunst und Handarbeiten eine 6.

Es wird nun Zeit, diese Note zumindest in eine 5, besser noch in eine 4 zu verwandeln – das gibt sogar Elie zu. Aus diesem Grund will er auch die Textil-Hausarbeit richtig gut machen.

Wie dem auch sei – eine weitere eingehende Untersuchung der Handarbeitstasche fördert keine Spinne zu Tage. Widerstrebend nimmt Elie endlich seinen Roller und wir können nach Hause fahren, wo Anatol mit einer leckeren Kartoffelsuppe auf uns wartet. Zum Nachtisch gibt es Apfelstrudel mit Vanille-Soße!

Nach dem Mittagsschlaf lasse ich mir von Elie die besagte Nadelarbeit, die Fräulein Evers ihm aufgegeben hat, zeigen. Elie soll aus Stoffresten ein Nadelbuch nähen. Im Grunde eine schöne Aufgabe, denn es soll ein nützlicher Gegenstand hergestellt werden. Nur wie soll Elie das schaffen? Er ist mit Nadel und Faden völlig überfordert. Schon will er wieder in Tränen ausbrechen. Ich selbst bin ebenfalls ratlos.

Hier mischt Anatol sich ein. „Das wäre ein klarer Fall für Omi. Sie würde das perfekte Nadelbuch nähen!“

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Es stimmt. Ich erinnere mich: meine Omi war mir bei derlei Aufgaben immer eine große Hilfe gewesen. Sie hatte mir die Handarbeiten aber nicht abgenommen, sondern hatte mir gezeigt, wie man näht und mit welchen Tricks eine Nadelarbeit richtig gut wird. Die eine oder andere Naht hatte sie mir aber auch einfach genäht. Omi war großartig. Leider hatte ich das Handarbeiten später ganz aufgegeben und die von Omi erlernten Dinge wieder vergessen.

Elie weiss nicht, dass wir Omi nicht mehr um Rat fragen können. Hoffnungsvoll meint er „Dann rufen wir Omi doch einfach gleich an!“ Anatol erklärt Elie, dass das leider nicht mehr möglich ist, und erntet Verzweiflungsgeheul.

Ich spreche ein Machtwort: die Handarbeit wird für heute eingestellt. Morgen sei immer noch genügend Zeit, um das Nadelbuch anzufertigen. Heute habe Elie ausreichend Aufregung erlebt, und schließlich seien auch noch die Rechen- und Sachkundehausaufgaben zu bewältigen. Das Nadelbuch müssen nun warten.

Ich nehme die Stoffreste und die anderen Nähsachen von Elie an mich, lege sie in mein Nähkästchen zu den Handarbeitsutensilien, die Omi mir zum Teil noch geschenkt hatte, und schließe das Kästchen in den Schrank ein.

Dann überlege ich fieberhaft, was zu tun ist. Eins ist klar: weder Anatol noch ich geschweige denn Elie sind in der Lage, das geforderte Nadelbuch zu nähen.

Der Dienstag verstreicht, ohne dass wir an das Nadelbuch denken. Am Dienstag Abend fällt Elie siedendheiss ein, dass die Handarbeit noch nicht fertig, ja nicht einmal begonnen ist. Was nun? Die Arbeit muss morgen in der Schule abgegeben werden!

IMG_2582Ich lasse mir das Nähkästchen von Elie bringen. Wir müssen nun improvisieren. Anatol guckt mir gespannt über die Schulter – wie werden wir wohl aus ein paar Stoffresten ein regelrechtes Nadelbuch zaubern? Irgendeine Notlösung muss uns nun einfallen, daran führt kein Weg vorbei.

Elie stellt das Nähkästchen auf den Tisch und öffnet es.

Und da – oh Wunder! – ein prachtvolles, aus den Stoffresten zusammengenähtes und wunderschön besticktes Nadelbuch liegt ganz obenauf im Nähkästchen. Elie ist sprachlos – ebenso wie Anatol und ich.IMG_2583

Ich nehme das Nadelbuch aus dem Kästchen heraus. In das Buch sind schon die Nadeln und auch meine Handarbeitsschere – die, die Omi mir damals geschenkt hatte, und die mich mein ganzes Leben lang begleiten soll – eingesteckt.

IMG_2585Elie steht der Mund offen. Anatol sieht mich ungläubig an und flüstert atemlos: „Meinst Du, Omi  ist gekommen und hat das für Elie genäht? Nur wie …?“

Ich kann ebenfalls nicht erklären, was hier passiert sein mag.

IMG_2587Elie wird mit dem hübschen Nadelbuch seine erste Eins in Handarbeiten bekommen. Die Note ist nicht verdient, da Elie das Büchlein nicht selbst genäht hat. Elie ist aber so glücklich über das Nadelbuch, dass er sich ins Handarbeiten regelrecht hineinstürzen wird. Er wird später einer der besten Schüler von Fräulein Evers werden, sehr zum Erstaunen letzterer.

Ich werde Elie nicht verraten, dass ich am Dienstag Vormittag zu Annas Eltern ins Schneideratelier gegangen war und dort die missliche Lage erklärt hatte. Annas Eltern waren glücklicherweise sehr verständnisvoll gewesen und hatten ein wunderschönes Nadelbuch für Elie genäht – so wie Omi mir damals auch bei meinem Nadelbuch geholfen hatte.

Ob Fräulein Evers die Hausarbeit Elie nur auferlegt hat, um ihm die Chance zu geben, mit etwas „Nachhilfe“ zumindest eine  ordentliche Arbeit vorweisen zu können und so im Zeugnis der 3. Klasse in Handarbeiten keine 6, sondern eine 5 zu bekommen, wird jedoch niemand von uns je erfahren.

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 Von links nach rechts: Onkel Lothar, Judith, Omi – und ich,

am 19. August 1980.

 

 

61. Kapitel – Im Glutofen der Sonne

Anatol ist seit 4 Uhr morgens wach. Er hat alle Fenster aufgerissen und für Durchzug gesorgt. Leider ist die Luft draußen auf der Straße kaum kühler als hier in der Wohnung.

Heute soll der heisseste Tag des Jahres werden. Es sind 38°C angekündigt.

Anatol wedelt mit dem Thermometer herum. „Die ganze Nacht über hatten wir hier in der Wohnung 28°C. Das ist sehr, sehr warm. Wir müssen viel trinken, und vor allem dafür sorgen, dass auch die Katzen ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen.“

Katzen sind leider sehr schlechte Trinker, was ihnen nicht gut tut.

IMG_1537Elie hingegen freut sich über die Hitze. „Ich ziehe nachher meinen Chèche über, und gehe zu Lilian! Der hat ein ganz tolles Planschebecken, ein richtiges aus blauem Eisen, nicht nur so ein Gummibecken zum Aufblasen! Dort spielen wir ‚Lawrence of Arabia‘ !“

Richtig. Das Planschebecken. Ich erinnere mich: auch wir hatten, als wir Kinder waren, ein solches Planschebecken. Es wurde nur zu ganz seltenen Anlässen aufgepustet – dies erledigte mein Vater, der jedesmal danach vor Atemnot fast in Ohnmacht fiel, denn wir hatten keine Pumpe! – und dann mit etwa 10 cm Wasser befüllt. Wasser war schließlich teuer und man musste sparen. Ich denke aber auch, dass meine Eltern Angst hatten, dass in dem Becken etwas passieren könnte, wenn zuviel Wasser darin war.

Deshalb war das Planschebecken zwar jedesmal ein riesiges Fest, aber mehr als die Füße baden konnte man darin nicht wirklich.

Als wir noch in Leichlingen wohnten, hatten Nachbarn auch so ein Becken wie Lilian. Es war auch blau und musste nicht aufgeblasen werden, da es aus Metall war. Allerdings durften wir dort nur unter strenger Aufsicht planschen, denn das Becken war gut 40 cm tief. Ich war damals erst 2 oder 3 Jahre alt. Dementsprechen verschwommen sind meine Erinnerungen an dieses gigantische blaue Becken.

Anatol reisst mich aus meinen Gedanken. „Elie, Lilian wollte doch heute mit seinen Eltern zur Großmutter nach Meppen fahren. Das wird also nichts mit dem Planschbecken. Lilian ist heute nicht da.“

Fataler hätte die Wirkung nicht sein können. Elie bricht in verzweifeltes Wutgeheul aus. „Ich WILL aber heute ins Planschbecken! Dann müssen wir eben ins Freibad gehen!!“

Es ist nicht mal 7 Uhr, wir haben 30°C, die Katzenklos quellen über und ein Saurier dreht durch: Ich ertappe mich bei dem Wunsch, ebenfalls vor Wut zu heulen. Vor allem: bei 38°C gehe ich nicht in ein Freibad. Allein die Vorstellung von den Menschenmassen im Wasser lässt mich erschauern – vom Geräuschpegel einmal ganz abgesehen. Elie weiss das – um so größer ist seine Verzweiflung.

Glücklicherweise hat Anatol eine rettende Idee. „Wir könnten auf dem Balkon ein Planschbecken aufbauen. Vielleicht kann ich sogar ein Sonnensegel aufziehen. Dann haben wir etwas Schatten.“

Schlagartig verstummt das Geheul. Anatols Idee war gut. Elie beruhigt sich – zumindest vorübergehend. Ich spreche jedoch ein Machtwort. „Ihr beiden macht Euch jetzt bitte fertig. Währenddessen kümmere ich mich um die Katzen und putze die Küche. Danach gehe ich in die Dusche und Ihr bereitet bitte das Frühstück vor. Und wenn wir dann gefrühstückt haben, dann überlegen wir, wie wir das Planschbecken auf dem Balkon einrichten. Erst wird gefrühstückt – keine Widerrede!“

Die Butler sind mit diesem Ablauf glücklicherweise einverstanden.

Kurze Zeit später sind die Katzen gefüttert, die Küche ist geputzt und wir haben gefrühstückt.

Anatol fällt ein, dass der eine Trinkbrunnen von Keramik im Hof nicht in Betrieb ist. Den könnte man als Planschbecken einsetzen.

Meinen Regenschirm werde er zur Markise umfunktionieren, kündigt Anatol an, während ich die Trinkbrunnenschale abspüle und mit Wasser fülle. Elie holt indessen das Tüchlein von der „Sendung mit der Maus“ aus dem Badezimmer. Das sei ein prima Badehandtuch, findet er.

Bald ist alles aufgebaut. Die Saurier planschen fröhlich in dem Trinkbrunnen und spritzen sich gegenseitig naß. Jauchzen und Plätschern dringen vom Balkon in die Wohnung.

IMG_2499„Gibt es auch Eis?“ ruft Elie.

Nein, Eis gibt es nicht. Ich stelle aber in Aussicht, dass wir möglicherweise später am Nachmittag zur Eisdiele gehen und jedem eine Kugel Eis kaufen – wenn es bis dahin etwas kühler geworden ist.

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59. Kapitel – Die Straßen von San Francisco

Den ganzen Nachmittag habe ich mich mit einem steuerrechtlichen Problem herumgeärgert – einer seltenen Frage im Bereich der internationalen Koproduktion, gepaart mit einer Betriebsstättenproblematik und Abstechern ins Bilanzrecht. Um 19 Uhr fühle ich mich wie erschlagen, zumal das Problem weiterhin nicht gelöst ist.

Ich packe meine Sachen zusammen und will das Weite suchen, entschließe mich im letzten Moment aber doch, die abscheuliche Akte mit nach Hause zu nehmen. Möglicherweise kann ich sie am Abend doch noch erledigen: Elie und Anatol sind heute nicht zu Hause, und so habe ich etwas Ruhe.

Die beiden Butler sind bei Ante, einem Klassenkameraden von Elie eingeladen. Ante kommt aus Jugoslawien (heute wäre Antes Heimat vermutlich Kroatien); seine Eltern sind Gastarbeiter in einer Göttinger Fabrik. Weder sie noch Ante sprechen richtig Deutsch; leider sind Antes schulische Leistungen daher sehr mäßig. Herr Bock, der Klassenlehrer, hat Ante deshalb neben Elie gesetzt. Elie soll Ante alles erklären, was Ante nicht versteht. Gleichzeitig soll er Ante etwas ruhig halten, denn Ante ist äußerst zappelig. Kein Wunder – wenn man den halben Tag in der Schule stillsitzen muss und dabei nichts vom Unterricht mitbekommt, weil man die Sprache nicht beherrscht, dann kann man schon etwas ungeduldig werden.

Elie hatte vor ein paar Tagen erzählt, dass Antes Mutter in die Schule gekommen sei, um den Lehrer zu sprechen. Ante hatte dabei ein wenig „übersetzt“, und da Elie vorher mit Ante gespielt hatte, hatte er das Gespräch mitbekommen. Herr Bock hatte Antes Mutter nahegelegt, zu Hause mit Ante nur Deutsch zu sprechen, damit Ante es lerne. Elie hatte das zuerst logisch gefunden – dann war ihm aber klargeworden, dass es mit dem „zu Hause nur Deutsch sprechen“ etwas schwierig war, wenn niemand Deutsch konnte.

Zunächst hatte Ante ihm vor allem leid getan, denn er wurde oft wegen seines fehlerhaften Deutsch von den anderen Schülern gehänselt. Elie hatte sich mit ihm angefreundet. Danach hatte Elie aber bemerkt, dass die Freundschaft mit Ante große Vorteile mit sich brachte: Ante war deutlich größer und stärker als Elie. Auf dem Schulhof traute sich niemand mehr, Elie zu ärgern – nicht einmal Angelo. Auch die Hänseleien wegen Antes Deutsch hatten bald aufgehört, denn Ante wusste sich sehr entschlossen zur Wehr zu setzen, wenn es sein musste.

Ante war ein paarmal bei uns zum Mittagessen gewesen, wenn er nicht nach Hause gehen konnte, weil die Eltern und die Geschwister mittags nicht da waren. Ganz besonders die Pfannekuchen mit der Erdbeermarmelade hatten es ihm angetan! Um sich dafür zu revanchieren, hatte er nun Anatol und Elie diesen Freitag Nachmittag und sogar zum Übernachten eingeladen.

Um sicher zu gehen, dass seine Eltern auch damit einverstanden waren, hatte ich vor ein paar Tagen bei Ante angerufen, hatte dort aber nur einen großen Bruder erreicht, der mir versicherte „Eltern arbeiten jetzt. Anatol und Elie sehr willkommen – für Freitag!“ Ich hatte mich sehr  herzlich bedankt, Grüße an die Eltern ausgerichtet und Anatol und Elie eingeschärft, sich ordentlich zu benehmen, von allem zu probieren, was ihnen angeboten wurde und beim Tischdecken und Abwaschen zu helfen.

Anatol und Elie sind heute mittag nach der Schule also nicht nach Hause, sondern zu Ante gegangen.

Etwas spät fällt mir ein, dass ich nicht einmal Antes Adresse habe – aber da mir ja die Telephonnummer vorliegt, denke ich mir nichts weiter dabei.

Ich widme mich nun eingehend meiner steuerrechtlichen Problematik, und vergesse für einige Stunden alles um mich herum.

Das Schrillen des Telephons reisst mich aus meinen Forschungen auf.

Ich hebe ab. Am Telephon ist ein völlig aufgelöster Anatol. Er kann kaum sprechen. „Bitte komm sofort – wir brauchen Hilfe! Ich hab nur noch 10 Pfennig zum Telephonieren! Wir sind mit Ante in der Kneipe im Maschmühlenweg – nebenan ist ein halb abgerissenes Haus, und da ist eine schwerverletzte Katze! Wir müssen sie retten!“

Die Verbindung bricht ab.

