Morgen ist der 2. April – der Geburtstag meiner Mutter.
Anatol und Elie sehen sie ein bisschen als ihre Großmutter an – Elie nennt sie „Oma“, obwohl er sie noch nie gesehen hat, außer auf Photos. Anatol findet angesichts seines eigenen Alters, er könne schwerlich jemanden als „Großmutter“ bezeichnen, der Millionen Jahre jünger sei als er selbst. Er sagt daher einfach „Hermine“.
Leider wird meine Mutter nicht mehr erfahren, dass der von ihr so gehasste Vorname – Hermine – heute einer der beliebtesten und begehrtesten Mädchennamen überhaupt ist, Emma Watson sei dank. Denn meine Mutter hat keinerlei Erinnerungen an ihren Namen, und auch sonst an nichts.
Anatol und Elie können das nicht verstehen. „Wieso versucht sie denn nicht einfach, ihr Gedächtnis anzustrengen? Bestimmt würde ihr etwas einfallen!“
Ich versuche dann, den beiden klarzumachen, dass es nichts mit Anstrengung zu tun hat – sondern dass Mama an einer Krankheit leidet, die die Erinnerungen wegnimmt, ohne dass man etwas tun kann – und dass es heute noch keine Heilung dafür gibt. Elie verkriecht sich dann meist und weint heimlich – Anatol sucht lieber stundenlang im Netz, ob er nicht doch etwas findet, das Hermine helfen könnte. Aber nie findet er etwas.
Heute sagt er: „Wenn sich Deine Mama nicht mehr erinnern kann, dann tu DU es doch! Warum schreibst Du nicht etwas auf, von früher? Etwas, das Ihr zusammen gemacht habt? Dann wäre es nicht ganz vergessen. Ich glaube, dass sie sich darüber freuen würde, wenn sie es lesen könnte!“
Ich finde diesen Einfall ausgezeichnet.
Und ohne dass ich darüber nachdenken muss, fällt mir eine Begebenheit ein. Im Grunde mehr als nur eine Begebenheit: eine Reise an die Nordsee, die meine Mama mit meiner kleinen Schwester und mir unternommen hat – in den 70er Jahren, also vor langer Zeit. Es mag 1977 oder ’78 gewesen sein …
Eines Tages kommt unsere Mama vom Gericht nach Hause und verkündet: „Wir fahren an die Nordsee! Und zwar nach Friedrichskoog. Nur wir drei. Trolli und Papa bleiben zu Hause – wir müssen auch mal etwas allein unternehmen. Freut Ihr Euch?“
Wir springen voller Vorfeude in die Luft. Eine Reise an die Nordsee! Das klingt sehr spannend – und vergnüglich. Das Meer! Für einen Schiffsjungen wie mich ist das ein einzigartiges Abenteuer! Damals nenne ich mich nämlich „Jim Hawkins“ – und stelle mich auch jedem, der mich fragt, wer ich denn sei, so vor.
Eine Woche später sind die Koffer gepackt und der grüne R16 beladen und abfahrbereit. Mit geöffnetem Schiebedach geht die Reise los – denn es ist schon Sommer in Göttingen.
Bis zur Nordsee ist es ein weiter Weg. Meine Aufgabe ist, die Karte zu lesen und dafür zu sorgen, dass wir uns nicht verfahren. Bis auf kleinere Ausreißer gelingt dies auch.
Am frühen Nachmittag treffen wir in Friedrichskoog ein – in der Pension von Frau Junge, die unsere Wirtin ist. Eine ganze Woche werden wir bei ihr wohnen!
Unser erster Weg führt ans Meer. Eine herbe Enttäuschung erwartet uns: da ist kein Meer. Nicht ein Tropfen Wasser ist zu sehen, nur eine bräunlich-gräuliche, schlammige Oberfläche, die meine Mutter uns als „das Watt“ vorstellt und die sich vor uns erstreckt, so weit das Auge reicht.
So hatte ich mir die Nordsee nicht vorgestellt – wo ist das Meer!?
Meine Mutter erklärt uns, dass nun Ebbe sei. Bei Ebbe ziehe sich das Wasser weit ins Watt zurück, um ein paar Stunden später – bei Flut – wieder zurückzukommen. Die Flut könne gefährlich werden, wenn man zu weit ins Watt gewandert sei. Man müsse sich vor jeder Wattwanderung sehr genau erkundigen, wann das Wasser zurückkäme – und besser noch: nur mit erfahrenen Wattführern ins Watt gehen.
Diese Geschichte von der Flut macht mir ein wenig Angst. Meiner Schwester ist sie auch nicht geheuer. Deshalb drängen wir darauf, jetzt doch lieber zum Abendessen, das Frau Junge sicher schon vorbereitet habe, zurückzugehen.
Mama lacht: „Frau Junge macht uns nur das Frühstück. Mittags und Abends gehen wir ins Restaurant!“
Uns bleibt der Mund offen stehen. Ins Restaurant gehen wir nämlich nie. Das ist viel zu teuer!
