Das ersehnte lange Wochenende ist endlich da. Heute kann ich schon um 13 Uhr von der Arbeit nach Hause gehen – und am Nachmittag habe ich frei.
Die Sonne scheint, es ist warm – meine Laune könnte besser gar nicht sein. Heimlich nehme ich mir vor, nach Erledigung aller meiner heute noch anstehenden Termine bei Amorino ein Eis zu essen.
Mit dieser schönen Aussicht im Sinn komme ich zu Hause an. Elie ist nicht da – er macht heute seine Hausaufgaben bei Anna und bleibt dann den ganzen Nachmittag dort. Seit Angelo in Amerika sein „Auslandssemester“ absolviert, ist Elie wieder viel häufiger bei Anna. Anatol und ich beobachten die komplizierte Freundschaft, mischen uns aber nicht ein.
Anatol stellt fest, dass ich auf keinen Fall heute allein in die Stadt gehen kann. Er habe auch Dinge zu erledigen, werde mich also im Rucksack begleiten.
Ich seufze. Mein erster Termin heute Nachmittag ist beim Hautarzt; hier wünsche ich keine neunmalklugen Einmischungen des Sauriers, der dem Arzt erklärt, welche Behandlung er an mir durchführen soll und welche nicht. Ich ermahne den Butler daher auf das Schärfste, sich während meines Arzttermins entweder ruhig zu verhalten oder am besten gleich draußen zu bleiben.
Anatol brummelt etwas, das sowohl Zustimmung als auch Widerspruch bedeuten kann. Ich nehme mir also vor – um jedes Risiko auszuschließen – den Saurier vor der Arztpraxis aus meiner Handtasche zu werfen und ihn nach dem Termin wieder einzusammeln. Einen Eklat beim Arzt mag ich mir nicht vorstellen.
Um 15 Uhr 30 fahren wir mit dem Fahrrad los – Anatol halb im Rucksack, halb auf meiner Schulter sitzend, immer die Nase im Wind.
Mein Termin ist erst um 16 Uhr 30. Wir müssen zwar die ganze Stadt durchqueren, da wir aber noch viel Zeit haben, fahre ich ganz gemütlich an den Quais entlang, bevor wir an einen großen Platz kommen. Unzählige Radfahrer aus allen Richtungen treffen hier aufeinander – zum Glück gibt es gleich mehrere Radwege.
Als wir an einer gut besuchten Café-Terrasse vorbeiradeln, fällt mein Blick auf ein am Straßenrad stehendes, blaues Fahrrad. Traurig denke ich „So sah unser schönes altes Victoria-Fahrrad aus. Es hatte genau diese strahlend blaue Azurfarbe…“.
Melancholisch sehe ich das Rad im Vorbeifahren genauer an – und mich durchfährt ein Schock. Das IST unser altes Victoria-Fahrrad! Zumindest sieht es genau so aus!
Ich bremse – und im selben Moment beginnt der Saurier hinten im Rucksack an, Kobolz zu schießen. Mit seinen scharfen Stegosaurier-Augen hat der das Fahrrad ebenfalls erblickt, und zischt mir zu „Halt an!! Stopp! Da ist unser Rad!“
Augenblicklich kommen wir zum Stehen. Ich sehe das Fahrrad nun aus der Nähe und mir ist sofort klar, dass hier kein Irrtum vorliegt. Es handelt sich um unser altes Victoria-Fahrrad aus den 70er Jahren, das im letzten Sommer gestohlen worden war.
Traurig, verschmutzt und offensichtlich auch beschädigt steht es da – mit einem abscheulichen Bügelschloß an einen Pfosten fest angekettet.
Ohne nachzudenken nehme ich schnurstracks unser Granit-Faltschloss und sichere unser altes Rad damit.
Dann wähle ich mit zitternden Händen die Notrufnummer auf meinem Handy, während ich mich unauffällig vom „Tatort“ entferne.
Ein freundlicher Polizist antwortet mir. „Bitte nennen Sie die Art des polizeilichen Notfalls,“ fordert er mich auf. Aufgeregt ringe ich nach Luft – und um Worte. Dann sprudelt es aus mir heraus: das im letzten Sommer gestohlene Fahrrad, meine polizeiliche Anzeige, deren Abschrift ich sogar dabei habe – das wiedergefundene Rad – und schließlich mein Hilferuf: ich brauche dringend polizeiliche Unterstützung!
Der Freund und Helfer am anderen Ende der Leitung sichert mir sofortigen Beistand zu. Ich muss ihm eine Beschreibung meiner Person geben – Jeans, blauer Kapuzenpulli, rosa Rucksack mit grünem, nervösem Saurier (letzteres sage ich natürlich nicht) – damit die Kollegen mich finden. Seine weitere Anweisung: ich solle mich unauffällig verhalten und von einem etwas entfernteren Standpunkt, nämlich der Straßenseite gegenüber, den Tatort weiter beobachten.
