Es ist Samstagmorgen – eben komme ich aus der Dusche. Ich freue mich, denn die Sonne scheint und der Tag verspricht, wunderschön zu werden. Gleich nach dem Frühstück steht ein Großeinkauf auf dem Markt an, danach möchte ich eine Freundin in der Stadt besuchen. Da die Butler samstags frei haben, werde ich heute mittag – wie jeden Samstag – mit Freunden in der Trattoria essen.
Schnell will ich in meine Jeans schlüpfen, da geschieht das Unglück. Ein häßliches reissendes Geräusch – die Jeans ist aufgeplatzt. Ich bin bestürzt.
„Anatol!“ rufe ich. „Meine Jeans ist im Eimer! Kannst Du mir bitte die andere bringen, die leichte? Es soll heute recht warm werden. Die kaputte nehme ich mit zu Saït, er kann sie bestimmt reparieren – das hoffe ich wenigstens.“ Saït ist unser Schneider.
Anatol öffnet den Kleiderschrank im Schlafzimmer und wühlt sich durch das Jeans-Fach. Endlich zerrt er die Jeans heraus, die ich heute anziehen möchte. Aber anstatt sie mir zu bringen, schmeisst er die Jeans hinter sich auf das Parkett und fängt an, die gesamten anderen Hosen aus dem Fach zu reissen.
„Sieh Dir das nur mal an!“ zetert er. „Hier haben wir ausgebleichte, formlose Jeans Nr. 1. Das ist ausgefranste, verbeulte Jeans Nr. 2! Nun kommen verwaschene, unförmige Jeans Nr. 3 bis 6! Und hier – endlich! – kommt Deine einzige anständige Hose, die weder ausgebleicht noch verwaschen noch ohne Form ist. Nur kannst Du sie heute nicht anziehen – sie ist ja viel zu warm! Ich lasse Dich mit dem abgewetzten Krempel nicht mehr auf die Straße. Es sieht schlimm aus! Hast Du Dich mal von hinten gesehen?“
Ich bin sprachlos. Was nimmt dieses Biest sich heraus? Es stimmt allerdings, dass ich meine Jeans-Sammlung schon seit langer Zeit besitze. Ich liebe jedes einzelne Stück davon. Was können meine Jeans denn nur haben – insbesondere „von hinten betrachtet“!?
„Deine Jeans – jedenfalls die für den Sommer! – sind so ausgeleiert, dass sie Falten werfen! Von hinten sieht es unmöglich aus. Du kannst damit nicht mehr zur Arbeit gehen, und eigentlich will ich Dich so nicht mal auf den Markt lassen. Eine Schande ist es!“
Ich glaube, meine Mutter zu hören. Meine Jeans sind doch noch fast neu – ich habe sie vor nicht einmal 10 Jahren gekauft!
Anatol schüttelt den Kopf. „Wir kaufen Dir heute neue Jeans. So geht es nicht mehr weiter!“
Ich wehre dieses Ansinnen sofort ab. Gerade erst hatte ich die Matrosenbluse und die Trägertops gekauft, nun muss es gut sein. Schließlich wollte ich dieses Jahr eigentlich gar keine neuen Klamotten erstehen.
„Anatol, es gibt für mich keine Jeans. Bei Somewhere haben sie nur Karottenhosen. Die kann ich nicht tragen – mit Karottenhosen sehe ich aus wie Rumpelstilzchen. Bei Esprit gibt es die elegante Bootcuthose seit Monaten nicht in meiner Größe – und zudem ist sie viel zu warm für den Sommer. Promod hat nur die ganz ausgebleichten Jeans. Bei Mexx gibt es keine Bootcut-Jeans, und in die von Zara passe ich nicht rein. Tja, das war es dann mit Jeans.“ Diesen Argumenten wird Anatol nichts entgegenzusetzen haben, denke ich.
Weit gefehlt. „Und Du glaubst, dass es nur in diesen Läden Jeans zu kaufen gibt?“ fragt Anatol – eine rhetorische Frage. Er weiss, dass ich nur ungern die mir bekannten Marken wechsle. Insbesondere sind mir teure Designerläden ein Greuel. Dort kaufe ich nichts. Anatol ist das bekannt. Dennoch hat er einen weiteren Pfeil im Köcher, das sehe ich ihm an.
„Wir gehen heute vormittag zu Levi’s. Bei Levi’s haben sie richtig schicke Hosen und perfekte Passformen. Da finden wir was für Dich, womit man Dich auf die Straße lassen kann!“
Ich traue meinen Ohren nicht. Levi’s? Das ist viel zu teuer – und außerdem habe ich gelesen, dass die sogenannten „Markenjeans“ keinen Deut besser seien als die billigen von Promod und Co. Auch sollen sie voller Pestizide sein!
