Vorletzte Woche hat Herr Kuno, der Musiklehrer, die aufregende Neuigkeit verkündet : das Schulorchester ist vom berühmten Panther-Club, einer internationalen Wohltätigkeitsorganisation, für ein Konzert am Palmsonntag engagiert worden!
Am Sonntag vor Ostern arrangiert der Panther-Club traditionell eine Benefizveranstaltung, bei der auch immer ein Palmsonntags-Sinfoniekonzert stattfindet. Und für dieses Konzert ist das Schulorchester des Max-Planck-Gymnasiums – Anatols Schule – ausgesucht worden.
Anatol kann sich gar nicht mehr beruhigen. « Stellt Euch vor – wir werden im Park vor fast 300 Zuhörern spielen ! Wir werden berühmt ! »
Elie findet das weit weniger enthusiasmierend. Er spielt er erst seit kurzer Zeit Geige und weiss noch nicht, ob er das weiterführen will. Er ist eigentlich mehr vom Klavier angetan – aber ich möchte erst, dass er etwas Geige lernt. Die Geige kann man leichter überall hin mitnehmen und dann mit Freunden musizieren. Zudem haben wir kein Klavier – leider.
Anatol hingegen spielt schon in der ersten Geige. Er ist relativ begabt – und dementsprechend stolz auf sein Geigenspiel. Eine Gelegenheit wie das kommende Benefizkonzert ist eine großartige Bestätigung für ihn.
Die beiden Butler haben in den vergangenen Wochen sehr intensiv geprobt. Jeden Tag fand eine mehrstündige Orchesterprobe statt, und danach selbstverständlich noch die Übungen zu Hause – und die Einzelproben mit der jeweiligen Instrumentenstimme. Mehrfach war die erste Geige bei uns, um hier zu üben. Überflüssig zu erwähnen, dass der Konzertmeister natürlich Angelo ist. Er wird in dem Konzert auch einen Solopart spielen. Anatol ist sehr neidisch darauf. Leider ist Neid kein guter Ansporn – auch wenn er durchaus ungeahnte Energien freisetzen kann. So übt Anatol zur Zeit nicht wie üblich eine Stunde täglich, sondern vier. Ich habe alle Mühe, für Ausgleich zu sorgen – Anatol ist von dem Instrument nicht mehr wegzukriegen.
Ganz besonders wurmt Anatol, dass Angelo – obwohl mehrere Jahre jünger als er selbst – schon diverse Preise bei Dinojugend musiziert gewonnen hat. « Warum soll ich nicht bei Dinojugend musiziert mitmachen?! Warum verbietest Du mir das? Es ist so ungerecht! »
Ich berichtige Anatol. « Ich habe eine Teilnahme an Dinojugend musiziert nicht verboten, Anatol. Ich finde nur, dass diese Veranstaltungen mehr Dressur sind als Musik. Was mir daran überhaupt nicht gefällt, ist das Konkurrenzdenken, das den jungen Musikern dabei eingebleut wird. Musik hat aus meiner Sicht nichts mit Gewinnen oder Verlieren zu tun. Das habe ich Dir ja auch früher schon erklärt. »
Dass ich mit dieser altmodischen Ansicht vollständig überholt bin, ist mir klar. Heute muss man zu den Gewinnern gehören – immer und überall. Während ich früher mit meinen Freunden einfach nur gemeinsam Musik machen konnte, geht es heute darum, einen ersten Preis zu ergattern. Ich finde das traurig, und möchte meine Saurier davor so lange bewahren wie möglich. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, das weiss ich.
Aber noch eine andere Befürchtung bringt mich dazu, Anatol von einer Teilnahme an diesen Wettbewerben abzuhalten: Anatol ist zwar begabt, aber keinesfalls ein Genie. Sein Geigenspiel macht uns allen – und vor allem ihm selbst – viel Freude. Oft hat er ja mit Antonia musiziert, nun spielt er Duos mit Elie. Ich habe Angst, dass seine Unbefangenheit und Kreativität darunter leiden, wenn er auf den Wettbewerben mit der harten Realität konfrontiert wird. Mit winzigen Wundersauriern, die bereits als Vierjährige das Mendelssohn-Violinkonzert in einem Rutsch runterspielen. Mit Zehnjährigen, die schon an der Juilliard-School studiert haben und Preisträger von internationalen Wettbewerben sind. Und dass er sich selbst dann als Versager fühlt – obwohl er so schön Geige spielt und auch noch weitere Fortschritte machen kann. Kurz, ich sorge mich, dass ihm die Freude am Musizieren auf derlei Veranstaltungen verdorben wird. Dies sage ich ihm natürlich nicht, denn Anatol ist sehr ehrgeizig.