Entgeistert sehe ich auf die Uhr. Es ist 22 Uhr durch! Ich habe über meine Akte völlig die Zeit vergessen. Was um Himmels Willen machen drei kleine Dinojungen nach 22 Uhr – mitten in der Nacht ! – in einer Kneipe im Göttinger Maschmühlenweg – der schlimmsten Gegend Göttingens überhaupt? Schließlich glaube ich sie wohlversorgt bei Ante zu Hause – und dort schon lange im Bett!

Und dann die verletzte Katze – die muss natürlich gerettet werden. Mit dem Fahrrad ein unmögliches Unterfangen – ich klingele kurzentschlossen bei den Nachbarn, bei denen noch Licht brennt und bekomme das Auto ausgeliehen. Schnell hole ich den großen Transportkorb aus dem Keller, nehme ein paar Döschen Katzenfutter dazu – und fahre los.

Kurze Zeit später biege ich in den Maschmühlenweg ein – eine verrufene Gegend. Vor der Kneipe sehe ich das Grüppchen stehen: Anatol winkt verzweifelt, Elie versucht, sich hinter Ante zu verstecken. Ich steige wutentbrannt aus dem Auto aus, erkläre den Spitzbuben jedoch zu allererst, dass es nun nicht Zeit für Schimpfe sei – zuerst muss die Katze gerettet werden. Danach hätte ich ein erstes Wort mit allen Beteiligten zu reden.

Ante sieht sehr betroffen aus. Er versucht, mir das Geschehene zu erklären. „Alles nur meine Schuld. Elie und Anatol wussten nicht. Meine Eltern heute arbeiten. Deshalb wir in Kneipe. Leute dort kümmern sich!“

Ich bedeute Ante, dass ich ihm keinen Vorwurf mache. Meinen beiden Butlern hingegen werfe ich einen bösen Blick zu. Sie hätten mich anrufen müssen, als klar war, dass Antes Eltern heute arbeiten mussten. Die drei hätten schließlich auch zu uns kommen können – und nicht allein auf der Straße oder in einer Kneipe herumstromern müssen!

IMG_0416Anatol zeigt mir den Hinterhof, wo die Katze sich angeblich aufhalte. „Die Katze kann nicht richtig laufen! Sie zieht die Hinterbeine hinter sich her und kann nicht damit auftreten – sie fällt immer wieder um!“ Ich vermute Schlimmstes. Das Tier ist offensichtlich schwer verletzt.

Der Hinterhof ist voller Holzreste, Bauschutt und Glasscherben. Das Dachgeschoss des Hinterhauses ist bereits abgerissen – der Rest wird in Kürze folgen. Eine Katze kann hier nicht überleben – schon gar nicht, wenn sie verletzt ist.

Da – ich sehe das Tier. Eine rot-weisse Katze, sicher ein Kater. Ich öffne eine Dose – da versucht das Tier bereits, sich zu nähern. In der Tat kann der Kater die Hinterbeine nicht richtig aufsetzen, er muss auf dem schnellsten Wege zum Tierarzt. Ante sagt „Katz hier in Gefahr. Muss weit weg gebracht werden! Braucht auch Arzt!“ Ante hat alles zusammengefasst.

Wir stellen den Transportkorb in die Nähe des Tieres, etwas Futter ganz weit hinten in den Korb … und setzen uns hinter den Korb, um das Türchen schließen zu können, wenn der Kater drinnen ist.

Nun sehen wir voller Entsetzen, wie der arme Kater sich mit den Vorderpfoten bis zu dem Transportkorb schleppt. Er schafft es, in den Korb hineinzuklettern – verschwindet ganz darin und fängt gierig an, zu fressen. In diesem Augenblick schließe ich geräuschlos das Türchen, breite eine große dunkle Decke über den Korb – und der Kater ist in Sicherheit. Anatol jubelt!

Ante fragt „Kommt Katze jetzt in Tierklinik?“ Ich nicke. Ante sieht erleichtert aus. Er muss sich um das Tier große Sorgen gemacht haben. Elie bekommt von der Fangaktion nichts mit, denn er liegt im Auto meiner Nachbarn und schläft.

Ich setze den Transportkorb mit dem Kater, der nun ordentlich randaliert, in den Kofferraum, wo er nicht umfallen kann. Anatol und Ante lasse ich auf die Rückbank zu Elie, der tief und fest schläft.

Anatol druckst herum. Irgendetwas will er nicht sagen, Ante stubst ihn aber immer wieder an. Ich frage: „Anatol, was gibt es? Da ist doch etwas!“

Anatol gibt verschämt zu, dass sie die Kneipenrechnung noch nicht beglichen haben. Ante habe sein Essen bezahlt, Elie und Anatol hätten nicht genug Geld dabei gehabt. Ob ich das bitte übernehmen könne.

Ich bin außer mir. Eine Kneipenrechnung haben die beiden Butler auch noch produziert! Ich klappe die Autotür zu, befehle Anatol, sich nicht zu entfernen, und betrete die Kneipe.

Ein leutseliger Wirt steht gläserwienernd hinter dem Tresen. Er weiss, für wen ich bezahlen möchte, noch bevor ich etwas sage. „Sie zahlen für die zwei kleinen Dinos“ stellt er fest. Ich bestätige das. „Ok … Ante hat schon bezahlt, er zahlt immer sofort. Für Ihre zwei Kleinen macht das zusammen 10 Mark 45. Was haben sie gekriegt … Bratkartoffeln, Spiegelei, Cola und Salat. Und zum Nachtisch Schokoladeneis.“ Ich zahle und will mich schnell entfernen. Der Wirt fügt hinzu „Schade – Ihre beiden hatten sich wie die Schneekönige auf „Die Straßen von San Francisco“ gefreut. Jetzt konnten sie die Folge gar nicht gucken.“

Ich wähne mich einer Ohnmacht nahe. Auf meinen fassungslosen Blick hin beeilt sich der Wirt, mir die Sachlage zu erklären. „Wissen Sie, wenn die Eltern nachts arbeiten müssen und die Kinder bei uns essen, müssen wir sie irgendwie bei Laune halten. Freitags dürfen sie dann hier „Die Straßen von San Francisco“ gucken. Wenn das zuende ist, sind die Eltern meist von der Arbeit wieder da und nehmen sie mit nach Hause. Ja ich  weiss, dass das sehr spät ist. Aber ich hab die Kleinen lieber hier drinnen vor dem Fernseher als draußen auf der Straße. Und Ihre beiden planen das ja schon lange, hier in die Abendvorstellung zu kommen. Warum kommen Sie nicht auch mal mit?“

Ich bin sprachlos! Die ganze Geschichte scheint von Anatol und Elie (Rädelsführer muss allerdings Anatol sein – da bin ich mir sicher!) seit Wochen eingefädelt. Die beiden dürfen „Die Straßen von San Francisco“ zu Hause nicht sehen, da die Serie erst um 22 Uhr 30 anfängt und zumindest für Elie ganz ungeeignet ist. Er ist dafür viel zu klein. Das hat die beiden jedoch nicht abgehalten, sich hier in der Kneipe einen regelrechten Kinobesuch zu organisieren!

Allerdings kam ihnen der verletzte Kater „in die Quere“ – ich bin froh, dass die beiden Übeltäter ihre Spätvorstellung geopfert haben, um das draußen umherirrende Tier zu retten.

Als erstes bringe ich Ante nach Hause. Sein großer Bruder ist da – so muss ich zumindest kein schlechtes Gewissen haben, Ante allein dazulassen.

IMG_0420Die nächste Fahrt geht in die Tierklinik, wo der Kater – Anatol hat ihn in der Zwischenzeit „Emile“ getauft – in der Obhut der diensthabenden Ärztin gelassen wird.

Der Kater kann nicht auf den Hinterpfoten stehen. Die Ärztin ist besorgt, verspricht aber, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Emile zu helfen.

Emile muss die Nacht in der Tierklinik verbringen.

Es ist nun Mitternacht. Endlich fahren wir nach Hause. Ich stelle das Auto ab, werfe meinen Nachbarn den Autoschlüssel in den Briefkasten und steige müde die Treppe hinauf. Anatol und Elie schlummern in meiner Tasche.

Ich setze sie in ihr Nestchen und falle ins Bett. Morgen ist Samstag, und ich werde genug Zeit haben, den Butlern gehörig die Leviten zu lesen.

Epilog

Ante wird 1978 nach der dritten Klasse die Bonifatiusschule verlassen. Ob seine Familie und er nach Jugoslawien zurückkehren, werde ich nie erfahren. Ich werde Ante nie wiedersehen.  Ich hoffe, dass – wo immer Ante heute sein mag – es ihm dort gut geht.

Emile stellt sich am Morgen nach der Fangaktion als unkastrierter, nicht identifizierter und sehr lieber Kater heraus. Emile ist offensichtlich schwerbehindert, hat aber weder Brüche noch Verletzungen. Trotz gründlichster Untersuchungen – Emile wird sogar eine MRT über sich ergehen lassen – wird die Ursache für seine Behinderung nicht gefunden werden. Emile wird schließlich als Ataxiekater in seine neue Familie vermittelt. Dort lebt er auch heute noch glücklich mit mehreren Katzenkameraden.

Meine Butler werden am Morgen nach ihrer Eskapade eine gehörige verbale Abreibung erfahren.

Ich werde aber erwägen, ihnen möglicherweise in Zukunft doch zu erlauben, „Die Straßen von San Francisco“ zu sehen – wenn auch unter Aufsicht.

58. Kapitel – Erneuerungen: ein Besuch bei Levi’s

Es ist Samstagmorgen – eben komme ich aus der Dusche. Ich freue mich, denn die Sonne scheint und der Tag verspricht, wunderschön zu werden. Gleich nach dem Frühstück steht ein Großeinkauf auf dem Markt an, danach möchte ich eine Freundin in der Stadt besuchen. Da die Butler samstags frei haben, werde ich heute mittag – wie jeden Samstag – mit Freunden in der Trattoria essen.

Schnell will ich in meine Jeans schlüpfen, da geschieht das Unglück. Ein häßliches reissendes Geräusch – die Jeans ist aufgeplatzt. Ich bin bestürzt.

„Anatol!“ rufe ich. „Meine Jeans ist im Eimer! Kannst Du mir bitte die andere bringen, die leichte? Es soll heute recht warm werden. Die kaputte nehme ich mit zu Saït, er kann sie bestimmt reparieren – das hoffe ich wenigstens.“ Saït ist unser Schneider.

Anatol öffnet den Kleiderschrank im Schlafzimmer und wühlt sich durch das Jeans-Fach. Endlich zerrt er die Jeans heraus, die ich heute anziehen möchte. Aber anstatt sie mir zu bringen, schmeisst er die Jeans hinter sich auf das Parkett und fängt an, die gesamten anderen Hosen aus dem Fach zu reissen.

„Sieh Dir das nur mal an!“ zetert er. „Hier haben wir ausgebleichte, formlose Jeans Nr. 1.  Das ist ausgefranste, verbeulte Jeans Nr. 2! Nun kommen verwaschene, unförmige Jeans Nr. 3 bis 6! Und hier – endlich! – kommt Deine einzige anständige Hose, die weder ausgebleicht noch verwaschen noch ohne Form ist. Nur kannst Du sie heute nicht anziehen – sie ist ja viel zu warm! Ich lasse Dich mit dem abgewetzten Krempel nicht mehr auf die Straße. Es sieht schlimm aus! Hast Du Dich mal von hinten gesehen?“

Ich bin sprachlos. Was nimmt dieses Biest sich heraus? Es stimmt allerdings, dass ich meine Jeans-Sammlung schon seit langer Zeit besitze. Ich liebe jedes einzelne Stück davon. Was können meine Jeans denn nur haben – insbesondere „von hinten betrachtet“!?

„Deine Jeans – jedenfalls die für den Sommer! – sind so ausgeleiert, dass sie Falten werfen! Von hinten sieht es unmöglich aus. Du kannst damit nicht mehr zur Arbeit gehen, und eigentlich will ich Dich so nicht mal auf den Markt lassen. Eine Schande ist es!“

Ich glaube, meine Mutter zu hören. Meine Jeans sind doch noch fast neu – ich habe sie vor nicht einmal 10 Jahren gekauft!

Anatol schüttelt den Kopf. „Wir kaufen Dir heute neue Jeans. So geht es nicht mehr weiter!“

Ich wehre dieses Ansinnen sofort ab. Gerade erst hatte ich die Matrosenbluse und die Trägertops gekauft, nun muss es gut sein. Schließlich wollte ich dieses Jahr eigentlich gar keine neuen Klamotten erstehen.

„Anatol, es gibt für mich keine Jeans. Bei Somewhere haben sie nur Karottenhosen. Die kann ich nicht tragen – mit Karottenhosen sehe ich aus wie Rumpelstilzchen. Bei Esprit gibt es die elegante Bootcuthose seit Monaten nicht in meiner Größe – und zudem ist sie viel zu warm für den Sommer. Promod hat nur die ganz ausgebleichten Jeans. Bei Mexx gibt es keine Bootcut-Jeans, und in die von Zara passe ich nicht rein. Tja, das war es dann mit Jeans.“ Diesen Argumenten wird Anatol nichts entgegenzusetzen haben, denke ich.

Weit gefehlt. „Und Du glaubst, dass es nur in diesen Läden Jeans zu kaufen gibt?“ fragt Anatol – eine rhetorische Frage. Er weiss, dass ich nur ungern die mir bekannten Marken wechsle. Insbesondere sind mir teure Designerläden ein Greuel. Dort kaufe ich nichts. Anatol ist das bekannt. Dennoch hat er einen weiteren Pfeil im Köcher, das sehe ich ihm an.

„Wir gehen heute vormittag zu Levi’s. Bei Levi’s haben sie richtig schicke Hosen und perfekte Passformen. Da finden wir was für Dich, womit man Dich auf die Straße lassen kann!“

Ich traue meinen Ohren nicht. Levi’s? Das ist viel zu teuer – und außerdem habe ich gelesen, dass die sogenannten „Markenjeans“ keinen Deut besser seien als die billigen von Promod und Co. Auch sollen sie voller Pestizide sein!

„Das mag alles sein, auch wenn ich es nicht in allen Fällen glaube. Ja – und Pestizide sind in vielen Jeans drin, in den billigen und den teuren. Das nimmt sich nichts. All das ist kein Grund, mit so abgewetzten Jeans rumzulaufen, wie Du es tust! Ob Du willst oder nicht, wir gehen jetzt zu Levi’s.“

Antol springt in meine Handtasche und schweigt. Ich weiss, dass er nicht mehr mit mir sprechen wird, bevor wir nicht in diesem Levi’s-Store waren. Ich finde die Methode des Butlers zwar unverschämt, muss aber zugeben, dass meine letzten Levi’s-Jeans (1993 in Freiburg gekauft und später leider mehreren unerwünschten Kilos zum Opfer gefallen) mir in der Tat bis heute unvergesslich sind. Etwas abschreckend ist bei Levi’s jedoch – und dies ist ein gewichtiges Argument – der Preis.

Der Einkauf auf dem Markt ist schnell erledigt. Ich lasse Anatol seinen Willen und fahre mit ihm in die Stadt, in den besagten Store. Dort angekommen, schärfe ich Anatol allerdings ein, dass er in meiner Tasche zu bleiben hat. Vor den Verkäufern möchte ich mich nicht zum Gespött machen.

