Was war heute nur für ein schlimmer Tag. Den ganzen Morgen sitze ich wie auf heissen Kohlen im Büro, weil Capucine heute an den Zähnen operiert wird. Erst gegen Mittag darf ich in der Tierklinik anrufen – und das auch nur, um zu erfahren, dass ich mich gegen 16 Uhr wieder melden soll.
Vom großen Direktor (oder Diktator?) als subalternes Nichts verachtet, muss ich meine Arbeit über wohlgelittene Kollegen dem Direktor zuleiten. Fragen können nur über Dritte geklärt werden. Mit mir kann man nicht direkt sprechen. Bin ich aussätzig?
Schließlich will ich mich am Kuchen, den eine liebe Kollegin mitgebracht hat, trösten – und werde wüst zurechtgewiesen, dass es nach einem Stück nun gut sein müsse.
Ich bin froh, dass sich der Tag dem Ende zuneigt. Capucine geht es besser – die Operation ist gut verlaufen und das Kätzchen darf nach Hause. Die erste positive Nachricht des Tages!
Als ich mit Capucine zuhause ankomme, warten die Butler mit einer Überraschung auf. Das Laptop steht auf dem Schreibtisch, aufgeladen und schreibbereit. Um den Computer herum stehen Tellerchen, die mit belegten Broten gefüllt sind. Einen schönen warmen Tee brüht Anatol gerade auf.
Ich fühle die Absicht – bin aber nicht verstimmt. Ich weiss nur nicht, ob mir heute nach Schreiben zumute ist. Vor dem Fernseher abhängen … das wäre jetzt mehr nach meinem Geschmack.
Aber das wird nicht akzeptiert.
„Wir haben Schulferien.“ erklärt Elie. „Trotzdem sind wir immer noch hier – nur weil Du wieder keinen Urlaub nehmen wolltest! Alle anderen sind verreist. Und wenn wir schon keine echten Abenteuer erleben können, dann wollen wir wenigsten welche lesen. Und zwar Abenteuer, in denen wir vorkommen! Was sollen wir denn sonst nach den Ferien erzählen? Angelo ist mit seinen Eltern in San Franzisco – damit kann keiner mithalten. Aber wenn wir noch nicht einmal erzählen können, dass wir zumindest am Kerstlingröder Feld oder an der Mackenröder Spitze waren – ja also dann sind wir erledigt.“
Anatol nickt beipflichtend. Er gießt mir einen Tee ein und meint „Wir lassen Dich jetzt in Ruhe. Dir wird schon was einfallen! Neues Essen und Tee gibt es erst, wenn Du etwas geschrieben hast.“
…
Es ist fast zwei Uhr nachts – ich bin noch wach. Die Sommernacht ist warm – so warm, dass man nur mit weit geöffneten Fenstern etwas Luft bekommt. Unter mir rumort und bullert das Dampfross. Aus dem Savo nebenan dringt Musik. Die Straßen sind voller Menschen – trotz der späten Stunde. Lachen und Schwatzen dringen von der Straße hoch bis in meine Wohnung. Manchmal bleibt ein kleines Grüppchen Studenten unter meinem Fenster sitzen – nichtsahnend, dass nur wenige Meter über ihnen jemand alles hört, was sie plaudern. Leidenschaftliche Liebesabenteuer, traurige Erlebnisse, nichtbestandene Prüfungen … all dies wird des Nachts unter meinem Fenster erzählt. Ich weiss, dass ich das Ende der Geschichte nie miterleben werde – die jungen Leute stehen irgendwann auf und gehen weiter. Aber das macht nichts. Ich kann die Geschichte ja selbst zuendeführen – oder das Ende auch offen lassen.
Heute Nacht muss ich trotz der Hitze doch eingeschlafen sein. Eine samtige Pfote tatzelt mir ins Gesicht. Es ist Anatol. „Susanne!“ flüstert er eindringlich. „Wach auf! Da ist was auf der Straße unten! Ein ganz seltsames Geräusch! So wach doch auf!“
Ich öffne die Augen und komme langsam zu mir. Elie sitzt neben mir auf dem Kopfkissen. Er zittert vor Aufregung. Am Fußende schläft Katze Nini tief und fest.
Da – ich höre das Geräusch. Es klingt wie eine Metallsäge. Ein leises, gleichmäßiges metallisches Kreischen – ich stehe auf und sehe aus dem Fenster.
In der Tat sitzt auf der anderen Straßenseite eine zusammengekauerte Gestalt, die sich an einem Fahrradschloß zu schaffen macht und offensichtlich mit einer Säge daran zugange ist.
Der Schreck fährt mir in die Knochen – ist das ein Fahrraddieb? Ich verwerfe den Gedanken sofort. Vermutlich ist das jemand, der seinen Fahrradschlüssel verloren hat und nun versucht, sein eigenes Fahrrad aufzusägen. Ich will zurück ins Bett.