Elie dagegen – er spielt in der sogenannten « dritten Geige », eigentlich der Bratschenstimme – ist deutlich weniger motiviert. Der Bratschenpart ist nicht sehr inspirierend und besteht vorwiegend aus Pausen. Es ist daher Elies größte Sorge, möglicherweise einen Einsatz zu verpassen, wenn er sich bei den Pausen verzählt.
« Was soll ich denn nur tun, wenn ich den Einsatz nicht mehr weiss ? Herr Kuno gibt uns ja meist ein Zeichen, aber an manchen Stellen ist es nicht möglich. Ich habe Angst, das ganze Konzert zu vergeigen! Was ich dann von Angelo zu hören bekomme, darf ich mir gar nicht vorstellen! Er nennt uns ja jetzt schon „die Tuttischweine“! » Der Angstschweiss steht Elie auf der Stirn.
Anatol hat wie immer unfehlbare Tipps. « Die Pausen zählst Du jeweils mit der Anfangszahl durch. Erste Pause : 1-2-3-4 (wenn es ein Viervierteltakt ist). Zweite Pause : 2-2-3-4. Dritte Pause : 3-2-3-4. Und so weiter. Dann weisst Du immer, in welcher Pause Du gerade bist. Nach der 10. Pause zum Beispiel – die Du 10-2-3-4 zählst – kommt dann Dein Einsatz. Da kann nichts schief gehen, Elie ! »
Elie ist sich da nicht so sicher. Aus Erfahrung weiss er, dass trotz bester Planung immer noch Dinge schieflaufen können. Verzagt guckt er Anatol an. « Und wenn doch … ? Was dann ? »
« Tja, dann musst Du mit Bordmitteln arbeiten. Das heisst : Du musst improvisieren. Du weisst ja, in welcher Tonart das Stück komponiert ist. Und wenn Du meinst, Du bist grad dran, aber Du bist nicht ganz sicher, dann spielst Du einfach – lieber nicht zu laut ! – ein paar Akkorde in dieser Tonart. Außer, wenn gerade eine Modulation in eine andere Tonart stattfindet – dann nimmst Du die modulierte Tonart. Sonst lieber nichts spielen. Eventuell kannst Du den Bogen so bewegen, dass man denkt, Du spielst. »
Elie gibt zu bedenken, dass er nicht allein in der dritten Geige spielt. Da sind noch Miriam und Matthias, ein großer Junge, den er nicht so gut kennt.
« Ja klar – der Matthias hat mir beigebracht, wie man improvisiert. So haben wir das damals in der dritten Geige immer gemacht. Hat immer geklappt. Am besten macht ihr beiden (Miriam und Du) es so : ihr guckt, was Matthias spielt, und dann spielt ihr das Gleiche. Klar ? Angelo hat einen Solopart – der wird nicht darauf achten, was die dritte Geige gerade macht. Also keine Bange.» Elie nickt. Etwas Angst hat er immer noch. Aber ein wenig Lampenfieber ist nötig. Sonst fehlt dem Auftritt die Spannung.
Heute ist der große Tag: Palmsonntag – der Tag des Benefizkonzerts. Ich habe jegliches Üben verboten – man darf nicht übertrainieren. Im Konzert muss man frisch anfangen – und nicht die 5. Übeeinheit des Tages abspulen. Anatol akzeptiert das. Kurz vor dem Konzert werden im Orchester nur noch einmal die schwierigen Übergänge durchgespielt, aber mehr auf keinen Fall. Die Generalprobe ist bereits am Tag vorher gewesen – nun wird die Geige erst zum Konzert wieder angerührt.
Das Konzert wird am frühen Abend im Musikpavillon des Parks stattfinden. Zum Glück ist heute ein wunderbarer, sonniger Tag. Ich freue mich auf die Veranstaltung, die eine willkommene Abwechslung in meine Sonntagsroutine bringt.
Die beiden Saurier machen sich anderthalb Stunden vor Beginn des Konzerts mit ihren Geigenkästchen auf den Weg in den Park – nicht ohne mir eingeschärft zu haben, um 18 Uhr 30 ja pünktlich da zu sein. Ich verspreche das und wende mich meiner Arbeit zu. Ein wenig Zeit habe ich ja noch.