Ich mag Jeans-Läden – wieso auch immer. Die meisten Dinge dort stehen mir gar nicht: ich kann weder die gerade geschnittenen Jeans gut tragen noch die allgegenwärtigen Holzfällerhemden – geschweige denn die aktuell wieder in Mode gekommenen „Slim“-Jeans. Es ist einfach nicht mein Stil. Dennoch gefällt mir die Atmosphäre in diesen Läden. Vielleicht, weil es solche Geschäfte in meiner Kindheit nicht gab, und ich sie – wie die große Freiheit – erst in meinem Studium entdeckte? Als Kinder trugen wir keine Jeans. Wir hatten Lederhosen: im Sommer eine kurze, im Winter eine knielange. Meine allererste Jeans erstand ich mit 17 Jahren in „Tuti´s Shop“ in Göttingen – einer Boutique, die Kleidung im Sarah-Kay-Stil anbot…

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In der „Girls“-Abteilung des Levi’s-Ladens fällt mir angenehm auf, dass die anwesenden Kundinnen in etwa so alt sind wie ich bzw. sogar älter. Wenn ich etwas nicht mag, sind das Boutiquen, in denen sowohl Kundschaft als auch Verkaufspersonal 25 Jahre jünger sind als ich. Die heutigen Käufer von Levi’s entstammen aber offenbar sämtlich der großen Zeit der einstmals legendären Marke: den 60er Jahren.

Ein freundlicher Verkäufer fragt, ob er mir behilflich sein könne. Ja, das kann er. Ich weiss genau, was ich will – und hoffe insgeheim, dass es hier nicht zu finden sein wird – nämlich eine Bootcut-Jeans in dunklem Denim, Größe 27/32.

Triumphierend mustere ich den Verkäufer – sicher hat er das Gewünschte nicht da und wir können wieder gehen.

Hier irre ich jedoch. Der junge Mann geht zielsicher auf ein Regal zu, zieht mit einem Griff die beschriebene Jeans – dark denim, Bootcut, 27/32 – heraus und präsentiert sie mir. „Sie können sie dort in der Umkleide anprobieren. Bitte sagen Sie mir dann, ob sie passt – wenn nicht, bringe ich Ihnen sofort eine andere Größe.“ Der Verkäufer bleibt in der Nähe der Umkleidekabinen und hält sich offenbar für den weiteren Verlauf meines Besuchs in der Boutique zu meiner Verfügung.

Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal in einem Klamottenladen so zuvorkommend und individuell bedient worden bin. Mit der Bootcutjeans in der einen und einer vor Aufregung zappelnden Handtasche ziehe ich mich in eine Kabine zurück. Man kann sie sogar von innen verriegeln. Dies tue ich, bevor ich die Handtasche öffne.

IMG_2491Anatol springt aufgeregt wie ein tasmanischer Teufel aus meiner Tasche. „Zeig zeig zeig!“ ruft er. „Pssssst! Anatol, gib Ruhe! Der Verkäufer darf Dich nicht bemerken, auf gar keinen Fall!“ flüstere ich.

Schnell ziehe ich die Jeans über. Sie passt wie angegossen.

Anatol ist außer sich vor Begeisterung. „Siehst Du? Ich habs Dir gesagt! Die Jeans von Levi’s sind super. Sie machen den besten Po!“

Ich bin schockiert. „Anatol, was sind das für Redensarten? So etwas will ich nicht hören!“

IMG_2489Anatol gibt zu, dass er sich den Satz von Benedict, einem Schulkameraden abgehört habe. Von Benedict scheint auch die Begeisterung für Levi’s zu kommen. Ich ersuche Anatol, zumindest Benedicts Ausdrucksweise schnellstens wieder zu vergessen.

Dann verlasse ich die Umkleidekabine, um die Jeans vor dem großen Spiegel zu begutachten. Auch hier kann ich nur bemerken, wie perfekt, wenn auch eng, die Hose sitzt. Der Verkäufer stellt in Aussicht, dass sich die Jeans etwas weiten werde – ich dürfe sie auf keinen Fall zu groß kaufen. Auch weist er mich darauf hin, dass dieses Modell nicht mehr nachgeliefert werde – die nächste Kollektion werde es nicht mehr enthalten.

Ein Fiepen und Kratzen dringt aus meiner Umkleidekabine. Anatol kann offenbar nicht an sich halten und will mir etwas sagen. Der Verkäufer sieht mich verunsichert an. „Hatten Sie denn einen Hund dabei? Den habe ich gar nicht bemerkt…“ bemerkt er fragend. „Nein, das ist mein Handy!“ erwidere ich schnell und verschwinde in der Umkleidekabine.

„Anatol, bei Dir piepts wohl! Der Verkäufer hat Dich gehört – und die anderen Kundinnen sicher auch! Was denkst Du Dir denn nur dabei? Nun muss absolute Ruhe sein!“

IMG_2492Anatol flüstert atemlos „Du hast Doch gehört, was der Mann gesagt hat! Die tolle Jeans ist ein Auslaufmodell! Da musst Du zwei von kaufen. Dann kannst Du sie häufiger wechseln und sie nutzen sich nicht so schnell ab. Sei froh, dass Du endlich eine so gut sitzende Jeans gefunden hast.“

Mich trifft der Schlag. Gleich zwei solcher Jeans soll ich kaufen? Anatol nickt. „Das geht. Ich weiss es. Du solltest es unbedingt tun!“

‚Dieser Saurier wird mich ruinieren‘ denke ich im Stillen. Dennoch probiere ich eine zweite Jeans an – auch sie sitzt perfekt.

Seufzend begebe ich mich zur Kasse – weiss ich doch, dass das Biest keine Ruhe geben wird, bevor ich die Hosen nicht käuflich erworben habe.

An der Kasse steht eine ältere Dame – ebenfalls Kundin – und beglückwünscht mich zu meinem Kauf. Sie selbst kaufe nur noch hier ein – so begeistert sei sie von der Qualität, der bequemen Passform und dem Kundenservice. Sichtlich gebauchpinselt von dieser Gratis-Werbung packt der Verkäufer meine Hosen in eine Papptüte und ermuntert mich, das Geschäft bald wieder zu beehren. Ich halte mich dazu bedeckt, reiche dem Verkäufer verschämt meine Kreditkarte und verlasse schleunig den Laden – erschlagen ob des soeben ausbezahlten Betrages.

Den Butler weise ich an, genaueste Recherchen zu Nachhaltigkeit und sozialem Engagement der Marke anzustellen. Nach dem Kauf ist die natürlich etwas spät.

Der Nachhauseweg beruhigt mich zumindest insoweit, als ich beginne, mich über die schönen Jeans zu freuen.

Im Briefkasten finde ich einen Brief meiner Krankenkasse vor. Mit einem mulmigen Gefühl öffne ich ihn. Derlei Schreiben sind meist kein gutes Zeichen.

Diesmal ist dem aber nicht so. Die Krankenkasse berichtet erfreut, dass sie auf Grund besonders umsichtigen Wirtschaftens einen Betrag an jedes ihrer Mitglieder auszahlen könne.

Der Betrag deckt den Kauf der Levi’s fast vollständig ab. Ich bin sprachlos.

Anatol grinst mich spitzbübisch an. „Ich habe doch gesagt, Du kannst die Hosen kaufen. So etwas darfst Du mir ruhig glauben.“

Misstrauisch beäuge ich das Kuvert. Aber der Brief war ungeöffnet. Wie zum Teufel konnte das Biest das wissen …?

Anatol schweigt sich jedoch hierzu aus.

57. Kapitel – Das Referat

Bald sind Schulferien. Für Anatol steht vorher noch das große Physik-Referat an, das er vor der ganzen Klasse – und insbesondere vor Angelo, dem Physikcrack – halten muss. In wenigen Tagen ist es soweit. Anatol ist sehr aufgeregt.

Warum das Referat? Anatol ist in Physik nicht sonderlich begabt. All meine Versuche, ihm Nachhilfe zu geben, sind kläglich gescheitert. Das Schuljahr zog sich mit Vieren und Fünfen in Physik hin, bis der Physiklehrer Herr Hildebrandt endlich im 2. Halbjahr ankündigte, man werde nun bis zum Ende des Schujahres Atomphysik durchnehmen.

Obwohl ich es mir mit rechten Dingen nicht erklären kann, schreibt Anatol in Physik plötzlich Einsen. Das Gebiet macht ihm Spaß, und immer öfter sehe ich ihn in sein Physikbuch und diverse andere Physik-Unterlagen vertieft am Schreibtisch sitzen. Woher die Begeisterung für dieses Fach kommt, kann ich nicht nachvollziehen. Anatol meint dazu nur „Ich verstehe das einfach. Atomphysik ist ganz logisch aufgebaut. Deshalb sind die Physikarbeiten für mich nicht schwierig. Bei der schreckliche Elektrophysik habe ich nie auch nur das Mindeste begriffen.“

In der Tat denke ich mit Grauen an die tränenverschmierten Physikarbeiten zurück, unter denen in großen roten Buchstaben das vernichtende Urteil „Ungenügend!“ stand. Die letzte Arbeit, die ungläubig mit einer „Eins“ unterzeichnet war, war hingegen ein Fest gewesen.

Herr Hildebrandt hatte die Wandlung Anatols vom Klassenletzten zum Einserkandidaten mit Freude beobachtet und war nun gewillt, Anatol in Physik eine glatte Eins im Schulzeugnis zu geben. Da aber ein Schüler von einer Vier minus nicht auf eine Eins hochgesetzt werden kann, ohne dass das Lehrerkollegium einbezogen wird, hatte Herr Hildebrandt eine Konferenz einberufen, auf der Anatols Fall besprochen wurde. In der folgenden Physikstunde hatte er dann erklärt, Anatol habe einen zusätzlichen Leistungsnachweis zu erbringen, sprich ein Referat über Atomphysik zu halten. Wenn dieses ebenfalls mit einer Eins bewertet würde, stehe der Eins im Jahreszeugnis nichts mehr im Wege. Dies habe das Lehrerkollegium entschieden.

Angelo, der Überflieger, hatte in der Pause verkündet, ein solches Referat sei außerhalb Anatols intellektueller Reichweite. Wer die letzten zwei Schuljahre in Physik nur mit Mühe die Vier habe halten können, der käme nicht auf eine Eins, das sei ausgeschlossen.

Angelo darf, obwohl mehrere Jahre jünger als Anatol, am Physikunterricht der Oberstufe teilnehmen, da er vor einem Jahr den ersten Preis bei „Dinojugend forscht“ gewonnen hat.

Anatol hatte voller Wut geantwortet „Wir werden ja sehen!“ und war dann schnell nach Hause gegangen. In Wirklichkeit befürchtet er natürlich, dass Angelo Recht behält. Das ist auch der Grund, warum er nun in jeder freien Minute sein Physikreferat überarbeitet. Leider kann ich ihm auf diesem Gebiet nicht wirklich helfen, und Elie öffnet nur große Augen, wenn er das Wort „Atom“ hört.

IMG_2457„Das Zeug haben sie doch in diesen Atomkraftwerken, die wir alle nicht mehr wollen! Das ist es doch? Ich will darüber lieber gar nichts wissen, ich habe Angst vor den Atomen! Deshalb habe ich auf meinem Ranzen ja auch einen Aufkleber mit „Atomkraft nein Danke“ drauf, und mein Zimmer ist zur atomwaffenfreien Zone erklärt!“

Elie hat vor kurzem „Die Wolke“ von Gudrun Pausewang gelesen und ist seitdem erklärter Gegner von Atomwaffen und Kernkraft. Zum Glück weiss er nicht so genau, woher unser Strom kommt.

Anatol stöhnt. „Elie, ich beschäftige mich rein theoretisch mit Atomphysik. Da ist nichts mit nuklearer Strahlung oder so. In meinem Referat geht es nicht um Kernspaltung. Es ist völlig ungefährlich. Du brauchst nicht mal in Deine atomwaffenfreie Zone zu gehen, um in Sicherheit zu sein. Außerdem bist Du sowieso die ganze Zeit von Atomen umgeben – selbst in Deinem atomwaffenfreien Zimmer. Alles besteht aus Atomen. Übrigens kann man sogar Atomphysiker sein und sich trotzdem gegen Atomwaffen und Kernkraftwerke aussprechen.“

Elie leuchtet dies nicht ein. Seine große Angst – neben der vor einem Atomkrieg – ist die, dass Anatol sich bei seinem Referat unendlich blamieren und Angelo ihn in Elies Klasse, in die er eigentlich geht, zum allgemeinen Gespött machen könnte – womit dann auch Elie der Lächerlichkeit preisgegeben wäre.

Diese Sorge ist durchaus berechtigt – hat doch Angelo angekündigt, dass er jetzt schon Zwischenfragen für das Referat im Sinn habe, von denen er ausginge, dass Anatol sie jedenfalls nicht werde beantworten können.

Heute ist der große Tag. In der Physik-Doppelstunde soll Anatol sein Referat halten. Gefasst, den Ranzen fest auf den Rücken geschnallt verlässt er das Haus. Das Lampenfieber sieht man ihm von weitem an.

Am Tag zuvor hatte Anatol darauf bestanden, das Referat einmal vor Elie zu halten – zur Probe. Ich durfte dabei nicht anwesend sein; angeblich hätte ich sowieso nichts verstanden. In Wirklichkeit war Anatol die Probevorlesung peinlich gewesen und so kam allein Elie in ihren Genuß. Eine dreiviertel Stunde hatte das Ganze gedauert, denn Anatol soll mit dem Referat eine Schulstunde füllen. Das war die Vorgabe von Herrn Hildebrandt gewesen. Nach 45 Minuten hatte ich verstohlen ins Dino-Zimmer geguckt: Anatol hatte mit hochrotem Kopf seine Unterlagen studiert, in denen er irgendeine Gleichung zu suchen schien; Elie war eingeschlafen und schnurchelte auf dem Sofa vor sich hin. Das hochwissenschaftliche Thema sei für Elie offenbar zu komplex gewesen, so Anatol. Nun gut.

Heute ab halb 11 heisst es also Daumen drücken. An der Physikstunde kann ich natürlich nicht teilnehmen.

Gegen 13 Uhr, kurz vor Schulschluss, stehe ich aber dennoch vor dem Max-Planck-Gymnasium, um die beiden Dinos auf dem Nachhauseweg abzufangen und zu erfahren, wie das Referat verlaufen ist.

Die Schultüre öffnet sich, und unzählige Schüler verlassen lachend und lärmend die Schule. Wo sind Anatol und Elie? Die Schule leert sich – ein paar Nachzügler verlassen das Gebäude noch, dann fällt die Tür mit einem Knarren ins Schloss.

Wo sind meine beiden Saurier?

Ich betrete die Schule, auf die ich selbst vor Jahren gegangen bin: ein eleganter Bau der Gründerzeit mit einem atemberaubend schönen Treppenaufgang.

Heute habe ich allerdings für die Treppe keine Augen, denn ich suche meine Butler.

Eine Lehrerin kommt mir entgegen – ich frage sie nach den beiden Dinos. Sie wirft mir einen strengen Blick zu. „Elie sitzt nach. Er hat einen anderen Schüler angegriffen. Das Lehrerkollegium erwägt einen Schulverweis.“

Mir rutscht das Herz in die Hose. „Elie??“ frage ich entsetzt. „Elie hat sich noch nie aggressiv verhalten. Es muss sich um ein Missverständnis handeln! Und was ist mit Anatol?“

Die Dame führt mich zum Lehrerzimmer. „Anatol hatte heute ein Referat, in dem seine Fähigkeiten in Physik überprüft werden sollten. Da das Referat auf Grund eines Zwischenfalls nicht ordnungsgemäß zuende geführt werden konnte, hält er es nun noch einmal im Lehrerzimmer. Bitte warten Sie hier, bis Anatol fertig ist.“

Davon kann keine Rede sein. Ich warte hier auf keinen Fall, während Elie in Einzelhaft nachsitzt. Ich verlange, Elie sofort sehen zu dürfen. Die Lehrerin will dies zunächst nicht gewähren, nachdem ich aber mit Nachdruck darauf bestehe, werde ich in den „Karzer“ geführt. Ich bin schockiert. Eine solche Einrichtung gab es zu meiner Zeit nicht in dieser Schule.