„Das mag alles sein, auch wenn ich es nicht in allen Fällen glaube. Ja – und Pestizide sind in vielen Jeans drin, in den billigen und den teuren. Das nimmt sich nichts. All das ist kein Grund, mit so abgewetzten Jeans rumzulaufen, wie Du es tust! Ob Du willst oder nicht, wir gehen jetzt zu Levi’s.“
Antol springt in meine Handtasche und schweigt. Ich weiss, dass er nicht mehr mit mir sprechen wird, bevor wir nicht in diesem Levi’s-Store waren. Ich finde die Methode des Butlers zwar unverschämt, muss aber zugeben, dass meine letzten Levi’s-Jeans (1993 in Freiburg gekauft und später leider mehreren unerwünschten Kilos zum Opfer gefallen) mir in der Tat bis heute unvergesslich sind. Etwas abschreckend ist bei Levi’s jedoch – und dies ist ein gewichtiges Argument – der Preis.
Der Einkauf auf dem Markt ist schnell erledigt. Ich lasse Anatol seinen Willen und fahre mit ihm in die Stadt, in den besagten Store. Dort angekommen, schärfe ich Anatol allerdings ein, dass er in meiner Tasche zu bleiben hat. Vor den Verkäufern möchte ich mich nicht zum Gespött machen.
Ich mag Jeans-Läden – wieso auch immer. Die meisten Dinge dort stehen mir gar nicht: ich kann weder die gerade geschnittenen Jeans gut tragen noch die allgegenwärtigen Holzfällerhemden – geschweige denn die aktuell wieder in Mode gekommenen „Slim“-Jeans. Es ist einfach nicht mein Stil. Dennoch gefällt mir die Atmosphäre in diesen Läden. Vielleicht, weil es solche Geschäfte in meiner Kindheit nicht gab, und ich sie – wie die große Freiheit – erst in meinem Studium entdeckte? Als Kinder trugen wir keine Jeans. Wir hatten Lederhosen: im Sommer eine kurze, im Winter eine knielange. Meine allererste Jeans erstand ich mit 17 Jahren in „Tuti´s Shop“ in Göttingen – einer Boutique, die Kleidung im Sarah-Kay-Stil anbot…
In der „Girls“-Abteilung des Levi’s-Ladens fällt mir angenehm auf, dass die anwesenden Kundinnen in etwa so alt sind wie ich bzw. sogar älter. Wenn ich etwas nicht mag, sind das Boutiquen, in denen sowohl Kundschaft als auch Verkaufspersonal 25 Jahre jünger sind als ich. Die heutigen Käufer von Levi’s entstammen aber offenbar sämtlich der großen Zeit der einstmals legendären Marke: den 60er Jahren.
Ein freundlicher Verkäufer fragt, ob er mir behilflich sein könne. Ja, das kann er. Ich weiss genau, was ich will – und hoffe insgeheim, dass es hier nicht zu finden sein wird – nämlich eine Bootcut-Jeans in dunklem Denim, Größe 27/32.
Triumphierend mustere ich den Verkäufer – sicher hat er das Gewünschte nicht da und wir können wieder gehen.
Hier irre ich jedoch. Der junge Mann geht zielsicher auf ein Regal zu, zieht mit einem Griff die beschriebene Jeans – dark denim, Bootcut, 27/32 – heraus und präsentiert sie mir. „Sie können sie dort in der Umkleide anprobieren. Bitte sagen Sie mir dann, ob sie passt – wenn nicht, bringe ich Ihnen sofort eine andere Größe.“ Der Verkäufer bleibt in der Nähe der Umkleidekabinen und hält sich offenbar für den weiteren Verlauf meines Besuchs in der Boutique zu meiner Verfügung.
Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal in einem Klamottenladen so zuvorkommend und individuell bedient worden bin. Mit der Bootcutjeans in der einen und einer vor Aufregung zappelnden Handtasche ziehe ich mich in eine Kabine zurück. Man kann sie sogar von innen verriegeln. Dies tue ich, bevor ich die Handtasche öffne.
Anatol springt aufgeregt wie ein tasmanischer Teufel aus meiner Tasche. „Zeig zeig zeig!“ ruft er. „Pssssst! Anatol, gib Ruhe! Der Verkäufer darf Dich nicht bemerken, auf gar keinen Fall!“ flüstere ich.