Um 18 Uhr 15 finde ich mich am Musikpavillon ein. Die Mitglieder des Panther-Clubs – es handelt sich fast ausschließlich um ältere Herrschaften – sind schon dort versammelt. Eifrig verteilen sie das Programm der Veranstaltung: Zunächst wird die Sitzung des Panther-Clubs stattfinden. Es sollen mehrere Reden gehalten werden, gefolgt vom Konzertprogramm. Nach dem musikalischen Teil gibt es eine kurze Abschiedsrede, und dann sind die Orchestermusiker zu einem Umtrunk beim Panther-Club eingeladen. Der Erlös des Konzerts kommt einer gemeinnützigen Einrichtung zugute. Eine schöne Veranstaltung, finde ich.
Die etwa 300 Konzertbesucher sitzen nun vor dem Pavillon, und gleich wird die Sitzung des Clubs beginnen. Ich frage mich, wie lange sie wohl dauern kann… Das Schulorchester – bestehend aus knapp 30 vor Lampenfieber zitternden kleinen Dinos – muss währenddessen stillsitzen und zuhören. Ich hoffe, dass die Disziplin der jungen Musiker dafür ausreicht. Zum Glück ist Herr Kuno, der Musiklehrer und Orchesterleiter, mit solchen Situationen vertraut. Ich hoffe also, dass die Veranstaltung ohne Zwischenfälle ablaufen kann.
Ein Glöckchen klingt – es läutet den Beginn der Sitzung des Panther-Clubs ein. Ein älterer Herr, der erste Vorsitzende, geht zum Rednerpult und hebt die Arme, um Stille einkehren zu lassen. Dann setzt er zur Rede an.
„Meine lieben Pantherclub Mitglieder, eine traurige Nachricht hat mich eben erreicht. Unser langjähriger Mitstreiter und Freund, Gregor Samla, hat uns gestern für immer verlassen.“ Er senkt den Kopf.
Ein Ruck geht durch das Publikum. Wie ein einziger Mann erheben sich alle Mitglieder des Clubs. Kerzengerade stehen sie da, um ihrem Freund stumm die letzte Ehre zu erweisen.
Der erste Vorsitzende erinnert nun an den Werdegang Gregor Samlas, an seine universitäre Karriere und seine Veröffentlichungen. Es ist ein ergreifender Nachruf.
Mit umso größerem Entsetzen bemerke ich, dass jedesmal, wenn der Name „Gregor Samla“ fällt, ein Zucken und Kichern durch das Saurierorchester geht! Die 6. Klasse hat nämlich gerade „Die Verwandlung“ von Kafka gelesen – der Name des verstorbenen Panther-Club-Mitstreiters erinnert sie an den kafkaschen Käfer. Normalerweise wäre dies nicht witzig – im Gegenteil liegt hier ja sogar ein sehr trauriges Ereignis vor – aber die Nervosität der jungen Musiker, die kaum mehr stillsitzen können, tut ihr Übriges: das Kichern wird lauter. Es hilft auch nicht gerade, dass in jedem Dinozimmer mindestens eine „Samla-Box“ von Ikea steht.
Herr Kuno zischelt „Kinder, leise!“ und tippt mit dem Dirigentenstab auf die Notenpulte, um seine Musiker zur Ordnung zu rufen. Ein klein wenig Wirkung zeigt dies – zumindest die erste Geige scheint sich zu beruhigen. In den hinteren Rängen jedoch bebt und rumort es, das sehe ich sogar aus der Entfernung.
Der erste Vorsitzende hat seinen Nachruf beendet. Ich sehe, wie Herr Kuno aufatmet, denn nun muss das normale Programm beginnen. Zwar werden die Reden noch etwas dauern, aber es wird wohl nicht mehr von Gregor Samla gesprochen werden – er ruhe in Frieden.
Leider nimmt die Veranstaltung jedoch einen anderen – fatalen – Verlauf, denn der erste Vorsitzende verkündet, man wolle nun Gregor Samlas mit drei Schweigeminuten gedenken. Die Mitglieder erheben sich wieder, falten die Hände und senken den Blick. Man sieht, dass sie alle den Verstorbenen gekannt und geschätzt haben. Ich bin ergriffen.
Leider ist das nicht der Fall des Orchesters. Die erste Geige gluckst. Gleichzeitig verstummt das Publikum vollkommen. Man könnte eine Nadel zu Boden fallen hören. Das Kichern erfasst die zweite Geige, die Bratsche. Die Bläser versuchen, zu widerstehen – erfolglos! Die erste Cellistin kneift sich in den Arm, der Trompeter verbirgt sein Gesicht im Schallbecher seines Instruments: Das ganze Orchester ist dabei, in einen kollektiven Lachkrampf abzugleiten!