Die Dame mustert mich scharf. „Sie müssen in den 70er und 80er Jahren zur Schule gegangen sein. Damals war ja alles erlaubt. Sogar Schulbesetzungen wurden geduldet. Diese Zeiten sind vorbei!“

Ich schlucke. Das ist nicht die Schule, die ich einmal gekannt habe.

Die Lehrerin öffnet ein kleines Schulzimmer – den „Karzer“. Erleichtert sehe ich Elie an einer Schulbank sitzen, ein freundlicher Lehrer muss ihm Papier und Wachsmaler dagelassen haben. Elie springt von der Bank auf und ist mit einem Satz auf meinem Arm. Um seine Fassung ist es geschehen: hemmungslos beginnt er zu weinen.

„Sie wollen mich von der Schule werfen!“ schluchzt er. „Dabei ist es alles nur Angelos Schuld!“

„Elie, beruhige Dich. Ich bin sicher, dass sich alles klären lässt. Warum ist Anatol nicht bei Dir geblieben? Ich hätte das eigentlich von ihm erwartet!“

„Anatol ist in die Lehrerkonferenz einbestellt worden, sie wollten ihm noch Fragen stellen. Da konnte er nicht weg. Ich habe dann in dem Raum hier gesessen und gemalt. Herr Hildebrandt war gar nicht besonders böse auf mich. Er hat mir erlaubt, ein paar Bilder zu malen, während ich auf Anatol warten sollte. Nur die neue Lehrerin, die immer so streng ist, war sehr ungehalten mit mir. Sie spricht immer von Disziplin und Ordnung. Wir sollen lernen, Autoritäten anzuerkennen, sagt sie. Ich verstehe das nicht!“

Ich bin fassungslos. Was ist mit meiner alten Schule geschehen? Als ich 1979 dort in die 5. Klasse kam, sprach niemand von Autorität und Disziplin … wir hatten ein gutes Verhältnis zu allen Lehrern. Nicht einmal der Direktor hatte mit mir geschimpft, als er mich eines Tages von der großen Linde herunterholen musste, auf die ich in der Pause geklettert war. Er hatte nur gesagt „Kleines, das ist gefährlich. Tu das bitte nicht. Du könnstest Dich verletzen.“

Eine antiautoritäre Reformschule war das MPG nicht, das stimmt. Aber eine Disziplinaranstalt mitsamt einem Karzer – das hatte es hier nie gegeben.

Ich nehme mir vor, der autoritären Lehrerin bei Gelegenheit einen Vortrag über Reformpädagogik zu halten, obwohl ich weiss, dass diese zur Zeit alles andere als in Mode ist. Aber dafür habe ich im MPG gelernt, dass man manchmal gegen den Strom schwimmen muss.

Ich will nun wissen, was vorgefallen ist.

Elie schildert mir die Ereignisse des Vormittags. Anatols Referat habe in der 6. Stunde, der letzten Stunde vor Schulschluss stattgefunden. Er – Elie – habe in dieser Stunde frei gehabt, und da er Anatols Referat im Original habe miterleben wollen, habe er sich heimlich in den Physikraum eingeschlichen. Einigen Schülern aus Anatols Klasse sei er natürlich aufgefallen, aber die hätten ihn hinter ihren Büchern und Federmäppchen versteckt gehalten. So habe Herr Hildebrandt nichts gemerkt.

Anatol habe kaum angefangen zu sprechen, da habe Angelo ihn bereits unterbrochen, und eine Zwischenfrage zur Quantenphysik gestellt. Er hoffe doch, dass Anatol auch dieses Thema behandeln werde? Anatol habe geantwortet, sein Referat widme sich selbstverständlich auch der Quantenphysik. Er werde etwas später dazu kommen und bitte um ein wenig Geduld. Herr Hildebrandt sei außerordentlich beeindruckt gewesen, denn Quantenphysik steht nicht einmal ansatzweise auf dem Lehrplan.

Zunächst habe Anatol die verschiedenen Kernmodelle dargestellt – das sei offenbar für Anfänger gewesen, denn Angelo habe ungeduldig mit seinem Bleistift auf die Schulbank getrommelt. Kurze Zeit später kam die nächste Zwischenfrage. Ob Anatol denn nicht bald auf die Relativitätstheorie zu sprechen kommen wolle? Anatol habe dies bejaht. Das komme gleich!

Herr Hildebrandt habe sich verwundert am Kopf gekratzt. Er hatte sichtlich nicht erwartet, dass Anatol in seinem Referat so weit ausholen würde.

Die nächste Frage von Angelo habe nur kurz auf sich warten lassen. Mit Nachdruck forderte er, dass Anatol an dieser Stelle die berühmte Schrödingergleichung erläutere, und zwar im Hinblick auf nichtrelativistische Quantensysteme – falls Anatol denn wisse, was das sei.

Hier habe Elie sich nicht mehr zurückhalten können. Zum einen habe er die ständige Fragerei als unfair empfunden, zum anderen habe er aber auch befürchtet, dass das Referat sich so noch weit in den Nachmittag hineinziehen würde. Er habe eine solch unbändige Wut auf den smarten Überflieger – Preisträger von Dinojugend forscht und Dinojugend musiziert, schlimmer noch: neuer Schwarm von Anna, Elies heimlicher Liebe – bekommen, dass er das Physikbuch seines Banknachbarn ergriffen, sich mit dem heiseren Schrei „Deine Quanten werd ich Dir zeigen!“ auf Angelo gestürzt und unter Gebrüll mit dem Physikbuch auf den Primus eingeprügelt habe.

Anatols Referat sei damit beendet gewesen. Da es unmöglich erschien, die Aufmerksamkeit der johlenden Schulklasse wieder zu Anatols Vortrag zurückzuholen, seien die Schüler nach Hause geschickt und Anatol ins Lehrerkollegium gebracht worden, wo er das Referat zuende halten durfte.

Elie habe indessen die Zeit mit Malen überbrücken sollen. Die gestrenge Lehrerin habe ihm gesagt, er könne für den Vorfall mit dem Physikbuch von der Schule geworfen werden. Das habe ihm große Angst gemacht. Er habe doch nur Anatol verteidigen wollen … und er habe es nicht mehr ausgehalten, dass das Referat sich länger und länger dahingezogen habe.

Die Tür öffnet sich. Herr Hildebrandt tritt ein, Anatol neben sich. „Anatol hat seine Eins im Zeugnis!“ verkündet er freudestrahlend. „Sein Referat war eine großartige Leistung. Mit Elie sollten Sie hingegen einmal ein ernstes Wort reden. Und nun dürfen Sie endlich in die Mittagspause.“ Er hält uns die Tür auf, flüstert Elie zu „Elie, Schulbücher sind zum Lesen da – nicht zum Schlagen!“ und entlässt uns mit einem Zwinkern in die Freiheit.

Elie will nun doch etwas wissen. „Die ganzen Fragen von Angelo – die zur Quantenphysik, zur Relativitätstheorie und dieser komischen unrealistischen Gleichung – hattest Du das denn alles in deinem Referat drin?“

„Nein.“ sagt Anatol. „Die Fragen von Angelo konnte ich unmöglich beantworten. Das war mir von vorneherein klar. Deshalb hatte ich mir überlegt, ihn mit den Antworten auf später zu vertrösten. Solange, bis mich die Schulklingel irgendwann gerettet hätte. Nun ja, das hast Du ja dann übernommen …“

IMG_1939Elie ist zutiefst zerknirscht. Er möchte am liebsten im Erdboden versinken.

„Du hast also nur geblufft, als Du behauptet hast, das käme alles noch? Und ich dachte, ich sitze da um vier Uhr nachmittags noch … Oh Mann… “

Nun können die Ferien beginnen.

51. Kapitel – Der 10. Mai

Heute ist mein Geburtstag! Schon ganz früh bin ich auf – an meinem Geburtstag habe ich immer sehr viel zu tun.

Eigentlich hatte ich mich auf ein schönes Frühstück mit den Butlern gefreut. Aber was muss ich sehen, als ich verschlafen in die Küche komme?

Nichts ist vorbereitet. Gar nichts. Die Katzen sind nicht gefüttert, die Klos nicht gemacht, der Boden nicht gewischt. Mein Geburtstagsfrühstück werde ich mir selbst zubereiten müssen.

Was ist los mit den Butlern?

Elie sitzt bekümmert im Nestchen. Er ist seit mehreren Tagen nicht ansprechbar. Anna, die verwegene Piratin von nebenan, geht mit Angelo, dem Rivalen aus Elies Klasse (zumindest vermutet Elie das) – und Elie versinkt im Liebeskummer.

Anatol sitzt schon seit 6 Uhr wieder an seiner Physik-Schulaufgabe. Er ist in Physik keine besondere Leuchte, aber der Ehrgeiz hat ihn gepackt. In einer Woche soll er ein wichtiges Referat halten, und unter den Zuhörern wird auch – ja wer wohl – Angelo sein. Anatol will sich auf keinen Fall blamieren und fürchtet nichts mehr als die bohrenden Nachfragen des Überfliegers.

Nachdem ich die Küche, den Flur und das Bad geputzt habe (die Katzen haben die Örtlichkeiten recht extensiv genutzt), setze ich mich auf die Trittleiter an der Küchenablage und will zumindest einen schönen Jasmintee und die leckeren Vollkornbrötchen von Dreher genießen… Und da sehe ich das gesamte Ausmaß der heutigen Morgenkatastrophe: die Marmelade ist alle. Nicht mal darum haben sich die Butler gekümmert!Nun gibt es also trockene Brötchen, und danach muss ich bügeln, bevor ich mich ins Getümmel des Samstagseinkaufs stürze.

Zurück bleiben ein geknickter Elie und der in seine Physik-Unterlagen vertiefte Anatol. Nicht einmal gratuliert haben sie mir.

Ich werde mit den Guten heute abend ein ernstes Wort reden müssen!

49. Kapitel – Polizei-Einsatz in der Löwenstraße

IMG_1950Was war heute nur für ein schlimmer Tag. Den ganzen Morgen sitze ich wie auf heissen Kohlen im Büro, weil Capucine heute an den Zähnen operiert wird. Erst gegen Mittag darf ich in der Tierklinik anrufen – und das auch nur, um zu erfahren, dass ich mich gegen 16 Uhr wieder melden soll.

Vom großen Direktor (oder Diktator?) als subalternes Nichts verachtet, muss ich meine Arbeit über wohlgelittene Kollegen dem Direktor zuleiten. Fragen können nur über Dritte geklärt werden. Mit mir kann man nicht direkt sprechen. Bin ich aussätzig?

Schließlich will ich mich am Kuchen, den eine liebe Kollegin mitgebracht hat, trösten – und werde wüst zurechtgewiesen, dass es nach einem Stück nun gut sein müsse.

Ich bin froh, dass sich der Tag dem Ende zuneigt. Capucine geht es besser – die Operation ist gut verlaufen und das Kätzchen darf nach Hause. Die erste positive Nachricht des Tages!

Als ich mit Capucine zuhause ankomme, warten die Butler mit einer Überraschung auf. Das Laptop steht auf dem Schreibtisch, aufgeladen und schreibbereit. Um den Computer herum stehen Tellerchen, die mit belegten Broten gefüllt sind. Einen schönen warmen Tee brüht Anatol gerade auf.

Ich fühle die Absicht – bin aber nicht verstimmt. Ich weiss nur nicht, ob mir heute nach Schreiben zumute ist. Vor dem Fernseher abhängen … das wäre jetzt mehr nach meinem Geschmack.

Aber das wird nicht akzeptiert.

Kerstlingeroederfeld2„Wir haben Schulferien.“ erklärt Elie. „Trotzdem sind wir immer noch hier – nur weil Du wieder keinen Urlaub nehmen wolltest! Alle anderen sind verreist. Und wenn wir schon keine echten Abenteuer erleben können, dann wollen wir wenigsten welche lesen. Und zwar Abenteuer, in denen wir vorkommen! Was sollen wir denn sonst nach den Ferien erzählen? Angelo ist mit seinen Eltern in San Franzisco – damit kann keiner mithalten. Aber wenn wir noch nicht einmal erzählen können, dass wir zumindest am Kerstlingröder Feld oder an der Mackenröder Spitze waren  – ja also dann sind wir erledigt.“

Anatol nickt beipflichtend. Er gießt mir einen Tee ein und meint „Wir lassen Dich jetzt in Ruhe. Dir wird schon was einfallen! Neues Essen und Tee gibt es erst, wenn Du etwas geschrieben hast.“

Es ist fast zwei Uhr nachts – ich bin noch wach. Die Sommernacht ist warm – so warm, dass man nur mit weit geöffneten Fenstern etwas Luft bekommt. Unter mir rumort und bullert das Dampfross. Aus dem Savo nebenan dringt Musik. Die Straßen sind voller Menschen – trotz der späten Stunde. Lachen und Schwatzen dringen von der Straße hoch bis in meine Wohnung. Manchmal bleibt ein kleines Grüppchen Studenten unter meinem Fenster sitzen – nichtsahnend, dass nur wenige Meter über ihnen jemand alles hört, was sie plaudern. Leidenschaftliche Liebesabenteuer, traurige Erlebnisse, nichtbestandene Prüfungen … all dies wird des Nachts unter meinem Fenster erzählt. Ich weiss, dass ich das Ende der Geschichte nie miterleben werde – die jungen Leute stehen irgendwann auf und gehen weiter. Aber das macht nichts. Ich kann die Geschichte ja selbst zuendeführen – oder das Ende auch offen lassen.

Heute Nacht muss ich trotz der Hitze doch eingeschlafen sein. Eine samtige Pfote tatzelt mir ins Gesicht. Es ist Anatol. „Susanne!“ flüstert er eindringlich. „Wach auf! Da ist was auf der Straße unten! Ein ganz seltsames Geräusch! So wach doch auf!“

Ich öffne die Augen und komme langsam zu mir. Elie sitzt neben mir auf dem Kopfkissen. Er zittert vor Aufregung. Am Fußende schläft Katze Nini tief und fest.

Da – ich höre das Geräusch. Es klingt wie eine Metallsäge. Ein leises, gleichmäßiges metallisches Kreischen – ich stehe auf und sehe aus dem Fenster.

In der Tat sitzt auf der anderen Straßenseite eine zusammengekauerte Gestalt, die sich an einem Fahrradschloß zu schaffen macht und offensichtlich mit einer Säge daran zugange ist.

Der Schreck fährt mir in die Knochen – ist das ein Fahrraddieb? Ich verwerfe den Gedanken sofort. Vermutlich ist das jemand, der seinen Fahrradschlüssel verloren hat und nun versucht, sein eigenes Fahrrad aufzusägen. Ich will zurück ins Bett.

Anatol ist nicht meiner Meinung. „Wenn Du Deinen Fahrradschlüssel verloren hättest, würdest Du dann um drei Uhr nachts an dem Schloß rumsägen? Wieso hat der überhaupt um diese Uhrzeit eine Metallsäge dabei! Sowas hat doch kein normaler Mensch!“

Ich muss zugeben, dass Anatols Vorbringen schlüssig ist. Niemand würde nachts um drei mit einer Metallsäge sein eigenes Fahrrad lossägen. Zumindest sollte das nur in seltensten Ausnahmefällen vorkommen. Es handelt sich bei der kauernden Person mit der Säge also aller Wahrscheinlichkeit nach um einen echten Fahrraddieb!

