Nach einem etwas holprigen Start in meinen Geburtstag beginne ich, mich auf das heutige Programm zu freuen. Als erstes gehe ich zur Bäckerei und bestelle für Montag einen Himbeerkuchen, den ich meinen Freunden bei der Arbeit mitbringen möchte. Anatol backt zur Zeit nicht – er ist in sein Physikreferat vertieft und wird daran wohl auch die nächsten Tage arbeiten. Zum Glück ist auf meinen Bäcker an der Ecke Verlaß.
Bei der Akupunktur treffe ich Fridolin. Er gratuliert mir herzlich zum Geburtstag – anders als meine Butler hat er mich nicht vergessen! Fridolin bemüht sich, professionell und gutgelaunt wie immer aufzutreten. Dennoch bemerke ich, dass ihn etwas bedrückt. Leider bleibt bis zu meinem Termin nicht ausreichend Zeit, um nachzufragen – auch sind andere Patienten anwesend, und ich möchte Fridolin in dieser Umgebung nicht mit möglicherweise privaten Dingen belästigen. Ich nehme mir aber vor, Anatol heute abend zu bitten, sich um Fridolin zu kümmern – wenn sein leidiges Referat endlich abgeschlossen ist.
Nach der Akupunktur bekomme ich einen Geburtstagstee bei einer lieben Freundin, und dann gibt es Spaghetti a l´arrabiata – meine Lieblingsnudeln.
Das Highlight des Tage steht mir jedoch noch bevor: der Geburtstagsnachmittag bei meiner besten Freundin. Hier werde ich mit Kuchen, Erdbeeren und Schlagsahne verwöhnt – und bekomme eine herrlich rosa-weiss blühende Phalaenopsis geschenkt.
Der Nachmittag vergeht viel zu schnell – nach einem Spaziergang ist es 18 Uhr 30 und ich muss schleunigst nach Hause zurück, mich um die Katzen kümmern. So wie es aussieht, werden meine Saurier wohl nichts weiter erledigt haben. Die sich anbahnende unumgängliche Aussprache gedenke ich, morgen zu führen – heute will ich nichts Unangenehmes mehr in Angriff nehmen.
Um 19 Uhr betrete ich die Wohnung. Wie ich schon erwartet habe, ist nichts aufgeräumt. Die Küche präsentiert sich so, wie sie auch heute nachmittag schon ausgesehen hatte. Immerhin ist Marmelade gekauft worden – ansonsten ist im Haushalt überhaupt nichts geschehen.
Als ich die beiden Übeltäter zur Rede stellen will, bemerke ich, dass weder Elie noch Anatol zu Hause sind. Am Kühlschrank klebt ein Zettel:
„Bin bei Edouard, das Referat besprechen. Elie ist zu Mirko, einen Film gucken. Bin nicht vor 20 Uhr zurück. Anatol“
Diese Nonchalance geht mir nun doch zu weit. Kurzerhand rufe ich Anatol auf dem Handy an und beordere ihn unverzüglich nach Hause. Elie hat noch kein eigenes Handy. Also wähle ich die Nummer von Mirkos Eltern (zum Glück finde ich sie in den Schulunterlagen) – aber es geht dort niemand ans Telephon.
Ich beruhige mich, indem ich mir einrede, dass Mirkos Eltern Elie vermutlich gerade nach Hause bringen.
Es klingelt. „Das muss Elie sein“ denke ich – aber es ist Anatol, der allein die Treppe hochspringt – etwas bockig ob der Unterbrechung seines Abends bei Edouard. Wütend herrsche ich den Butler an: „Wo ist Elie? Wieso seid Ihr nicht schon längst zu Hause? Ihr wisst ganz genau, dass Ihr um 18 Uhr 30 nichts mehr draußen zu suchen habt – und nun ist es schon fast 20 Uhr!“
Anatol verteidigt sich. „Elie ist um drei zu Mirko gegangen – ich weiss nicht, warum er noch nicht wieder da ist! Die beiden wollten einen Film gucken und dann spielen gehen. Über das Referat habe ich die Zeit vollkommen vergessen.“ Anatol ist zerknirscht.
„Es ist schon gut,“ beruhige ich Anatol, da er sichtlich nichts falsch gemacht hat. „Ich war ja auch nicht zu Hause. Ich verstehe nur nicht, warum bei Mirko niemand ans Telephon geht – ich mache mir Sorgen!“
Anatol meint, vielleicht seien Elie und Mirko zu Anna gegangen? Anna wohne im selben Haus wie Mirko – möglicherweise seien sie dort zum Abendessen eingeladen worden?
Ich halte das für höchst unwahrscheinlich – schließlich ist Anna der Grund für Elies Liebeskummer – aber ich rufe dennoch Annas Eltern an. Diese sind ausgegangen: Anna ist am Telephon. „Nein, Elie und Mirko sind nicht hier. Mirkos Eltern sind heute Abend gar nicht da: sie sind bei der selben Feier eingeladen wie meine Eltern. Mirko ist vorhin zu seiner Großmutter gegangen – aber Elie ist nicht dabeigewesen, das habe ich gesehen.“
Ich bedanke mich bei Anna für die Auskunft. Meine Sorgen werden von Minute zu Minute größer.
„Anatol, Elie ist verschwunden. Er ist nicht bei Mirko, und bei Anna auch nicht. Gibt es etwas, was Du mir verschwiegen hast? Das solltest Du mir nun allerschnellstens sagen!“
Anatol beteuert, Elie habe ihm nur gesagt, er wolle zu Mirko – einen Film gucken. Da Elie sowieso fast jeden Nachmittag bei Mirko verbringe, habe er sich nichts dabei gedacht! Anatols Stimme zittert.
Mir kommt ein Verdacht. „Was wollten die beiden denn eigentlich für einen Film gucken, Anatol? Hat Elie Dir etwas gesagt?“
„So genau nicht … es war ein englischer Titel … den Regisseur kannte ich nicht – kann also nichts so Besonderes gewesen sein. Irgendwas mit „K“ … Kubus oder so.“
Mir schwindelt. „Kubrick …?“ frage ich – und hoffe, dass Anatol das verneint. Die Hoffnung wird enttäuscht. „Ja, das muss der Name gewesen sein. An den Titel des Films kann ich mich nicht mehr erinnern – irgendwas auf englisch; wenn ich es richtig verstanden habe, ging es um geschlossene Augen … für einen Film ja ein total blöder Titel!“
Ich muss mich setzen. Elie hat mit seinem außerordentlich frühreifen Freund Mirko „Eyes wide shut“ gesehen – um danach spurlos zu verschwinden.
„Anatol, wir müssen Elie sofort suchen gehen. Und ich glaube, ich weiss, wo wir suchen müssen.“ Anatol springt mit einem Satz in meine Tasche – ich werfe meine Jacke über und verlasse eilig das Haus.
Es ist kurz nach 23 Uhr. Mit etwas Glück können wir Elie abfangen, bevor die in Frage kommenden Etablissements ihre Pforten öffnen.
Ein nächtlicher Gewaltmarsch durch die einschlägigen Bars und Nachtclubs beginnt. Um seinen Liebeskummer zu betäuben, muss Elie in die Rolle des Bill Harford aus Eyes wide Shut geschlüpft sein.
Diese Rolle sollte er nicht zu lange spielen.