Herr Kuno, ebenfalls bestrebt, ein nervöses Lachen zu unterdrücken, sieht sich verzweifelt nach Hilfe um – und fassungslos höre ich ausgerechnet Elie in die Stille der Gedenkminute einwerfen: „Wieso lacht Ihr denn? Der arme Herr Samla kann doch nichts dafür, dass er wie eine Ikea-Box heisst. Ich finde es traurig, dass er gestorben ist!“. Elie kennt die Erzählung von Kafka noch nicht.
Nun gibt es kein Halten mehr. Die Geiger nehmen sich gegenseitig in den Arm, um den Lachkrampf zu ersticken. Die Cellisten stopfen sich ihr Kolophonium in den Mund, aber nichts hilft: in wenigen Sekunden wird das Orchester gegen seinen Willen und trotz geradezu übermenschlicher Anstrengung in johlendes Gelächter ausbrechen.
Herr Kuno – feuerrot vor unterdrücktem Lachen – flüstert mit letzter Kraft: „Wir müssen spielen! Jetzt! Den Khachaturian – das ist die einzige Rettung!“ Er nickt Angelo, der am ersten Pult sitzt, zu, hebt den Dirigentenstab. Die Musiker setzen die Instrumente an – die Konzentration kommt zurück. Herr Kuno gibt den Einsatz – und mitten in die Schweigeminute hinein explodiert der berühmte Säbeltanz von Khachaturian.
Entsetzt ob dieser unerwarteten Wendung dreht sich der erste Vorsitzende des Clubs zum Orchester um. Aber das hat sich in einen wilden, durch nichts mehr aufzuhaltenden, grandiosen Reigen verwandelt.
Nach dem Säbeltanz lässt Herr Kuno keine Stille einkehren. Das Konzertprogramm muss nun in voller Länge absolviert werden – zu groß ist die Gefahr eines erneuten nervösen Lachanfalls. „Sarasate!“ befiehlt er dem Orchester. Das ist Angelos großer Auftritt.
Die Zigeunerweisen erklingen – und daran schliessen sich die beiden Arlésienne-Suiten von Bizet an. Herr Kuno peitscht das Programm gleichsam durch – die Darbietung ist atemberaubend. Noch nie hat das Orchester so brillant gespielt.
Der letzte Akkord verklingt. Herr Kuno bedeutet dem Orchester, aufzustehen. Er wendet sich zum Publikum, verbeugt sich. Ich kann sehen, dass er schweissgebadet ist.
Das Publikum ist sprachlos. Ein paar Sekunden lang herrscht absolute Stille. Dann brandet ohrenbetäubender Applaus los. Das Publikum erhebt sich – erbringt eine Ovation. Die kleinen Musiker strahlen.
Das Orchester darf nun abtreten, wird aber mehrfach vom Applaus zurückgeholt. Schließlich gibt es die erste Arlésienne-Suite noch einmal als Zugabe. Das Publikum ist selig.
Als alle Musiker mit ihren Instrumentenkästen vor dem Musikpavillon stehen und sich vom Panther-Club etwas verschämt verabschieden, streichelt eine alte Dame Elie über den Kopf. „Ihr habt sehr schön gespielt. Es macht uns große Freude zu sehen, dass junge Leute wie Ihr so viel Spaß an der Musik haben und beim Musizieren so viel lachen. Das Leben darf nicht nur aus ernsten Dingen wie Tod und Trauer bestehen.“
Angelo meint später ironisch, die alte Frau habe nicht mal gemerkt, dass das Orchester sich über den Panther-Club lustig gemacht habe. Vermutlich habe sie dann auch nicht gehört, dass Elie seinen Einsatz im Khachaturian versaubeutelt habe.
Elie kommt geknickt zu mir. Ob man denn wirklich herausgehört hätte, dass er im Khachaturian ein wenig habe „improvisieren“ müssen. Ich sage wahrheitsgemäß, dass mir nichts derartiges aufgefallen sei. Vielmehr habe Elie sehr schön gespielt. Ich glaube allerdings, die freundliche alte Dame hat sehr wohl gemerkt, dass das Orchester – aus Nervosität und Lampenfieber – in peinlicher Weise die Contenance verloren hat. Sie muss es als einen fröhlichen Zwischenfall inmitten einer sehr traurigen Versammlung angesehen haben. Vielleicht hat sie als junger Mensch so etwas einmal selbst erlebt? Vielleicht sind ihr die Veranstaltungen des Panther-Clubs oft zu ernst?
Vielleicht denkt sie aber auch, dass man dem Tod nichts Besseres entgegensetzen kann als eine Gruppe lachender kleiner Saurierschüler.
Ich finde die Äußerung der alten Dame nicht nur lieb, sondern auch sehr weise.
Vom Panther-Club wird das Orchester dennoch nie wieder engagiert werden.