Was nun?

Elie flüstert mit bebender Stimme: „Worauf wartest Du? Tu was! Der Kerl klaut sonst das Rad! Stell Dir mal vor, es wäre Deines! Ruf die Bullen!“

Ich sehe ein, dass wir die Sache nicht auf sich beruhen lassen können. Unschlüssig greife ich zum Telephon. Soll ich wirklich die 110 wählen? Vermutlich lacht man mich aus. Dennoch entschließe ich mich und rufe die Polizei an – unseren Freund und Helfer.

„Einsatzstelle Freiburg Mitte – bitte nennen Sie die Art des polizeilichen Notfalls“ sagt eine freundliche, ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung. Es muss ein Herr in den 50ern sein.

Atemlos berichte ich, was in der Löwenstraße gerade passiert. Ob bitte eine Streife kommen und das Fahrrad sichern könne?

Der freundliche Polizist sagt sofortige Hilfe zu. Er lässt mich eine Telephonnummer notieren, die ich anrufen solle, wenn sich die Lage zuspitzen sollte. So werde ich gleich an ihn verbunden und nicht erst in die Zentrale geschaltet.

„Wir schicken Ihnen eine Polizeistreife. Löwenstraße 3 sagen Sie? Direkt über dem Dampfroß? Ja, das kennen wir gut. Da sind wir oft im Einsatz. Die Kollegen fahren jetzt los. Bitte bleiben Sie in unmittelbarer Nähe Ihres Telephons.“

Anatol und Elie zittern nun beide vor Angst und Erregung – ich im Übrigen auch. Dies hier ist keine normale Situation! Das Telephon in der Hand (es hängt zum Glück an einem sehr langen Kabel) schleiche ich, die Butler direkt hinter mir, zum Fenster. Vorsichtig spinxen wir über das Fensterbrett. Nur nicht zu gut sichtbar sein!

Draußen sägt es. Der Dieb ist also noch nicht durch! Man hört das Geräusch bis auf die andere Straßenseite, bis hoch in meine Wohnung.

Da! nicht einmal 30 Sekunden später biegt ein Streifenwagen von rechts in die Löwenstraße ein! Unsere Freunde und Helfer sind prompt zur Stelle – das ist beruhigend. Wir halten die Luft an. Der Dieb wird die Polizei doch nicht bemerken?!

Der Streifenwagen fährt bis vor das Dampfross und parkt an der gegenüberliegenden Straßenseite, auf dem kleinen Platz, der zum KG II führt – vor dem Haus zur lieben Hand. Der sägende Dieb sitzt etwa 3-4 Meter weiter, seelenruhig in sein Sägewerk vertieft. Er sieht den Streifenwagen nicht.

Vier Polizisten steigen aus dem Wagen. Sie entdecken den mutmaßlichen Dieb ebensowenig wie er sie  – und hören ihn auch nicht, was verwunderlich ist. Ich winke aus dem ersten Stock herunter, aber auch ich bleibe unbemerkt.

In diese spannungsgeladene Situation hinein schrillt das Telephon! Ich hebe ab und traue mich nur, meinen Namen zu flüstern. Der Polizeibeamte von vorhin ist am Telephon. „Frau C.? Sind Sie da? Ja? Die Polizeistreife ist nun vor Ort. Hat sich die verdächtige Person entfernt? Die Streife kann sie nicht finden.“

„Nein, die verdächtige Person ist noch da! Sie sägt weiter an dem Fahrradschloß! Sie können das sogar durchs Telephon hören!“ Verzweifelt halte ich den Telephonhörer aus dem Fenster – und bedenke nicht, dass der Polizeibeamte durch das Telephon vielleicht hören, aber nicht sehen kann, wo der mutmaßliche Dieb ist.

Nun sehen die vier Polizisten aber mich oben am Fenster. „Wo ist der Tatverdächtige?“ fragen sie. Ich wedle hektisch mit dem Telephonhörer und zeige auf die gegenüberliegende Straßenseite: „Da, da ist er! Direkt neben Ihrem Streifenwagen!“

Die Polizisten drehen sich um – in diesem Moment merkt der mutmaßliche Dieb, dass hier etwas nicht stimmt, springt auf, lässt von dem Fahrrad ab und rennt los, aufs Unigelände, Richtung KG II – wo um diese nächtliche Stunde alles stockdunkel ist.

Die Polizisten machen sich heldenhaft an seine Verfolgung. Zurück bleiben Anatol, Elie und ich – und der Streifenwagen.

Ein Grüppchen angeheiterter Studenten nähert sich, vermutlich aus dem Savo kommend. Der Streifenwagen hat es ihnen angetan. Sie sehen sofort, dass niemand darin sitzt und dass auch kein Polizist in der Nähe ist.

Mit Entsetzen merke ich, dass der Wagen nicht abgeschlossen ist, denn die feuchtfröhliche Gesellschaft öffnet die Türen und macht es sich in dem Streifenwagen bequem, während der offenbar am wenigsten Angetrunkene versucht, den Wagen zu starten.

Mit zittenden Händen wähle ich die Notfallnummer, die der freundliche Polizist mir vorhin gegeben hat. Mein Freund und Helfer (aber bin nicht ich das gerade?) ist zuverlässig am anderen Ende der Leitung und möchte wissen, ob die verdächtige Person dingfest gemacht werden konnte.

„Nein!“ flüstere ich mit heiserer Stimme. „Die Kollegen verfolgen den Verdächtigen nun! Aber es gibt ein neues Problem: Ihr Streifenwagen wird gerade besetzt! Bitte schicken Sie schnell Verstärkung!“

Dem freundlichen Herrn stockt der Atem. „Unser Streifenwagen?“ „Ja!“ sage ich. „Es haben sich gerade 4 Personen hineingesetzt und versuchen, damit wegzufahren! Soll ich runtergehen und eingreifen?“

„Nein, Sie bleiben dort am Fenster und erstatten mir Bericht! Bleiben Sie am Apparat – auf keinen Fall auflegen!“ ruft der Herr noch – dann bin ich in einer Warteschleife.

Anatol und Elie sitzen wie erstarrt auf dem Fensterbrett. Mit versteinerten Mienen sehen sie zu, wie zwei der beschwipsten Spitzbuben im Fond des Streifenwagens singen und hüpfen – und sich sichtlich wohlfühlen. Die beiden vorne Sitzenden haben Schwierigkeiten, den Wagen anzulassen – aber vielleicht gelingt es doch!

Die Warteschleifenmusik setzt abrupt aus. Der freundliche Polizist ist wieder in der Leitung. „Frau C., bitte bleiben Sie am Telephon. Eine weitere Streife ist unterwegs. Bitte sagen Sie mir bescheid, sobald Sie sie sehen.“

Kaum 10 Sekunden später fährt in der Tat ein zweiter Streifenwagen vor. Ich erstatte dem Einsatzleiter en direct  Bericht. Anatol und Elie fühlen sich wie im Krimi, werden sie mir später sagen.

Drei Polizisten steigen aus und laufen auf den gekaperten Streifenwagen der unseligen ersten Streife zu. Die Autobesetzer merken, dass die Angelegenheit nun brenzlig wird und versuchen, zu fliehen – erfolglos. Zu hoch ist offenbar die Blutalkoholkonzentration.

Die vier Übeltäter werden vorläufig festgenommen, verwarnt, und nach Aufnahme ihrer Personalien nach Hause geschickt.

Indessen sind die Verfolger des verdächtigen Sägers unverrichteter Dinge vom Universitätsgelände zurückgekehrt. Der mutmaßliche Dieb konnte nicht dingfest gemacht werden. Ein Polizeibeamter erklärt mir dies unten vor dem Fenster, während ich alles per Telephon an den zugeschalteten Einsatzleiter weitergebe.

Da Ruhe und Ordnung nun wieder eingekehrt sind – der Streifenwagen wurde befreit, der Fahrradschloßsäger vertrieben – erklärt der Einsatzleiter die Intervention für erfolgreich beendet. Er freue sich, mir und den Butlern mitteilen zu können, dass wir nun  wieder ruhig schlafen könnten.

Ich bin mir dessen nicht ganz so sicher, bedanke mich aber bei den trefflichen Wachtmeistern für ihr beherztes Eingreifen.

Es ist mittlerweile nach vier Uhr. Elie friert vor Müdigkeit, Anatol ist hingegen noch etwas zu aufgekratzt, um ans Schlafen zu denken. Ich koche einen Tee für alle – aber als der fertig ist, schlummern die beiden Butler neben der zusammengerollten Nini, die von dem ganzen Polizeieinsatz nichts mitbekommen hat.

Fünf Minuten später schlafe auch ich tief und fest.

Am nächsten Morgen ist das Fahrrad, an dem der Verdächtige gesägt hatte, fort. Ich werde nie erfahren, ob der Dieb sein erbärmliches Werk später in der Nacht noch vollenden konnte – oder ob das Fahrrad von der Polizei sichergestellt und seinem rechtmäßigen Eigentümer übergeben wurde.

Wir hoffen natürlich, dass letzteres der Fall ist.

© R. Gschwendtner 2011

© R. Gschwendtner 2011

42. Kapitel – Lieblingslehrer

Photo: Ben Thies800px-Max-Planck-Gymnasium_Göttingen_Hauptgebäude

Anatol kann gar nicht mehr aufhören, von seiner neuen Klassenlehrerin zu erzählen. Sie heisst Frau Berger und gibt Englischunterricht. Anatol findet, sie könne nicht nur ganz toll Englisch, nein – sie sei auch noch unglaublich hübsch, und so freundlich zu den Schülern!

„Ich glaube, Frau Berger ist meine Lieblingslehrerin!“ erklärt er heute beim Abendessen. „Im nächsten Zeugnis will ich in Englisch eine Eins bekommen – damit sie merkt, wie gern ich sie mag!“

Diese sehr löbliche Einstellung kann ich nur unterstützen.

„Hattest Du auch eine Lieblingslehrerin?“ fragt Elie.

„Ja, das hatte ich. Meine Französischlehrerin, Frau Klein. Aber ich hatte auch zwei Lieblingslehrer.“

„Wie kann man denn gleich zwei Lieblingslehrer haben? Das geht doch nicht!“ meint Anatol.

„Doch, das geht.“ antworte ich. „Die beiden waren sehr unterschiedlich, aber ich mochte sie beide unglaublich gern. Wir hatten viele nette Lehrer, aber diese beiden waren etwas Besonderes. Der eine war unser Lateinlehrer, und der andere unterrichtete Geschichte.“

„Geschichte finde ich so spannend!“ sagt Elie. „Erzähl uns von Deinem Geschichtslehrer! Wieso war er besonders?“ Elie rutscht aufgeregt auf seinem Stuhl herum.

Ich willige ein und beginne, zu erzählen.

Es muss das Jahr 1983 sein …  gelangweilt sitzen wir – die 9b – an unseren Tischen. Gleich beginnt die Geschichtsstunde. Draußen scheint die Sonne wunderbar warm: der Sommer ist nicht mehr fern. Viel lieber würden wir jetzt auf dem Schulhof spielen – oder im Schatten unter der Linde ein gutes Buch lesen.

Unserer Geschichtslehrer betritt den Klassenraum. Es ist ein älterer Herr mit Glatze, die er vergeblich versucht, unter ein paar verbleibenden Haaren zu verstecken. Heimlich machen wir darüber Späße – achten aber darauf, dass er es nicht merkt, denn Herr von Wedemeyer ist sehr streng.

Heute ist er nicht allein – ein großer Schüler, scheinbar kaum älter als wir, begleitet ihn. Ob der bei uns in die Klasse gehen soll? Dazu sieht doch etwas zu erwachsen aus.

„Kinder, ich stelle Euch Herrn Reinecke vor. Er ist Referendar und wird Euch von jetzt an mit mir gemeinsam unterrichten. Heute wird er den Geschichtsunterricht geben – bitte seid aufmerksam und brav.“

Mit diesen Worten verlässt Herr von Wedemeyer das Klassenzimmer und lässt den Neuen mit uns allein.

Ein Referendar … normalerweise bedeutet das, dass man weder aufpasst noch irgendetwas von dem tut, was der Referendar anordnet. Ein Referendar ist Freiwild. Schließlich ist er kein „echter“ Lehrer – so denken wir zumindest. Der Klassenkasper hat bereits ein gut mit Spucke eingeweichtes Papierkügelchen in seiner Zwille – zack! fliegt es auf Herrn Reinecke zu.

Herr Reinecke reagiert allerdings nicht wie ein normaler Referendar, der versuchen würde, dem Geschoß auszuweichen. Er fängt die Kugel blitzschnell mit der linken Hand ab, bevor sie ihn treffen kann, und wirft sie mit einer spielerischen Handbewegung zielsicher in den mehrere Meter entfernten Papierkorb.

Der Klassenkasper blickt seiner Papierpatrone ungläubig nach, während Herr Reinecke trocken bemerkt „Nun können wir wohl mit dem Unterricht anfangen. Bitte holt Eure Bücher heraus. Wir werden die deutsche Revolution von 1848 durchnehmen. Könnt Ihr mir dazu etwas sagen? Wir wollen als erstes all das sammeln und aufschreiben, was Ihr über dieses Thema schon wisst. Wer ist denn die junge Dame hier gleich vorn? Susanne – bitte fange doch an, uns ein paar Stichworte zu sagen. Ich schreibe sie an die Tafel. Es wird jeder drankommen, keine Angst.“

Wir sind sprachlos. Einen solchen Referendar haben wir noch nie gehabt. Er weiss genau, was er tut – so als hätte er schon viele Jahre unterrichtet. Plötzlich sind wir alle – selbst die eingefleischten Leistungsverweigerer – motiviert, in Geschichte mitzuarbeiten. Geschichte wird unser Lieblingsfach.

Kurze Zeit später wird Herr Reinecke auch unser Sportlehrer. Dies zwingt mich dazu, meine Mutter so lange zu bearbeiten, bis sie mir endlich die hübschen Sportklamotten kauft, mit denen ich – wie alle anderen Mädchen der Klasse – gedenke, unseren smarten neuen Sportlehrer zu beeindrucken. Letzteres misslingt zwar vollständig, aber meine Leistungen in Geschichte und Sport verwandelen sich plötzlich von „mittelmäßig“ in „sehr gut“.

Herr Reinecke absolviert seine Referendarstation in unserer Klasse mit Bravur. Als er uns verlässt, um sein Examen vorzubereiten, wünschen wir ihm viel Glück und Erfolg – und erklären unumwunden, dass wir ihn danach als Geschichts- und Sportlehrer wiederhaben wollen. Etwas anderes akzeptierten wir nicht.

Es ist außerordentlich ungewöhnlich, dass ein Lehrer nach bestandenem Examen ausgerechnet in der Schule eine Stelle findet, in der er seine Referendarstation abgeleistet hat.

Wir haben dieses Glück: als wir in die 11. Klasse kommen, erwartet Herr Reinecke uns im Klassenzimmer – wir sind nun keine „Kleinen“ mehr, sondern gehen in die Oberstufe. Herr Reinecke verlangt uns hohe Leistungen ab – aber wir freuen uns auf jede Stunde bei ihm.

Herr Reinecke fehlt plötzlich. Die Geschichtsstunden fallen erst aus, dann vertritt ein anderer Lehrer. Wir erfahren, dass Herr Reinecke sehr krank ist, und dass er eine Dialyse braucht. Es ist das erste Mal, dass ich dieses Wort höre.