Dies befolgen Anatol und ich. Vor Aufregung bebend setzen wir uns auf ein Holzbänkchen und versuchen, uns zu beruhigen. Das gelingt indessen nicht.
„Anatol, das Rad war doch graviert! Wir hatten extra diesen Code bei Bicycode einstanzen lassen, der auch in unserem Fahrradpass steht! Nun habe ich eben beim Anschließen den Code aber nicht mehr gesehen!“
Panik bemächtigt sich meiner. Habe ich mich geirrt? Ist es doch nicht unser Rad?
Anatol stammelt, er habe die Gravur auch nicht gesehen! Aber es sei 100% unser Rad. Die kleinen blauen Lack-Flecken, mit denen wir die Roststellen zu verdecken versucht hatten, die alte Sachs-Gangschaltung, der immer an der gleichen Stelle ausgefranste Bremszug – hier sei keine Verwechslung möglich. Ob man die Gravur hatte entfernen können?
Anatol schluchzt laut auf – wie sollen wir ohne die Gravur zweifelsfrei beweisen, dass es wirklich unser Fahrrad ist?
Vier junge und sehr kräftige Männer – man könnte sie auch als „Gorillas“ bezeichnen – kommen plötzlich direkt auf uns zu. Das Herz rutscht mir tief in die Hosen. Ist das die Fahrrad-Diebesbande? Haben sie mich beobachtet und kommen nun, um mich zu zwingen, das Rad wieder aufzuschließen?
Einer der jungen Männer streckt den Arm aus und gibt mir die Hand. Er stellt sich als Kriminalkommissar vor. Seine drei Kollegen nicken mir freundlich zu. Wir brauchen keine Angst zu haben – sie sind von der Kriminalpolizei.
Schnell schildere ich die Lage, weise meine polizeiliche Anzeige des Diebstahls vor und zeige den Polizisten das Corpus delicti aus sicherer Entfernung.
Die Kripobeamten erklären mir in knappen Worten das weitere Vorgehen. Sie würden nun versuchen, den Fahrraddieb – oder Käufer des Diebesgutes – zu überführen. Dazu würden sie den ganzen Nachmittag bei dem fest angeschlossenen Fahrrad bleiben – in der Hoffnung, dass der Dieb kommen und es aufzuschließen versuchen werde. Der Fahrraddiebstahl habe mittlerweile Ausmaße organisiserter Kriminalität angenommen und man setze daher alles daran, die Vergehen aufzuklären – um den Diebes- und Hehlerbanden das Handwerk zu legen.
Bang frage ich, ob mein Fahrrad hierbei keiner weiteren Gefahr ausgesetzt sei. Die Polizisten verneinen dies. Ich solle beruhigt zu meinem Termin fahren und danach wieder hier zum Treffpunkt kommen. Dann werde man sich auch über die Rückgabe des Rads an mich verständigen.
Da im Rucksack stark randaliert wird, versetze ich selbigem einen leichten Schlag. Irritiert sehen die Polizisten mich an. „Führen Sie ein Tier mit?“ fragt der Kommissar. Ich verneine dies unsicher und entferne mich schnellstens – nicht ohne versprochen zu haben, so bald wie möglich wiederzukommen. Dann werfe ich einen letzten Blick auf das blaue Fahrrad …
Bevor ich losradle, höre ich den Kommissar sagen „Leute, das ist die beste Überwachung, die ich seit Jahren hatte. Kommt, wir setzen uns da auf die Caféterrasse und warten. Ich nehme eine Cola.“
50 Meter weiter öffne ich den Rucksack und schnauze das grüne Untier an. „Bist Du verrückt, so einen Lärm zu machen! Wenn wir unser Rad wiederhaben wollen, hast Du Dich ab jetzt ruhig zu verhalten!“
Kleinlaut verspricht Anatol, dass man von ihm nun nichts mehr hören werde. Er wolle ja nur sein Rad! Das geht mir genauso…
Beim Arzt warten wir bis fast 18 Uhr auf meinen Termin. Wie auf heissen Kohlen sitze ich im Wartezimmer.
Um 18 Uhr 30 treffen Anatol und ich wieder am Tatort ein. Das Fahrrad steht weiterhin am Platz, die Kripobeamten sind bei ihrer 5. Limonade. Im Dienst wird selbstverständlich kein Alkohol getrunken.
Leider hat sich niemand dem Fahrrad genähert. Die Überwachung soll daher noch etwa anderthalb Stunden laufen. Danach würde man sich bei mir melden. Ich solle nun nach Hause fahren und auf weitere Weisung warten.
Enttäuscht entferne ich mich. Was soll ich tun? Entgegen dem Rat des Polizisten fahre ich nicht nach Hause, sondern begebe mich zu Amorino, wo ich für Anatol und mich ein veganes Eis kaufe.