Anatol ist nicht meiner Meinung. „Wenn Du Deinen Fahrradschlüssel verloren hättest, würdest Du dann um drei Uhr nachts an dem Schloß rumsägen? Wieso hat der überhaupt um diese Uhrzeit eine Metallsäge dabei! Sowas hat doch kein normaler Mensch!“
Ich muss zugeben, dass Anatols Vorbringen schlüssig ist. Niemand würde nachts um drei mit einer Metallsäge sein eigenes Fahrrad lossägen. Zumindest sollte das nur in seltensten Ausnahmefällen vorkommen. Es handelt sich bei der kauernden Person mit der Säge also aller Wahrscheinlichkeit nach um einen echten Fahrraddieb!
Was nun?
Elie flüstert mit bebender Stimme: „Worauf wartest Du? Tu was! Der Kerl klaut sonst das Rad! Stell Dir mal vor, es wäre Deines! Ruf die Bullen!“
Ich sehe ein, dass wir die Sache nicht auf sich beruhen lassen können. Unschlüssig greife ich zum Telephon. Soll ich wirklich die 110 wählen? Vermutlich lacht man mich aus. Dennoch entschließe ich mich und rufe die Polizei an – unseren Freund und Helfer.
„Einsatzstelle Freiburg Mitte – bitte nennen Sie die Art des polizeilichen Notfalls“ sagt eine freundliche, ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung. Es muss ein Herr in den 50ern sein.
Atemlos berichte ich, was in der Löwenstraße gerade passiert. Ob bitte eine Streife kommen und das Fahrrad sichern könne?
Der freundliche Polizist sagt sofortige Hilfe zu. Er lässt mich eine Telephonnummer notieren, die ich anrufen solle, wenn sich die Lage zuspitzen sollte. So werde ich gleich an ihn verbunden und nicht erst in die Zentrale geschaltet.
„Wir schicken Ihnen eine Polizeistreife. Löwenstraße 3 sagen Sie? Direkt über dem Dampfroß? Ja, das kennen wir gut. Da sind wir oft im Einsatz. Die Kollegen fahren jetzt los. Bitte bleiben Sie in unmittelbarer Nähe Ihres Telephons.“
Anatol und Elie zittern nun beide vor Angst und Erregung – ich im Übrigen auch. Dies hier ist keine normale Situation! Das Telephon in der Hand (es hängt zum Glück an einem sehr langen Kabel) schleiche ich, die Butler direkt hinter mir, zum Fenster. Vorsichtig spinxen wir über das Fensterbrett. Nur nicht zu gut sichtbar sein!
Draußen sägt es. Der Dieb ist also noch nicht durch! Man hört das Geräusch bis auf die andere Straßenseite, bis hoch in meine Wohnung.
Da! nicht einmal 30 Sekunden später biegt ein Streifenwagen von rechts in die Löwenstraße ein! Unsere Freunde und Helfer sind prompt zur Stelle – das ist beruhigend. Wir halten die Luft an. Der Dieb wird die Polizei doch nicht bemerken?!
Der Streifenwagen fährt bis vor das Dampfross und parkt an der gegenüberliegenden Straßenseite, auf dem kleinen Platz, der zum KG II führt – vor dem Haus zur lieben Hand. Der sägende Dieb sitzt etwa 3-4 Meter weiter, seelenruhig in sein Sägewerk vertieft. Er sieht den Streifenwagen nicht.
Vier Polizisten steigen aus dem Wagen. Sie entdecken den mutmaßlichen Dieb ebensowenig wie er sie – und hören ihn auch nicht, was verwunderlich ist. Ich winke aus dem ersten Stock herunter, aber auch ich bleibe unbemerkt.
In diese spannungsgeladene Situation hinein schrillt das Telephon! Ich hebe ab und traue mich nur, meinen Namen zu flüstern. Der Polizeibeamte von vorhin ist am Telephon. „Frau C.? Sind Sie da? Ja? Die Polizeistreife ist nun vor Ort. Hat sich die verdächtige Person entfernt? Die Streife kann sie nicht finden.“
„Nein, die verdächtige Person ist noch da! Sie sägt weiter an dem Fahrradschloß! Sie können das sogar durchs Telephon hören!“ Verzweifelt halte ich den Telephonhörer aus dem Fenster – und bedenke nicht, dass der Polizeibeamte durch das Telephon vielleicht hören, aber nicht sehen kann, wo der mutmaßliche Dieb ist.
Nun sehen die vier Polizisten aber mich oben am Fenster. „Wo ist der Tatverdächtige?“ fragen sie. Ich wedle hektisch mit dem Telephonhörer und zeige auf die gegenüberliegende Straßenseite: „Da, da ist er! Direkt neben Ihrem Streifenwagen!“
Die Polizisten drehen sich um – in diesem Moment merkt der mutmaßliche Dieb, dass hier etwas nicht stimmt, springt auf, lässt von dem Fahrrad ab und rennt los, aufs Unigelände, Richtung KG II – wo um diese nächtliche Stunde alles stockdunkel ist.