Ein paar Monate später ist Herr Reinecke wieder da – verändert. Er ist müde und man sieht ihm an, dass er krank gewesen ist. Dennoch gibt er uns weiter Sportunterricht und gönnt sich kaum Ruhe. Wir trauen uns nicht, ihn auf die Krankheit anzusprechen. Sie macht uns Angst, und wir wollen ihn nicht mit Fragen belasten.

Im Sommer gehen wir für eine Woche auf Klassenfahrt nach Heidelberg. Wir wünschen uns Herrn Reinecke als Begleiter. Eine Klassenkameradin spricht das aus, was wir alle denken: „Er ist ja so süß!“

Im Schwimmbad spielen wir Wasserball. Wir tollen so herum, dass ein älterer Herr sich etwas beschwert. Herr Reinecke – der so aussieht, als wäre er unser großer Bruder – sorgt schnell für Ordnung: einzig mit seiner freundlichen, bestimmten Art.

Geschichte wird mein mündliches Prüfungsfach im Abitur. Von der 9. Klasse an bis zum Abitur werde ich keinen anderen Geschichtslehrer mehr haben als Herrn Reinecke.

Am Tag der mündlichen Prüfung bin ich sehr aufgeregt. Herr Reinecke teilt die Prüfungsaufgabe aus: es geht um die Frankfurter Nationalversammlung – das habe ich ja bei ihm gelernt. Bevor er mich für die Vorbereitung der Prüfung alleinlässt, fragt er mich, ob alles ok ist – er sieht mir die Aufregung an. Ich nicke. Es kann nichts schiefgehen!

Eine Stunde später holt er mich zur Prüfung ab und sieht, dass ich mich beruhigt habe. Er klopft mir auf die Schulter und sagt: „Frisch, fromm, fröhlich, frei:  das schaffen wir jetzt, ok?“

Ich bestehe die Prüfung mit einer guten Note. Um nichts in der Welt hätte ich meinen Lehrer enttäuschen wollen.

1988 machen wir Abitur. Wir sind der erste Jahrgang, den Herr Reinecke zum Abitur bringt.

Ich gehe zum Studium in eine andere Stadt – und ins Ausland. Nach Hause komme ich nur selten, und in unsere alte Schule kehre ich gar nicht mehr zurück.

2008 feiern wir unser 20jähriges Abitur. Wie konnte die Zeit so schnell vergehen? Eben waren wir noch in der 9. Klasse …  Herr Reinecke ist natürlich auch auf unserer Feier – wie könnte er fehlen. Ich habe nur ein paar Minuten, um mich mit ihm zu unterhalten – zu viele Schulkameraden sind da, es gibt so viel zu erzählen. Dennoch bemerke ich, dass es Herrn Reinecke nicht gut geht. Er sieht sehr müde aus – ich hoffe, dass es nur vorübergehend ist.

Als ich von der Feier nach Hause fahre, nehme ich mir fest vor, beim nächsten Abiturtreffen Herrn Reinecke alles das zu sagen, was er uns Gutes getan hat – als Lehrer in seinem Unterricht, und als Mensch, der uns gezeigt hat, wie man erwachsen wird.

Ich werde ihn jedoch nie wiedersehen. Herr Reinecke stirbt im Mai 2013 mit nur 59 Jahren.

Elie laufen Tränen aus den Augen.

Anatol fragt ungläubig: „Und Du konntest ihm niemals sagen, wie gern Du ihn gehabt hast, und was er Dir als Lehrer bedeutet hat? Meinst Du nicht, er muss das gewusst haben?“

„Ich hoffe es, Anatol. Ich hätte damals mit ihm sprechen sollen. Warum habe ich das nur nicht getan.“

Anatol sagt entschlossen: „Morgen gehe ich als erstes zu Frau Berger und umarme sie ganz fest. Und dann sage ich ihr, dass ich und alle meine Klassenkameraden sie total lieb haben.“

Ich lächle.

„Das ist eine gute Idee, Anatol. Frau Berger freut sich ganz sicher darüber. Achte vielleicht nur darauf, dass Angelo Dich dabei nicht sieht.“

OLYMPUS DIGITAL CAMERAPhoto: Elke Rumpel

41. Kapitel – Das Palmsonntagskonzert beim Panther-Club

cropped-img_1210.jpgVorletzte Woche hat Herr Kuno, der Musiklehrer, die aufregende Neuigkeit verkündet : das Schulorchester ist vom berühmten Panther-Club, einer internationalen Wohltätigkeitsorganisation, für ein Konzert am Palmsonntag engagiert worden!

Am Sonntag vor Ostern arrangiert der Panther-Club traditionell eine Benefizveranstaltung, bei der auch immer ein Palmsonntags-Sinfoniekonzert stattfindet. Und für dieses Konzert ist das Schulorchester des Max-Planck-Gymnasiums – Anatols Schule – ausgesucht worden.

Anatol kann sich gar nicht mehr beruhigen. « Stellt Euch vor – wir werden im Park vor fast 300 Zuhörern spielen ! Wir werden berühmt ! »

Elie findet das weit weniger enthusiasmierend. Er spielt er erst seit kurzer Zeit Geige und weiss noch nicht, ob er das weiterführen will. Er ist eigentlich mehr vom Klavier angetan – aber ich möchte erst, dass er etwas Geige lernt. Die Geige kann man leichter überall hin mitnehmen und dann mit Freunden musizieren. Zudem haben wir kein Klavier – leider.

Anatol hingegen spielt schon in der ersten Geige. Er ist relativ begabt – und dementsprechend stolz auf sein Geigenspiel. Eine Gelegenheit wie das kommende Benefizkonzert ist eine großartige Bestätigung für ihn.

Die beiden Butler haben in den vergangenen Wochen sehr intensiv geprobt. Jeden Tag fand eine mehrstündige Orchesterprobe statt, und danach selbstverständlich noch die Übungen zu Hause – und die Einzelproben mit der jeweiligen Instrumentenstimme. Mehrfach war die erste Geige bei uns, um hier zu üben. Überflüssig zu erwähnen, dass der Konzertmeister natürlich Angelo ist. Er wird in dem Konzert auch einen Solopart spielen. Anatol ist sehr neidisch darauf. Leider ist Neid kein guter Ansporn – auch wenn er durchaus ungeahnte Energien freisetzen kann. So übt Anatol zur Zeit nicht wie üblich eine Stunde täglich, sondern vier. Ich habe alle Mühe, für Ausgleich zu sorgen – Anatol ist von dem Instrument nicht mehr wegzukriegen.

Ganz besonders wurmt Anatol, dass Angelo – obwohl mehrere Jahre jünger als er selbst – schon diverse Preise bei Dinojugend musiziert gewonnen hat. « Warum soll ich nicht bei Dinojugend musiziert mitmachen?! Warum verbietest Du mir das? Es ist so ungerecht! »

Ich berichtige Anatol. « Ich habe eine Teilnahme an Dinojugend musiziert nicht verboten, Anatol. Ich finde nur, dass diese Veranstaltungen mehr Dressur sind als Musik. Was mir daran überhaupt nicht gefällt, ist das Konkurrenzdenken, das den jungen Musikern dabei eingebleut wird. Musik hat aus meiner Sicht nichts mit Gewinnen oder Verlieren zu tun. Das habe ich Dir ja auch früher schon erklärt. »

Dass ich mit dieser altmodischen Ansicht vollständig überholt bin, ist mir klar. Heute muss man zu den Gewinnern gehören – immer und überall. Während ich früher mit meinen Freunden einfach nur gemeinsam Musik machen konnte, geht es heute darum, einen ersten Preis zu ergattern. Ich finde das traurig, und möchte meine Saurier davor so lange bewahren wie möglich. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, das weiss ich.

Aber noch eine andere Befürchtung bringt mich dazu, Anatol von einer Teilnahme an diesen Wettbewerben abzuhalten: Anatol ist zwar begabt, aber keinesfalls ein Genie. Sein Geigenspiel macht uns allen – und vor allem ihm selbst – viel Freude. Oft hat er ja mit Antonia musiziert, nun spielt er Duos mit Elie. Ich habe Angst, dass seine Unbefangenheit und Kreativität darunter leiden, wenn er auf den Wettbewerben mit der harten Realität konfrontiert wird. Mit winzigen Wundersauriern, die bereits als Vierjährige das Mendelssohn-Violinkonzert in einem Rutsch runterspielen. Mit Zehnjährigen, die schon an der Juilliard-School studiert haben und Preisträger von internationalen Wettbewerben sind. Und dass er sich selbst dann als Versager fühlt – obwohl er so schön Geige spielt und auch noch weitere Fortschritte machen kann. Kurz, ich sorge mich, dass ihm die Freude am Musizieren auf derlei Veranstaltungen verdorben wird. Dies sage ich ihm natürlich nicht, denn Anatol ist sehr ehrgeizig.

Elie dagegen – er spielt in der sogenannten « dritten Geige », eigentlich der Bratschenstimme – ist deutlich weniger motiviert. Der Bratschenpart ist nicht sehr inspirierend und besteht vorwiegend aus Pausen. Es ist daher Elies größte Sorge, möglicherweise einen Einsatz zu verpassen, wenn er sich bei den Pausen verzählt.

« Was soll ich denn nur tun, wenn ich den Einsatz nicht mehr weiss ? Herr Kuno gibt uns ja meist ein Zeichen, aber an manchen Stellen ist es nicht möglich. Ich habe Angst, das ganze Konzert zu vergeigen! Was ich dann von Angelo zu hören bekomme, darf ich mir gar nicht vorstellen! Er nennt uns ja jetzt schon „die Tuttischweine“! » Der Angstschweiss steht Elie auf der Stirn.

Anatol hat wie immer unfehlbare Tipps. « Die Pausen zählst Du jeweils mit der Anfangszahl durch. Erste Pause : 1-2-3-4 (wenn es ein Viervierteltakt ist). Zweite Pause : 2-2-3-4. Dritte Pause : 3-2-3-4. Und so weiter. Dann weisst Du immer, in welcher Pause Du gerade bist. Nach der 10. Pause zum Beispiel – die Du 10-2-3-4 zählst – kommt dann Dein Einsatz. Da kann nichts schief gehen, Elie ! »

Elie ist sich da nicht so sicher. Aus Erfahrung weiss er, dass trotz bester Planung immer noch Dinge schieflaufen können. Verzagt guckt er Anatol an. « Und wenn doch … ? Was dann ? »

« Tja, dann musst Du mit Bordmitteln arbeiten. Das heisst : Du musst improvisieren. Du weisst ja, in welcher Tonart das Stück komponiert ist. Und wenn Du meinst, Du bist grad dran, aber Du bist nicht ganz sicher, dann spielst Du einfach – lieber nicht zu laut ! – ein paar Akkorde in dieser Tonart. Außer, wenn gerade eine Modulation in eine andere Tonart stattfindet – dann nimmst Du die modulierte Tonart. Sonst lieber nichts spielen. Eventuell kannst Du den Bogen so bewegen, dass man denkt, Du spielst. »

Elie gibt zu bedenken, dass er nicht allein in der dritten Geige spielt. Da sind noch Miriam und Matthias, ein großer Junge, den er nicht so gut kennt.

« Ja klar – der Matthias hat mir beigebracht, wie man improvisiert. So haben wir das damals in der dritten Geige immer gemacht. Hat immer geklappt. Am besten macht ihr beiden (Miriam und Du) es so : ihr guckt, was Matthias spielt, und dann spielt ihr das Gleiche. Klar ? Angelo hat einen Solopart – der wird nicht darauf achten, was die dritte Geige gerade macht. Also keine Bange.» Elie nickt. Etwas Angst hat er immer noch. Aber ein wenig Lampenfieber ist nötig. Sonst fehlt dem Auftritt die Spannung.

Heute ist der große Tag: Palmsonntag – der Tag des Benefizkonzerts. Ich habe jegliches Üben verboten – man darf nicht übertrainieren. Im Konzert muss man frisch anfangen – und nicht die 5. Übeeinheit des Tages abspulen. Anatol akzeptiert das. Kurz vor dem Konzert werden im Orchester nur noch einmal die schwierigen Übergänge durchgespielt, aber mehr auf keinen Fall. Die Generalprobe ist bereits am Tag vorher gewesen – nun wird die Geige erst zum Konzert wieder angerührt.

Das Konzert wird am frühen Abend im Musikpavillon des Parks stattfinden. Zum Glück ist heute ein wunderbarer, sonniger Tag. Ich freue mich auf die Veranstaltung, die eine willkommene Abwechslung in meine Sonntagsroutine bringt.

IMG_2153Die beiden Saurier machen sich anderthalb Stunden vor Beginn des Konzerts mit ihren Geigenkästchen auf den Weg in den Park – nicht ohne mir eingeschärft zu haben, um 18 Uhr 30 ja pünktlich da zu sein. Ich verspreche das und wende mich meiner Arbeit zu. Ein wenig Zeit habe ich ja noch.

Um 18 Uhr 15 finde ich mich am Musikpavillon ein. Die Mitglieder des Panther-Clubs – es handelt sich fast ausschließlich um ältere Herrschaften – sind schon dort versammelt. Eifrig verteilen sie das Programm der Veranstaltung: Zunächst wird die Sitzung des Panther-Clubs stattfinden. Es sollen mehrere Reden gehalten werden, gefolgt vom Konzertprogramm. Nach dem musikalischen Teil gibt es eine kurze Abschiedsrede, und dann sind die Orchestermusiker zu einem Umtrunk beim Panther-Club eingeladen. Der Erlös des Konzerts kommt einer gemeinnützigen Einrichtung zugute. Eine schöne Veranstaltung, finde ich.

Die etwa 300 Konzertbesucher sitzen nun vor dem Pavillon, und gleich wird die Sitzung des Clubs beginnen. Ich frage mich, wie lange sie wohl dauern kann… Das Schulorchester – bestehend aus knapp 30 vor Lampenfieber zitternden kleinen Dinos  – muss währenddessen stillsitzen und zuhören. Ich hoffe, dass die Disziplin der jungen Musiker dafür ausreicht. Zum Glück ist Herr Kuno, der Musiklehrer und Orchesterleiter, mit solchen Situationen vertraut. Ich hoffe also, dass die Veranstaltung ohne Zwischenfälle ablaufen kann.

Ein Glöckchen klingt – es läutet den Beginn der Sitzung des Panther-Clubs ein. Ein älterer Herr, der erste Vorsitzende, geht zum Rednerpult und hebt die Arme, um Stille einkehren zu lassen. Dann setzt er zur Rede an.

„Meine lieben Pantherclub Mitglieder, eine traurige Nachricht hat mich eben erreicht. Unser langjähriger Mitstreiter und Freund, Gregor Samla, hat uns gestern für immer verlassen.“ Er senkt den Kopf.

Ein Ruck geht durch das Publikum. Wie ein einziger Mann erheben sich alle Mitglieder des Clubs. Kerzengerade stehen sie da, um ihrem Freund stumm die letzte Ehre zu erweisen.

Der erste Vorsitzende erinnert nun an den Werdegang Gregor Samlas, an seine universitäre Karriere und seine Veröffentlichungen. Es ist ein ergreifender Nachruf.

Mit umso größerem Entsetzen bemerke ich, dass jedesmal, wenn der Name „Gregor Samla“ fällt, ein Zucken und Kichern durch das Saurierorchester geht! Die 6. Klasse hat nämlich gerade „Die Verwandlung“ von Kafka gelesen – der Name des verstorbenen Panther-Club-Mitstreiters erinnert sie an den kafkaschen Käfer. Normalerweise wäre dies nicht witzig – im Gegenteil liegt hier ja sogar ein sehr trauriges Ereignis vor – aber die Nervosität der jungen Musiker, die kaum mehr stillsitzen können, tut ihr Übriges: das Kichern wird lauter. Es hilft auch nicht gerade, dass in jedem Dinozimmer mindestens eine „Samla-Box“ von Ikea steht.