Schnell ziehe ich die Jeans über. Sie passt wie angegossen.
Anatol ist außer sich vor Begeisterung. „Siehst Du? Ich habs Dir gesagt! Die Jeans von Levi’s sind super. Sie machen den besten Po!“
Ich bin schockiert. „Anatol, was sind das für Redensarten? So etwas will ich nicht hören!“
Anatol gibt zu, dass er sich den Satz von Benedict, einem Schulkameraden abgehört habe. Von Benedict scheint auch die Begeisterung für Levi’s zu kommen. Ich ersuche Anatol, zumindest Benedicts Ausdrucksweise schnellstens wieder zu vergessen.
Dann verlasse ich die Umkleidekabine, um die Jeans vor dem großen Spiegel zu begutachten. Auch hier kann ich nur bemerken, wie perfekt, wenn auch eng, die Hose sitzt. Der Verkäufer stellt in Aussicht, dass sich die Jeans etwas weiten werde – ich dürfe sie auf keinen Fall zu groß kaufen. Auch weist er mich darauf hin, dass dieses Modell nicht mehr nachgeliefert werde – die nächste Kollektion werde es nicht mehr enthalten.
Ein Fiepen und Kratzen dringt aus meiner Umkleidekabine. Anatol kann offenbar nicht an sich halten und will mir etwas sagen. Der Verkäufer sieht mich verunsichert an. „Hatten Sie denn einen Hund dabei? Den habe ich gar nicht bemerkt…“ bemerkt er fragend. „Nein, das ist mein Handy!“ erwidere ich schnell und verschwinde in der Umkleidekabine.
„Anatol, bei Dir piepts wohl! Der Verkäufer hat Dich gehört – und die anderen Kundinnen sicher auch! Was denkst Du Dir denn nur dabei? Nun muss absolute Ruhe sein!“
Anatol flüstert atemlos „Du hast Doch gehört, was der Mann gesagt hat! Die tolle Jeans ist ein Auslaufmodell! Da musst Du zwei von kaufen. Dann kannst Du sie häufiger wechseln und sie nutzen sich nicht so schnell ab. Sei froh, dass Du endlich eine so gut sitzende Jeans gefunden hast.“
Mich trifft der Schlag. Gleich zwei solcher Jeans soll ich kaufen? Anatol nickt. „Das geht. Ich weiss es. Du solltest es unbedingt tun!“
‚Dieser Saurier wird mich ruinieren‘ denke ich im Stillen. Dennoch probiere ich eine zweite Jeans an – auch sie sitzt perfekt.
Seufzend begebe ich mich zur Kasse – weiss ich doch, dass das Biest keine Ruhe geben wird, bevor ich die Hosen nicht käuflich erworben habe.
An der Kasse steht eine ältere Dame – ebenfalls Kundin – und beglückwünscht mich zu meinem Kauf. Sie selbst kaufe nur noch hier ein – so begeistert sei sie von der Qualität, der bequemen Passform und dem Kundenservice. Sichtlich gebauchpinselt von dieser Gratis-Werbung packt der Verkäufer meine Hosen in eine Papptüte und ermuntert mich, das Geschäft bald wieder zu beehren. Ich halte mich dazu bedeckt, reiche dem Verkäufer verschämt meine Kreditkarte und verlasse schleunig den Laden – erschlagen ob des soeben ausbezahlten Betrages.
Den Butler weise ich an, genaueste Recherchen zu Nachhaltigkeit und sozialem Engagement der Marke anzustellen. Nach dem Kauf ist die natürlich etwas spät.
Der Nachhauseweg beruhigt mich zumindest insoweit, als ich beginne, mich über die schönen Jeans zu freuen.
Im Briefkasten finde ich einen Brief meiner Krankenkasse vor. Mit einem mulmigen Gefühl öffne ich ihn. Derlei Schreiben sind meist kein gutes Zeichen.
Diesmal ist dem aber nicht so. Die Krankenkasse berichtet erfreut, dass sie auf Grund besonders umsichtigen Wirtschaftens einen Betrag an jedes ihrer Mitglieder auszahlen könne.
Der Betrag deckt den Kauf der Levi’s fast vollständig ab. Ich bin sprachlos.
Anatol grinst mich spitzbübisch an. „Ich habe doch gesagt, Du kannst die Hosen kaufen. So etwas darfst Du mir ruhig glauben.“
Misstrauisch beäuge ich das Kuvert. Aber der Brief war ungeöffnet. Wie zum Teufel konnte das Biest das wissen …?
Anatol schweigt sich jedoch hierzu aus.