Die Polizisten machen sich heldenhaft an seine Verfolgung. Zurück bleiben Anatol, Elie und ich – und der Streifenwagen.
Ein Grüppchen angeheiterter Studenten nähert sich, vermutlich aus dem Savo kommend. Der Streifenwagen hat es ihnen angetan. Sie sehen sofort, dass niemand darin sitzt und dass auch kein Polizist in der Nähe ist.
Mit Entsetzen merke ich, dass der Wagen nicht abgeschlossen ist, denn die feuchtfröhliche Gesellschaft öffnet die Türen und macht es sich in dem Streifenwagen bequem, während der offenbar am wenigsten Angetrunkene versucht, den Wagen zu starten.
Mit zittenden Händen wähle ich die Notfallnummer, die der freundliche Polizist mir vorhin gegeben hat. Mein Freund und Helfer (aber bin nicht ich das gerade?) ist zuverlässig am anderen Ende der Leitung und möchte wissen, ob die verdächtige Person dingfest gemacht werden konnte.
„Nein!“ flüstere ich mit heiserer Stimme. „Die Kollegen verfolgen den Verdächtigen nun! Aber es gibt ein neues Problem: Ihr Streifenwagen wird gerade besetzt! Bitte schicken Sie schnell Verstärkung!“
Dem freundlichen Herrn stockt der Atem. „Unser Streifenwagen?“ „Ja!“ sage ich. „Es haben sich gerade 4 Personen hineingesetzt und versuchen, damit wegzufahren! Soll ich runtergehen und eingreifen?“
„Nein, Sie bleiben dort am Fenster und erstatten mir Bericht! Bleiben Sie am Apparat – auf keinen Fall auflegen!“ ruft der Herr noch – dann bin ich in einer Warteschleife.
Anatol und Elie sitzen wie erstarrt auf dem Fensterbrett. Mit versteinerten Mienen sehen sie zu, wie zwei der beschwipsten Spitzbuben im Fond des Streifenwagens singen und hüpfen – und sich sichtlich wohlfühlen. Die beiden vorne Sitzenden haben Schwierigkeiten, den Wagen anzulassen – aber vielleicht gelingt es doch!
Die Warteschleifenmusik setzt abrupt aus. Der freundliche Polizist ist wieder in der Leitung. „Frau C., bitte bleiben Sie am Telephon. Eine weitere Streife ist unterwegs. Bitte sagen Sie mir bescheid, sobald Sie sie sehen.“
Kaum 10 Sekunden später fährt in der Tat ein zweiter Streifenwagen vor. Ich erstatte dem Einsatzleiter en direct Bericht. Anatol und Elie fühlen sich wie im Krimi, werden sie mir später sagen.
Drei Polizisten steigen aus und laufen auf den gekaperten Streifenwagen der unseligen ersten Streife zu. Die Autobesetzer merken, dass die Angelegenheit nun brenzlig wird und versuchen, zu fliehen – erfolglos. Zu hoch ist offenbar die Blutalkoholkonzentration.
Die vier Übeltäter werden vorläufig festgenommen, verwarnt, und nach Aufnahme ihrer Personalien nach Hause geschickt.
Indessen sind die Verfolger des verdächtigen Sägers unverrichteter Dinge vom Universitätsgelände zurückgekehrt. Der mutmaßliche Dieb konnte nicht dingfest gemacht werden. Ein Polizeibeamter erklärt mir dies unten vor dem Fenster, während ich alles per Telephon an den zugeschalteten Einsatzleiter weitergebe.
Da Ruhe und Ordnung nun wieder eingekehrt sind – der Streifenwagen wurde befreit, der Fahrradschloßsäger vertrieben – erklärt der Einsatzleiter die Intervention für erfolgreich beendet. Er freue sich, mir und den Butlern mitteilen zu können, dass wir nun wieder ruhig schlafen könnten.
Ich bin mir dessen nicht ganz so sicher, bedanke mich aber bei den trefflichen Wachtmeistern für ihr beherztes Eingreifen.
Es ist mittlerweile nach vier Uhr. Elie friert vor Müdigkeit, Anatol ist hingegen noch etwas zu aufgekratzt, um ans Schlafen zu denken. Ich koche einen Tee für alle – aber als der fertig ist, schlummern die beiden Butler neben der zusammengerollten Nini, die von dem ganzen Polizeieinsatz nichts mitbekommen hat.
Fünf Minuten später schlafe auch ich tief und fest.
Am nächsten Morgen ist das Fahrrad, an dem der Verdächtige gesägt hatte, fort. Ich werde nie erfahren, ob der Dieb sein erbärmliches Werk später in der Nacht noch vollenden konnte – oder ob das Fahrrad von der Polizei sichergestellt und seinem rechtmäßigen Eigentümer übergeben wurde.
Wir hoffen natürlich, dass letzteres der Fall ist.