Herr Kuno zischelt „Kinder, leise!“ und tippt mit dem Dirigentenstab auf die Notenpulte, um seine Musiker zur Ordnung zu rufen. Ein klein wenig Wirkung zeigt dies – zumindest die erste Geige scheint sich zu beruhigen. In den hinteren Rängen jedoch bebt und rumort es, das sehe ich sogar aus der Entfernung.

Der erste Vorsitzende hat seinen Nachruf beendet. Ich sehe, wie Herr Kuno aufatmet, denn nun muss das normale Programm beginnen. Zwar werden die Reden noch etwas dauern, aber es wird wohl nicht mehr von Gregor Samla gesprochen werden – er ruhe in Frieden.

Leider nimmt die Veranstaltung jedoch einen anderen – fatalen – Verlauf, denn der erste Vorsitzende verkündet, man wolle nun Gregor Samlas mit drei Schweigeminuten gedenken. Die Mitglieder erheben sich wieder, falten die Hände und senken den Blick. Man sieht, dass sie alle den Verstorbenen gekannt und geschätzt haben. Ich bin ergriffen.

Leider ist das nicht der Fall des Orchesters. Die erste Geige gluckst. Gleichzeitig verstummt das Publikum vollkommen. Man könnte eine Nadel zu Boden fallen hören. Das Kichern erfasst die zweite Geige, die Bratsche. Die Bläser versuchen, zu widerstehen – erfolglos! Die erste Cellistin kneift sich in den Arm, der Trompeter verbirgt sein Gesicht im Schallbecher seines Instruments: Das ganze Orchester ist dabei, in einen kollektiven Lachkrampf abzugleiten!

Herr Kuno, ebenfalls bestrebt, ein nervöses Lachen zu unterdrücken, sieht sich verzweifelt nach Hilfe um – und fassungslos höre ich ausgerechnet Elie in die Stille der Gedenkminute einwerfen: „Wieso lacht Ihr denn? Der arme Herr Samla kann doch nichts dafür, dass er wie eine Ikea-Box heisst. Ich finde es traurig, dass er gestorben ist!“. Elie kennt die Erzählung von Kafka noch nicht.

Nun gibt es kein Halten mehr. Die Geiger nehmen sich gegenseitig in den Arm, um den Lachkrampf zu ersticken. Die Cellisten stopfen sich ihr Kolophonium in den Mund, aber nichts hilft: in wenigen Sekunden wird das Orchester gegen seinen Willen und trotz geradezu übermenschlicher Anstrengung  in johlendes Gelächter ausbrechen.

Herr Kuno – feuerrot vor unterdrücktem Lachen – flüstert mit letzter Kraft: „Wir müssen spielen! Jetzt! Den Khachaturian – das ist die einzige Rettung!“ Er nickt Angelo, der am ersten Pult sitzt, zu, hebt den Dirigentenstab. Die Musiker setzen die Instrumente an – die Konzentration kommt zurück. Herr Kuno gibt den Einsatz – und mitten in die Schweigeminute hinein explodiert der berühmte Säbeltanz von Khachaturian.

Entsetzt ob dieser unerwarteten Wendung dreht sich der erste Vorsitzende des Clubs zum Orchester um. Aber das hat sich in einen wilden, durch nichts mehr aufzuhaltenden, grandiosen Reigen verwandelt.

Nach dem Säbeltanz lässt Herr Kuno keine Stille einkehren. Das Konzertprogramm muss nun in voller Länge absolviert werden – zu groß ist die Gefahr eines erneuten nervösen Lachanfalls. „Sarasate!“ befiehlt er dem Orchester. Das ist Angelos großer Auftritt.

Die Zigeunerweisen erklingen – und daran schliessen sich die beiden Arlésienne-Suiten von Bizet an. Herr Kuno peitscht das Programm gleichsam durch – die Darbietung ist atemberaubend. Noch nie hat das Orchester so brillant gespielt.

Der letzte Akkord verklingt. Herr Kuno bedeutet dem Orchester, aufzustehen. Er wendet sich zum Publikum, verbeugt sich. Ich kann sehen, dass er schweissgebadet ist.

Das Publikum ist sprachlos. Ein paar Sekunden lang herrscht absolute Stille. Dann brandet ohrenbetäubender Applaus los. Das Publikum erhebt sich – erbringt eine Ovation. Die kleinen Musiker strahlen.

Das Orchester darf nun abtreten, wird aber mehrfach vom Applaus zurückgeholt. Schließlich gibt es die erste Arlésienne-Suite noch einmal als Zugabe. Das Publikum ist selig.

IMG_2152Als alle Musiker mit ihren Instrumentenkästen vor dem Musikpavillon stehen und sich vom Panther-Club etwas verschämt verabschieden, streichelt eine alte Dame Elie über den Kopf. „Ihr habt sehr schön gespielt. Es macht uns große Freude zu sehen, dass junge Leute wie Ihr so viel Spaß an der Musik haben und beim Musizieren so viel lachen. Das Leben darf nicht nur aus ernsten Dingen wie Tod und Trauer bestehen.“

Angelo meint später ironisch, die alte Frau habe nicht mal gemerkt, dass das Orchester sich über den Panther-Club lustig gemacht habe. Vermutlich habe sie dann auch nicht gehört, dass Elie seinen Einsatz im Khachaturian versaubeutelt habe.

Elie kommt geknickt zu mir. Ob man denn wirklich herausgehört hätte, dass er im Khachaturian ein wenig habe „improvisieren“ müssen. Ich sage wahrheitsgemäß, dass mir nichts derartiges aufgefallen sei. Vielmehr habe Elie sehr schön gespielt. Ich glaube allerdings, die freundliche alte Dame hat sehr wohl gemerkt, dass das Orchester – aus Nervosität und Lampenfieber – in peinlicher Weise die Contenance verloren hat. Sie muss es als einen fröhlichen Zwischenfall inmitten einer sehr traurigen Versammlung angesehen haben. Vielleicht hat sie als junger Mensch so etwas einmal selbst erlebt? Vielleicht sind ihr die Veranstaltungen des Panther-Clubs oft zu ernst?

Vielleicht denkt sie aber auch, dass man dem Tod nichts Besseres entgegensetzen kann als eine Gruppe lachender kleiner Saurierschüler.

Ich finde die Äußerung der alten Dame nicht nur lieb, sondern auch sehr weise.

Vom Panther-Club wird das Orchester dennoch nie wieder engagiert werden.

38. Kapitel – Erinnerungen

Morgen ist der 2. April – der Geburtstag meiner Mutter.

Anatol und Elie sehen sie ein bisschen als ihre Großmutter an – Elie nennt sie „Oma“, obwohl er sie noch nie gesehen hat, außer auf Photos. Anatol findet angesichts seines eigenen Alters, er könne schwerlich jemanden als „Großmutter“ bezeichnen, der Millionen Jahre jünger sei als er selbst. Er sagt daher einfach „Hermine“.

Leider wird meine Mutter nicht mehr erfahren, dass der von ihr so gehasste Vorname – Hermine – heute einer der beliebtesten und begehrtesten Mädchennamen überhaupt ist, Emma Watson sei dank. Denn meine Mutter hat keinerlei Erinnerungen an ihren Namen, und auch sonst an nichts.

Anatol und Elie können das nicht verstehen. „Wieso versucht sie denn nicht einfach, ihr Gedächtnis anzustrengen? Bestimmt würde ihr etwas einfallen!“

Ich versuche dann, den beiden klarzumachen, dass es nichts mit Anstrengung zu tun hat – sondern dass Mama an einer Krankheit leidet, die die Erinnerungen wegnimmt, ohne dass man etwas tun kann – und dass es heute noch keine Heilung dafür gibt. Elie verkriecht sich dann meist und weint heimlich – Anatol sucht lieber stundenlang im Netz, ob er nicht doch etwas findet, das Hermine helfen könnte. Aber nie findet er etwas.

Heute sagt er: „Wenn sich Deine Mama nicht mehr erinnern kann, dann tu DU es doch! Warum schreibst Du nicht etwas auf, von früher? Etwas, das Ihr zusammen gemacht habt? Dann wäre es nicht ganz vergessen. Ich glaube, dass sie sich darüber freuen würde, wenn sie es lesen könnte!“

Ich finde diesen Einfall ausgezeichnet.

Und ohne dass ich darüber nachdenken muss, fällt mir eine Begebenheit ein. Im Grunde mehr als nur eine Begebenheit: eine Reise an die Nordsee, die meine Mama mit meiner kleinen Schwester und mir unternommen hat – in den 70er Jahren, also vor langer Zeit. Es mag 1977 oder ’78 gewesen sein …

Eines Tages kommt unsere Mama vom Gericht nach Hause und verkündet: „Wir fahren an die Nordsee! Und zwar nach Friedrichskoog. Nur wir drei. Trolli und Papa bleiben zu Hause – wir müssen auch mal etwas allein unternehmen. Freut Ihr Euch?“

Wir springen voller Vorfeude in die Luft. Eine Reise an die Nordsee! Das klingt sehr spannend  – und vergnüglich. Das Meer! Für einen Schiffsjungen wie mich ist das ein einzigartiges Abenteuer! Damals nenne ich mich nämlich „Jim Hawkins“ – und stelle mich auch jedem, der mich fragt, wer ich denn sei, so vor.

320px-'70_Renault_16Eine Woche später sind die Koffer gepackt und der grüne R16 beladen und abfahrbereit. Mit geöffnetem Schiebedach geht die Reise los – denn es ist schon Sommer in Göttingen.

Bis zur Nordsee ist es ein weiter Weg. Meine Aufgabe ist, die Karte zu lesen und dafür zu sorgen, dass wir uns nicht verfahren. Bis auf kleinere Ausreißer gelingt dies auch.

Am frühen Nachmittag treffen wir in Friedrichskoog ein – in der Pension von Frau Junge, die unsere Wirtin ist. Eine ganze Woche werden wir bei ihr wohnen!

Unser erster Weg führt ans Meer. Eine herbe Enttäuschung erwartet uns: da ist kein Meer. Nicht ein Tropfen Wasser ist zu sehen, nur eine bräunlich-gräuliche, schlammige Oberfläche, die meine Mutter uns als „das Watt“ vorstellt und die sich vor uns erstreckt, so weit das Auge reicht.

So hatte ich mir die Nordsee nicht vorgestellt – wo ist das Meer!?

Meine Mutter erklärt uns, dass nun Ebbe sei. Bei Ebbe ziehe sich das Wasser weit ins Watt zurück, um ein paar Stunden später – bei Flut – wieder zurückzukommen. Die Flut könne gefährlich werden, wenn man zu weit ins Watt gewandert sei. Man müsse sich vor jeder Wattwanderung sehr genau erkundigen, wann das Wasser zurückkäme – und besser noch: nur mit erfahrenen Wattführern ins Watt gehen.

Diese Geschichte von der Flut macht mir ein wenig Angst. Meiner Schwester ist sie auch nicht geheuer. Deshalb drängen wir darauf, jetzt doch lieber zum Abendessen, das Frau Junge sicher schon vorbereitet habe, zurückzugehen.

Mama lacht: „Frau Junge macht uns nur das Frühstück. Mittags und Abends gehen wir ins Restaurant!“

Uns bleibt der Mund offen stehen. Ins Restaurant gehen wir nämlich nie. Das ist viel zu teuer!

Nun seien aber Ferien, erklärt unsere Mutter, und da dürfe man ins Restaurant gehen.

So guten Fisch wie in Friedrichskoog habe ich noch nie gegessen. Es gibt dort eigentlich nur Fisch zu bestellen – das ist Pech für meine kleine Schwester, die keinen Fisch anrührt. Zum Glück für sie gibt es Kartoffeln! Mama und ich lieben Fisch – damals bin ich noch nicht Vegetarierin.

Heute Abend gibt es keine Schimpfe, damit wir ins Bett gehen – wir klettern ganz von allein in unsere Betten und schlafen sofort ein. Seeluft macht müde!

Am nächsten Morgen sind wir sehr früh wach. Ich kann mich erinnern, dass wir noch vor dem Frühstück (das um diese Uhrzeit nicht fertig ist) in den Hafen gehen und die Kutter bewundern. Als Schiffsjunge möchte ich natürlich auf eines der Boote steigen – aber es ist niemand da, der es erlauben könnte … es ist noch so früh! Die Mama meint, ich darf sicher kurz auf eines der angetäuten Boote klettern, wenn ich dabei nichts kaputtmache und dann gleich wieder herunterklettere. So stehe ich für eine kurze Zeit auf einem echten Boot! Ich bin selig.

Nach diesem großen Abenteuer gibt es Frühstück, und dann brechen wir auf zum Meer, was heute morgen zuverlässig zur Stelle ist! So weit das Auge reicht: Wasser. Leider müssen wir feststellen, dass es zum Baden im Meer noch viel zu kalt ist.

Mama hat daher eine zündende Idee: wir gehen in ein Schwimmbad mit echtem – warmem! – Meerwasser, mit richtigen Wellen! In dem Schwimmbad gibt es ein kleines Becken, in dem wir toll planschen können. Und dann gibt es auch noch ein großes Becken für die Erwachsenen. Darin werden alle Viertelstunde riesige Wellen gemacht – wie im Meer. Mir macht das etwas Angst: man kriegt bei diesen Wellen so leicht Wasser in die Augen, und das brennt vom Salz! Ich halte mich von den Wellen also fern, und passe lieber auf meine kleine Schwester auf, die noch nicht schwimmen kann. Im Planschbecken sind wir sicher.

Von dort aus sehen wir, wie unsere Mama weit hinten im großen Becken zwischen den riesigen Wellen schwimmt, ohne auch nur ein bisschen Angst zu haben. Wir sind sehr beeindruckt.

Wir unternehmen eine Wattwanderung und lernen, was ein Priel ist! Es handelt sich dabei um eine Art Bach innerhalb des Watts. Bei Ebbe ist in diesen Bächen kein Wasser – aber sobald die Flut kommt, füllen sich die Priele mit Wasser und können so sehr gefährlich werden, da sie unvorsichtigen Wanderern den Weg zurück zum Strand abschneiden können. Ein Priel kann sehr tief sein, ohne dass man das unbedingt sieht: man merkt es erst, wenn man hineintritt und bis zum Hals im Wasser steht. Dies passiert einem ungestümen jungen Hund, der mit unserer Gruppe im Watt wandert: plötzlich nimmt er ein ungeplantes Vollbad in einem der Priele. Zum Glück findet er das sehr witzig und springt gleich ein zweites Mal in den Priel.

Wir sammeln Muscheln und bauen ein Floß. Die Strandkörbe schützen uns vor Wind und Sonne. Unsere Sandburgen sind wahre Meisterwerke! Im Wellenschwimmbad werden wir immer wagemutiger und trauen uns auch ein klein wenig in die Wellen! Aber niemals so weit, dass wir keinen Boden mehr unter den Füßen haben. Sicher ist sicher. Und unsere Mama passt immer auf uns auf.

Es regnet. Wir können nicht an den Strand – und das Wellenschwimmbad in Marne hat heute auch noch geschlossen. Wir unternehmen einfach einen kleinen Stadtbummel und trinken einen heissen Ostfriesentee mit viel Zucker. In einem Souvenirladen entdecken wir zwei kleine Spielzeug-Seehunde … wieso dürfen sie nicht mitkommen? Mama meint, sie seien zu teuer. Traurig verlassen wir den Laden.

