34. Kapitel – Elie auf dem Schulweg

IMG_2041Elie ist sehr aufgeregt. Das hat einen Grund: Elie will heute zum ersten Mal mit seinem tollen neuen Tretroller, den Anatol ihm gestern gebaut hat, zu Schule fahren.

Da der Schulweg vorwiegend durch den Park und nur an einer Stelle an einer großen Straße – über eine Kreuzung mit Schülerlotsen – entlangführt, bin ich einverstanden, dass  der Roller mitgenommen wird. Gefährlich ist das Rollerfahren auf dem Schulweg nicht – zumal Anatol Elie noch ein ganzes Stück begleiten will.

Aber damit nicht genug. Nicht nur der Roller soll heute mit in die Schule, sondern auch Mina.

Wer ist Mina?

Mina ist eigentlich ein Geschenk. Elie ist am kommenden Samstagnachmittag zum Geburtstag der kleinen Nachbarsdinosaurierin – Anna heisst sie – eingeladen. Zu einer Geburtstagsfeier bringt man ein Geschenk mit, und so bin ich am Samstag in die Stadt gefahren und habe für Anna eine niedliche schwarz-weisse Stoffkuh erstanden.

Noch bevor wir sie zu Hause in ein Geschenkpapier einwickeln konnten, hatte Elie bereits entschieden, dass die kleine Stoffkuh Mina heisse und von nun an in seiner grünen Schildkröten-Schultasche herumgetragen werden müsse:

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Natürlich soll Mina heute auch mit in die Schule. Sie solle dort etwas lernen, und noch ein bisschen klüger werden, findet Elie.

Ich weise darauf hin, dass Mina am Donnerstag zu Anna ziehen werde – weil sie ihr Geburtstagsgeschenk sei und Elie sie nicht behalten könne. Elie antwortet entrüstet, dass dem ja ein heutiger Schulbesuch nicht entgegenstehe – und so erlaube ich, dass nicht nur der Roller, sondern auch Mina heute mit zur Schule gehen darf. Insgeheim ist mir bewusst, dass das eine Eselei ist – aber ich kann es Elie nicht abschlagen.

Anatol und Elie zockeln also mit dem Roller und Mina in der Schildkrötentasche los. Es ist halb 8 – die Schule beginnt um 10 vor 8, und eine gute Viertelstunde geht man schon, auch mit dem Roller.

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Ich räume den Frühstückstisch ab und füttere die Katzen. Dann beginne ich, zu schreiben – denn heute arbeite ich zu Hause.

Um kurz nach 8 höre ich Anatol die Treppe heraufkommen. Er bereitet sich einen Tee zu und setzt sich neben den Computer. Elie sei sehr stolz auf seinen Roller gewesen, berichtet Anatol. Er habe Mina genau erklärt, wie man Roller fahre, wie man auf dem Schulweg aufpasse, dass man sich nicht verlaufe und wie man sicher und wohlbehalten mit Hilfe der Schülerlotsen die Straße überquere. Anatol bezweifelt, dass es am Samstag möglich sein werde, Mina an Anna zu verschenken. Ich seufze. „Da hast Du vermutlich Recht, Anatol. Ich seh das auch schon kommen.“

Ich vertiefe mich in meine Novelle und Anatol macht es sich mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich. Die morgendlichen Sonnenstrahlen fallen durch die Balkontüre in die Wohnung. Es ist ein frischer, klarer Frühlingstag – zum Schreiben ideal.

Ein Geräusch dringt aus dem Treppenhaus hoch. Anatol sieht von seiner Lektüre auf. „Da weint doch jemand!“ sagt er. Ich stehe auf und gehe zur Tür.

Im Treppenhaus wartet ein Häuflein Elend auf uns. Es ist Elie. Die Tränen laufen ihm die Wangen herunter – die Schildkrötentasche ist bereits durchnässt.

„Elie, was ist denn passiert? Wieso bist Du nicht in der Schule? Ist die erste Stunde ausgefallen?“ frage ich – glaube es aber nicht, denn das wäre ja kein Grund, zu weinen. Elie schluchzt – er kann zunächst gar nicht sprechen. Erst als Anatol ihn zur Beruhigung streichelt, geht es etwas besser. Nach und nach erfahren wir die ganze Geschichte.

Elie erzählt, Anatol habe ihn bis zum kleinen Mäuerchen gebracht, an dem sie sich immer trennen, wenn Anatol ihn auf dem Schulweg begleite. Elie will nämlich allein in der Schule ankommen (das ist eine Marotte von ihm: „Schließlich kann ich allein zur Schule gehen!“ sagt er immer).

Am Mäuerchen habe Anatol ihm geraten, den Roller lieber dort zu verstecken und mit dem Rollerschloss an das Zaungitter anzuschließen. Auf dem Schulhof sei der Roller nicht sicher; er habe schon von Rollerdiebstahl oder gar Vandalismus gehört. Es sei also besser, den Roller nicht direkt an der Schule abzustellen.

Elie habe das beherzigt und den Roller im Versteck gut verschlossen zurückgelassen:

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Leider ist er dabei so konzentriert auf das Verstecken und Festschließen des Rollers, dass er die Schildkrötentasche mitsamt Mina einfach neben dem Roller vergisst und ohne sie weiter zur Schule marschiert.