Dann beratschlagen wir.
Ich bin dafür, so lange in unmittelbarer Nähe des Rades zu bleiben, bis die Polizei das Schloß des Diebes aufsägt und wir das Rad entweder mitnehmen können oder aber es in polizeilichen Gewahrsam genommen wird. Anatol teilt diese Meinung. Wir fahren nicht nach Hause, bevor das Rad nicht in Sicherheit ist!
Um kurz vor 20 Uhr finden wir uns erneut am Tatort ein. Der Kommissar ist nicht mehr zugegen, auch die anderen Polizisten sind weg. Das Rad steht indessen am Platz: weiterhin durch mein Schloß gesichert.
Wieder setzen wir uns auf das Holzbänkchen und warten. Wir werden unser Fahrrad nicht mehr aus den Augen lassen, bis es in Sicherheit ist – wie lange auch immer das dauern wird.
Etwa eine Viertelstunde später schrillt mein Handy. Der Kommissar ist am anderen Ende der Leitung. Er habe die Angelegenheit mit seiner polizeilichen Hierarchie geklärt und könne mir nun verbindliche Anweisung zum weiteren Vorgehen erteilen. Die Gravur des Rades sei zwar durch Einwirkung des Diebes auf den ersten Blick entfernt worden – bei genauer Betrachtung habe man die Ziffern jedoch ablesen und mit meinem Fahrradpass abgleichen können. So sei ohne jeden Zweifel bewiesen, dass es sich hier um mein altes, gestohlenes Fahrrad handele. Das Aufbrechen des Schlosses des Diebes sei indessen nicht Aufgabe der Polizei – dies müsse ich selber vornehmen, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Schlossers. Sobald ich das Rad an mich genommen habe, solle ich mich kurzfristig – mitsamt dem Rad – auf der Wache vorstellen, wo man mir die weiteren Schritte erklären werde. Hierauf verabschiedet sich der Kommissar und lässt mich mit dem Problem allein, mein Fahrrad „loszueisen“.
Was ist zu tun? Wie knacke ich – um 20 Uhr 15 mitten in Stadt – ein Fahrradschloß – ohne jegliche schriftliche Berechtigung dazu …? Unschlüssig kratze ich mich am Kopf.
Anatol zetert aus vollem Halse los: „Nun ruf schon Deinen Schlosser an! Der soll kommen und das Schloss aufsägen! So hat es doch der Kommissar gesagt!“
Ich wähle die Nummer des Schlossers. Keine Antwort. Ich hinterlasse eine Nachricht. Dann suche ich – meinem Smartphone sei dank – im Internet nach Schlossern, die 24h/24 intervenieren…
Nach dem ersten Anruf bei einem Schlüssel-Notdienst wird mir klar, warum die Polizei dies nicht durchführen will: der Einsatz soll 169 Euro kosten. Ich lehne dankend ab.
Nach mehreren Anrufen ohne Erfolg treffe ich auf den Schlüsseldienst der Grand Rue. Dieser sagt zu, für 65 Euro mein Fahrrad freizusägen – und zwar in einer Viertelstunde. Dieses Angebot nehme ich ohne zu zögern an.
Eine halbe Stunde später liegt das Schloss des Übeltäters aufgesägt auf der Straße und ich halte mein gutes altes blaues Victoria-Fahrrad in Händen.
Nun fällt mir auf, dass sich das Hinterrad nicht dreht. Dies macht den Transport nach Hause (auf dem neuen Fahrrad fahrend, das alte nebendran mit der anderen Hand lenkend) überaus schwierig, da ich das alte Rad quasi neben mir herschleifen muss.
Nach 500 Metern ist der Hinterreifen durch das Gezerre über den Asphalt durchgewetzt und platt. Mein rechter Arm, der das Fahrrad neben uns herschiebt, fällt fast schon ab … und wir haben noch etwa 3 Kilometer vor uns.
Trotz aller Widrigkeiten schaffen wir es bis nach Hause.
Dort klingele ich die Nachbarn heraus, die damals – unwillentlich – das Abhandenkommen des Rades verursacht hatten. Sie wollen uns sogar die Kosten für den Schlosser ersetzen!
Ich bin sehr gerührt.
Kurze Zeit später fallen wir vollkommen erschöpft ins Bett und wachen erst um 8 Uhr des nächsten Morgens wieder auf.
Anatols erste Handlung besteht darin, das schöne alte Rad von dem hässlichen Sattel zu befreien, den der Dieb ihm aufgesetzt hatte. Danach wird das Rad mit Motorradshampoo eingehend gewaschen. Leider fallen uns hier diverse Beschädigungen auf – wir hoffen, dass unser trefflicher Fahrrad-Reparateur dies alles wird beheben können.
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