Mama hat dort aber etwas vergessen: wir sollen vor dem Laden warten, bis sie wieder da ist. Kurze Zeit später kommt sie mit zwei ganz kleinen Päckchen wieder aus dem Laden. Wir dürfen sie aufmachen: es sind die Mini-Seehunde! Sie sollten eine Überraschung sein – aber dann kann Mama doch nicht mehr solange warten und schenkt sie uns gleich. Wir sind glücklich!

Nach einer Woche voller Abenteuer und Erlebnisse fahren wir wieder nach Hause zurück. In der ganzen Woche hat Mama nicht ein einziges Mal geschimpft. Sie ist sonst ziemlich streng – aber in unserer Nordseewoche gibt es keine Schimpfe.

Die Seehunde dürfen mit nach Hause nach Göttingen – und mit ihnen das gehäkelte Eierwärmerhuhn von Frau Junge, das wir Fräulein Rottenmeier getauft haben.

Ich war später noch oft mit meiner Mutter an der Nordsee, und wir hatten dort immer viel Vergnügen. Aber in Friedrichskoog sind wir nie wieder gewesen.

Anatol schlägt vor, das vielleicht nachzuholen und unsere nächsten Ferien an der Nordsee in Friedrichskoog zu verbringen?

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34. Kapitel – Elie auf dem Schulweg

IMG_2041Elie ist sehr aufgeregt. Das hat einen Grund: Elie will heute zum ersten Mal mit seinem tollen neuen Tretroller, den Anatol ihm gestern gebaut hat, zu Schule fahren.

Da der Schulweg vorwiegend durch den Park und nur an einer Stelle an einer großen Straße – über eine Kreuzung mit Schülerlotsen – entlangführt, bin ich einverstanden, dass  der Roller mitgenommen wird. Gefährlich ist das Rollerfahren auf dem Schulweg nicht – zumal Anatol Elie noch ein ganzes Stück begleiten will.

Aber damit nicht genug. Nicht nur der Roller soll heute mit in die Schule, sondern auch Mina.

Wer ist Mina?

Mina ist eigentlich ein Geschenk. Elie ist am kommenden Samstagnachmittag zum Geburtstag der kleinen Nachbarsdinosaurierin – Anna heisst sie – eingeladen. Zu einer Geburtstagsfeier bringt man ein Geschenk mit, und so bin ich am Samstag in die Stadt gefahren und habe für Anna eine niedliche schwarz-weisse Stoffkuh erstanden.

Noch bevor wir sie zu Hause in ein Geschenkpapier einwickeln konnten, hatte Elie bereits entschieden, dass die kleine Stoffkuh Mina heisse und von nun an in seiner grünen Schildkröten-Schultasche herumgetragen werden müsse:

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Natürlich soll Mina heute auch mit in die Schule. Sie solle dort etwas lernen, und noch ein bisschen klüger werden, findet Elie.

Ich weise darauf hin, dass Mina am Donnerstag zu Anna ziehen werde – weil sie ihr Geburtstagsgeschenk sei und Elie sie nicht behalten könne. Elie antwortet entrüstet, dass dem ja ein heutiger Schulbesuch nicht entgegenstehe – und so erlaube ich, dass nicht nur der Roller, sondern auch Mina heute mit zur Schule gehen darf. Insgeheim ist mir bewusst, dass das eine Eselei ist – aber ich kann es Elie nicht abschlagen.

Anatol und Elie zockeln also mit dem Roller und Mina in der Schildkrötentasche los. Es ist halb 8 – die Schule beginnt um 10 vor 8, und eine gute Viertelstunde geht man schon, auch mit dem Roller.

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Ich räume den Frühstückstisch ab und füttere die Katzen. Dann beginne ich, zu schreiben – denn heute arbeite ich zu Hause.

Um kurz nach 8 höre ich Anatol die Treppe heraufkommen. Er bereitet sich einen Tee zu und setzt sich neben den Computer. Elie sei sehr stolz auf seinen Roller gewesen, berichtet Anatol. Er habe Mina genau erklärt, wie man Roller fahre, wie man auf dem Schulweg aufpasse, dass man sich nicht verlaufe und wie man sicher und wohlbehalten mit Hilfe der Schülerlotsen die Straße überquere. Anatol bezweifelt, dass es am Samstag möglich sein werde, Mina an Anna zu verschenken. Ich seufze. „Da hast Du vermutlich Recht, Anatol. Ich seh das auch schon kommen.“

Ich vertiefe mich in meine Novelle und Anatol macht es sich mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich. Die morgendlichen Sonnenstrahlen fallen durch die Balkontüre in die Wohnung. Es ist ein frischer, klarer Frühlingstag – zum Schreiben ideal.

Ein Geräusch dringt aus dem Treppenhaus hoch. Anatol sieht von seiner Lektüre auf. „Da weint doch jemand!“ sagt er. Ich stehe auf und gehe zur Tür.

Im Treppenhaus wartet ein Häuflein Elend auf uns. Es ist Elie. Die Tränen laufen ihm die Wangen herunter – die Schildkrötentasche ist bereits durchnässt.

„Elie, was ist denn passiert? Wieso bist Du nicht in der Schule? Ist die erste Stunde ausgefallen?“ frage ich – glaube es aber nicht, denn das wäre ja kein Grund, zu weinen. Elie schluchzt – er kann zunächst gar nicht sprechen. Erst als Anatol ihn zur Beruhigung streichelt, geht es etwas besser. Nach und nach erfahren wir die ganze Geschichte.

Elie erzählt, Anatol habe ihn bis zum kleinen Mäuerchen gebracht, an dem sie sich immer trennen, wenn Anatol ihn auf dem Schulweg begleite. Elie will nämlich allein in der Schule ankommen (das ist eine Marotte von ihm: „Schließlich kann ich allein zur Schule gehen!“ sagt er immer).

Am Mäuerchen habe Anatol ihm geraten, den Roller lieber dort zu verstecken und mit dem Rollerschloss an das Zaungitter anzuschließen. Auf dem Schulhof sei der Roller nicht sicher; er habe schon von Rollerdiebstahl oder gar Vandalismus gehört. Es sei also besser, den Roller nicht direkt an der Schule abzustellen.

Elie habe das beherzigt und den Roller im Versteck gut verschlossen zurückgelassen:

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Leider ist er dabei so konzentriert auf das Verstecken und Festschließen des Rollers, dass er die Schildkrötentasche mitsamt Mina einfach neben dem Roller vergisst und ohne sie weiter zur Schule marschiert.

Dieses Versehen fällt ihm siedend heiss ein, als er auf dem Schulhof ankommt. Die Tasche ist nicht mehr da, und Mina auch nicht! Und die Schule fängt in einer Minute an.

Etwas Schlimmeres hätte sich Elie in seinen schrecklichsten Alpträumen nicht ausmalen können. Er darf doch die Schule nicht verpassen! Aber was würde mit Mina und der Schildkrötentasche passieren, wenn jemand sie findet? Es ist nicht auszudenken!

Obwohl Elie genau weiss, dass es streng verboten ist, einfach die Schule wieder zu verlassen, obwohl die erste Stunde fast schon angefangen hat, rennt er einfach los. Er läuft durch die Unterführung vor der Schule auf die andere Straßenseite, die ganze Bürgerstraße hoch am Park vorbei, dann über die Kreuzung vor dem Rathaus und bis zum Parkplatz am Kiosk, wo der Roller am Mäuerchen versteckt ist. Vor lauter Angst, Mina vielleicht nicht mehr zu finden, schlägt sein Herz bis zum Hals!

Nun ist er am Versteck angelangt – und GOTT SEI DANK: Mina sitzt immer noch brav in der Schildkrötentasche und wartet auf Elie. Sie ist von niemandem mitgenommen worden. Vor lauter Erleichterung fängt Elie lauthals zu weinen an.

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Mina ist gerettet, die Schildkrötentasche ebenfalls und der Roller steht unversehrt in seinem Versteck. Es ist nun eigentlich alles gut – bis darauf, dass die erste Stunde schon begonnen hat, und Elie genau weiss, dass Frau Goyke – die Mathematiklehrerin – es über alles hasst, wenn man zu spät kommt. Sie kann es nicht verstehen, dass man nicht früh genug zur Schule losgeht. Dass man den richtigen Zeitpunkt einfach „vergessen“ habe, lässt sie nicht gelten! Sie sagt dann mit strenger Stimme: „Als ich klein war, hieß es ‚Vergessen ist Buckel messen‘! Und das bedeutete, dass man übers Knie gelegt wurde und den Hosenboden versohlt bekam!“

Davor hat Elie unglaubliche Angst. Ausgerechnet heute muss die erste Stunde bei Frau Goyke sein! So spät, wie er heute dran ist, ist überhaupt noch niemals jemand in die Schule gekommen. Als ihm das bewusst wird, beginnt er, noch lauter zu weinen als vorher.

Was er nicht weiss: Frau Goyke ist in Wirklichkeit eine sehr liebe Lehrerin und würde niemals einem Schüler den Hosenboden verhauen. Aber sie ist streng und Elie hat deshalb große Angst vor ihr.

Er kann also auf gar keinen Fall in die Schule zurück. Weinend macht er sich deshalb auf den Weg nach Hause – wo er nun, gegen halb 9, völlig aufgelöst eintrifft.

Anatol schüttelt den Kopf. „Elie, was hast Du da nur angestellt. Aber sieh es mal so: Der Roller ist da, Mina ist da, Deine Schildkrötentasche ist da. Es ist überhaupt nichts Schlimmes passiert – außer, dass Du die ganze erste Stunde bei Frau Goyke verpasst hat. Darum beneide ich Dich wirklich nicht…“. Elie fängt wieder an, zu schluchzen. Er meint, er wolle nie wieder in die Schule gehen, nie nie wieder!

Dem widerspreche ich mit Entschiedenheit. „Elie, Dir ist ein dummes Missgeschick widerfahren. So etwas kann leider passieren. Das ist aber kein Grund, nicht mehr in die Schule zu gehen. Wir machen es jetzt so: Du bleibst hier, bis die 3. Stunde anfängt. Die 2. Stunde hat sowieso schon begonnen, die verpasst Du leider auch noch. Du musst diese beiden Stunden später nachholen – das sollte möglich sein. Ich schreibe Dir nun einen Entschuldigungszettel und erkläre Deinem Lehrer, dass Du heute morgen ein Problem gehabt hast und deshalb erst zur 3. Stunde kommen kannst. Das ist ja auch die Wahrheit. Was hast Du denn in der 3. Stunde? Handarbeiten? Das ist bei Fräulein Evers, nicht? Gut, dann schreibe ich jetzt den Entschuldigungsbrief an Fräulein Evers. Und zur Schule bringe ich Dich nachher mit dem Fahrrad – der Roller und Mina bleiben zuhause. Anatol wird gut auf sie aufpassen.“

Elie kann unter seinen Tränen nun doch wieder lächeln. Anatol macht ihm schnell einen heissen Kakao und etwas später fahren wir dann los, zur Schule. Diesmal mit meinem Fahrrad!

Dass Mina nach diesem Abenteuer nicht mehr wie geplant an Anna verschenkt werden kann, versteht sich von selbst. Elie sagt mir aber gerade, dass in der Stofftier-Jobbörse die Zwillingsschwester von Mina – Mona – auch auf eine Stelle warte. Ob es nicht besser sei, wenn Mona anstelle von Mina zu Anna ziehe …

Anatol und ich halten das auch für die beste Lösung.

 

 

29. Kapitel – Mangold

IMG_1984Anatol hat sich heute selbst übertroffen.

Offenbar ist es ihm nun doch etwas peinlich, dass er am Freitag Abend auf meine Verspätung so verärgert reagiert hat.

Gestern war er mit einem riesigen Einkaufskorb vom Markt zurückgekehrt, hatte aber sichtlich niemanden erlauben wollen, hineinzugucken. Schnell war der Inhalt des Korbs im Kühlschrank verstaut und dieser mit dem Befehl „Da geht keiner ran!“ geschlossen worden.

Heute abend wird das Geheimnis gelüftet. Anatol zieht ein riesiges grünes Ungetüm aus dem Kühlschrank und erklärt: „Das ist Mangold. Wir essen viel zu selten solche feinen Gemüsesorten!“

Mangold habe ich schon einmal probiert – zu Sylvester vor über 20 Jahren, in Paris. Es muss wohl 1990 oder 1991 gewesen sein … Damals hatte unser Freund Marc den Mangold zubereitet. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit seinen langen, spillerigen Armen die großen, grünen Blätter aus einem gigantischen Topf herausfischt und sie uns serviert – und dabei die Vorteile der „blettes“ (so heisst Mangold auf Französisch) aufzählt: der Mangold sei voller Vitamine und Mineralstoffe und habe einen wunderbar aromatischen, leicht nussigen Geschmack. „Les blettes“ hatten mir damals in der Tat sehr gut geschmeckt – aber ich hatte es leider versäumt, mir das Rezept aufzuschreiben, und hatte dieses schöne Gemüse dann auch vergessen.

Heute, nach fast 25 Jahren, ist es Zeit für den nächsten Mangold.

Verdächtig finde ich allerdings, dass Anatol erstaunlich oft zum Computer läuft und dort nachliest. Hat der Spitzbube etwa kein eigenes Rezept…? Etwas verschämt gibt Anatol zu, dass er in seiner Sammlung leider kein Mangold-Rezept vorhalte. Er habe aber eine ganz großartige Kochanleitung hier bei Chefkoch.de gefunden! Diese wolle er nun ein wenig abwandeln, da wir nicht alles im Haus hätten, was dafür benötigt würde.

IMG_1985Als erstes schneidet Anatol 2 kleine Schalotten und 2 Knoblauchzehen in Würfelchen und brät sie in einem großen Topf leicht mit Olivenöl an.

Dann gibt er die gewaschenen und kleingeschnittenen Mangoldstiele (das Weisse unten an den Blättern) in den Topf und lässt das Ganze etwas schmoren. Dazu kommen 3 kleine Chilis, Salz, Pfeffer und ein Teelöffelchen Vanillezucker.

Diese Mischung wird nun unter Rühren angebraten. Das Rezept von Chefkoch.de sieht noch Gemüsebrühe vor, aber die vertrage ich wegen der enthaltenen Würzstoffe nicht. Anatol lässt sie also weg, ebenso wie den Weisswein (der allerdings durch Rotwein ersetzt wird).

IMG_1988Letzteren gießt Anatol nun hinzu, gibt den Rest des Mangolds in den Topf (die geschnittenen Blätter), rührt einmal gut um und verschließt den Topf mit dem Deckel. Der Mangold muss nun etwa 20 Minuten sanft garen.

Indessen setzt Anatol einen zweiten Topf mit gesalzenem Wasser auf. Offenbar soll es Nudeln zu dem Mangold geben! Ich freue mich.

Das Wasser kocht – Anatol hat Penne vorgesehen und gibt sie in den Topf. Ich liebe Penne! Mittlerweile habe ich großen Hunger und bin sehr gespannt auf das, was Anatol da herbeizaubert.

IMG_1990Es ist soweit. Anatol serviert die „Penne mit Mangold à la Chefkoch.de„.

Ich finde sie einfach köstlich. Ehrlich gesagt kann ich gar nicht mehr aufhören … schon habe ich mir zum dritten Mal  nachgenommen.

Mit etwas Glück bleibt zumindest eine Kleinigkeit von dem herrlichen Mangold-Gericht für morgen übrig. Aber sicher ist das nicht.