Dieses Versehen fällt ihm siedend heiss ein, als er auf dem Schulhof ankommt. Die Tasche ist nicht mehr da, und Mina auch nicht! Und die Schule fängt in einer Minute an.

Etwas Schlimmeres hätte sich Elie in seinen schrecklichsten Alpträumen nicht ausmalen können. Er darf doch die Schule nicht verpassen! Aber was würde mit Mina und der Schildkrötentasche passieren, wenn jemand sie findet? Es ist nicht auszudenken!

Obwohl Elie genau weiss, dass es streng verboten ist, einfach die Schule wieder zu verlassen, obwohl die erste Stunde fast schon angefangen hat, rennt er einfach los. Er läuft durch die Unterführung vor der Schule auf die andere Straßenseite, die ganze Bürgerstraße hoch am Park vorbei, dann über die Kreuzung vor dem Rathaus und bis zum Parkplatz am Kiosk, wo der Roller am Mäuerchen versteckt ist. Vor lauter Angst, Mina vielleicht nicht mehr zu finden, schlägt sein Herz bis zum Hals!

Nun ist er am Versteck angelangt – und GOTT SEI DANK: Mina sitzt immer noch brav in der Schildkrötentasche und wartet auf Elie. Sie ist von niemandem mitgenommen worden. Vor lauter Erleichterung fängt Elie lauthals zu weinen an.

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Mina ist gerettet, die Schildkrötentasche ebenfalls und der Roller steht unversehrt in seinem Versteck. Es ist nun eigentlich alles gut – bis darauf, dass die erste Stunde schon begonnen hat, und Elie genau weiss, dass Frau Goyke – die Mathematiklehrerin – es über alles hasst, wenn man zu spät kommt. Sie kann es nicht verstehen, dass man nicht früh genug zur Schule losgeht. Dass man den richtigen Zeitpunkt einfach „vergessen“ habe, lässt sie nicht gelten! Sie sagt dann mit strenger Stimme: „Als ich klein war, hieß es ‚Vergessen ist Buckel messen‘! Und das bedeutete, dass man übers Knie gelegt wurde und den Hosenboden versohlt bekam!“

Davor hat Elie unglaubliche Angst. Ausgerechnet heute muss die erste Stunde bei Frau Goyke sein! So spät, wie er heute dran ist, ist überhaupt noch niemals jemand in die Schule gekommen. Als ihm das bewusst wird, beginnt er, noch lauter zu weinen als vorher.

Was er nicht weiss: Frau Goyke ist in Wirklichkeit eine sehr liebe Lehrerin und würde niemals einem Schüler den Hosenboden verhauen. Aber sie ist streng und Elie hat deshalb große Angst vor ihr.

Er kann also auf gar keinen Fall in die Schule zurück. Weinend macht er sich deshalb auf den Weg nach Hause – wo er nun, gegen halb 9, völlig aufgelöst eintrifft.

Anatol schüttelt den Kopf. „Elie, was hast Du da nur angestellt. Aber sieh es mal so: Der Roller ist da, Mina ist da, Deine Schildkrötentasche ist da. Es ist überhaupt nichts Schlimmes passiert – außer, dass Du die ganze erste Stunde bei Frau Goyke verpasst hat. Darum beneide ich Dich wirklich nicht…“. Elie fängt wieder an, zu schluchzen. Er meint, er wolle nie wieder in die Schule gehen, nie nie wieder!

Dem widerspreche ich mit Entschiedenheit. „Elie, Dir ist ein dummes Missgeschick widerfahren. So etwas kann leider passieren. Das ist aber kein Grund, nicht mehr in die Schule zu gehen. Wir machen es jetzt so: Du bleibst hier, bis die 3. Stunde anfängt. Die 2. Stunde hat sowieso schon begonnen, die verpasst Du leider auch noch. Du musst diese beiden Stunden später nachholen – das sollte möglich sein. Ich schreibe Dir nun einen Entschuldigungszettel und erkläre Deinem Lehrer, dass Du heute morgen ein Problem gehabt hast und deshalb erst zur 3. Stunde kommen kannst. Das ist ja auch die Wahrheit. Was hast Du denn in der 3. Stunde? Handarbeiten? Das ist bei Fräulein Evers, nicht? Gut, dann schreibe ich jetzt den Entschuldigungsbrief an Fräulein Evers. Und zur Schule bringe ich Dich nachher mit dem Fahrrad – der Roller und Mina bleiben zuhause. Anatol wird gut auf sie aufpassen.“

Elie kann unter seinen Tränen nun doch wieder lächeln. Anatol macht ihm schnell einen heissen Kakao und etwas später fahren wir dann los, zur Schule. Diesmal mit meinem Fahrrad!

Dass Mina nach diesem Abenteuer nicht mehr wie geplant an Anna verschenkt werden kann, versteht sich von selbst. Elie sagt mir aber gerade, dass in der Stofftier-Jobbörse die Zwillingsschwester von Mina – Mona – auch auf eine Stelle warte. Ob es nicht besser sei, wenn Mona anstelle von Mina zu Anna ziehe …

Anatol und ich halten das auch für die beste Lösung.

 

 

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