Nun seien aber Ferien, erklärt unsere Mutter, und da dürfe man ins Restaurant gehen.
So guten Fisch wie in Friedrichskoog habe ich noch nie gegessen. Es gibt dort eigentlich nur Fisch zu bestellen – das ist Pech für meine kleine Schwester, die keinen Fisch anrührt. Zum Glück für sie gibt es Kartoffeln! Mama und ich lieben Fisch – damals bin ich noch nicht Vegetarierin.
Heute Abend gibt es keine Schimpfe, damit wir ins Bett gehen – wir klettern ganz von allein in unsere Betten und schlafen sofort ein. Seeluft macht müde!
Am nächsten Morgen sind wir sehr früh wach. Ich kann mich erinnern, dass wir noch vor dem Frühstück (das um diese Uhrzeit nicht fertig ist) in den Hafen gehen und die Kutter bewundern. Als Schiffsjunge möchte ich natürlich auf eines der Boote steigen – aber es ist niemand da, der es erlauben könnte … es ist noch so früh! Die Mama meint, ich darf sicher kurz auf eines der angetäuten Boote klettern, wenn ich dabei nichts kaputtmache und dann gleich wieder herunterklettere. So stehe ich für eine kurze Zeit auf einem echten Boot! Ich bin selig.
Nach diesem großen Abenteuer gibt es Frühstück, und dann brechen wir auf zum Meer, was heute morgen zuverlässig zur Stelle ist! So weit das Auge reicht: Wasser. Leider müssen wir feststellen, dass es zum Baden im Meer noch viel zu kalt ist.
Mama hat daher eine zündende Idee: wir gehen in ein Schwimmbad mit echtem – warmem! – Meerwasser, mit richtigen Wellen! In dem Schwimmbad gibt es ein kleines Becken, in dem wir toll planschen können. Und dann gibt es auch noch ein großes Becken für die Erwachsenen. Darin werden alle Viertelstunde riesige Wellen gemacht – wie im Meer. Mir macht das etwas Angst: man kriegt bei diesen Wellen so leicht Wasser in die Augen, und das brennt vom Salz! Ich halte mich von den Wellen also fern, und passe lieber auf meine kleine Schwester auf, die noch nicht schwimmen kann. Im Planschbecken sind wir sicher.
Von dort aus sehen wir, wie unsere Mama weit hinten im großen Becken zwischen den riesigen Wellen schwimmt, ohne auch nur ein bisschen Angst zu haben. Wir sind sehr beeindruckt.
Wir unternehmen eine Wattwanderung und lernen, was ein Priel ist! Es handelt sich dabei um eine Art Bach innerhalb des Watts. Bei Ebbe ist in diesen Bächen kein Wasser – aber sobald die Flut kommt, füllen sich die Priele mit Wasser und können so sehr gefährlich werden, da sie unvorsichtigen Wanderern den Weg zurück zum Strand abschneiden können. Ein Priel kann sehr tief sein, ohne dass man das unbedingt sieht: man merkt es erst, wenn man hineintritt und bis zum Hals im Wasser steht. Dies passiert einem ungestümen jungen Hund, der mit unserer Gruppe im Watt wandert: plötzlich nimmt er ein ungeplantes Vollbad in einem der Priele. Zum Glück findet er das sehr witzig und springt gleich ein zweites Mal in den Priel.
Wir sammeln Muscheln und bauen ein Floß. Die Strandkörbe schützen uns vor Wind und Sonne. Unsere Sandburgen sind wahre Meisterwerke! Im Wellenschwimmbad werden wir immer wagemutiger und trauen uns auch ein klein wenig in die Wellen! Aber niemals so weit, dass wir keinen Boden mehr unter den Füßen haben. Sicher ist sicher. Und unsere Mama passt immer auf uns auf.
Es regnet. Wir können nicht an den Strand – und das Wellenschwimmbad in Marne hat heute auch noch geschlossen. Wir unternehmen einfach einen kleinen Stadtbummel und trinken einen heissen Ostfriesentee mit viel Zucker. In einem Souvenirladen entdecken wir zwei kleine Spielzeug-Seehunde … wieso dürfen sie nicht mitkommen? Mama meint, sie seien zu teuer. Traurig verlassen wir den Laden.
Mama hat dort aber etwas vergessen: wir sollen vor dem Laden warten, bis sie wieder da ist. Kurze Zeit später kommt sie mit zwei ganz kleinen Päckchen wieder aus dem Laden. Wir dürfen sie aufmachen: es sind die Mini-Seehunde! Sie sollten eine Überraschung sein – aber dann kann Mama doch nicht mehr solange warten und schenkt sie uns gleich. Wir sind glücklich!
Nach einer Woche voller Abenteuer und Erlebnisse fahren wir wieder nach Hause zurück. In der ganzen Woche hat Mama nicht ein einziges Mal geschimpft. Sie ist sonst ziemlich streng – aber in unserer Nordseewoche gibt es keine Schimpfe.
Die Seehunde dürfen mit nach Hause nach Göttingen – und mit ihnen das gehäkelte Eierwärmerhuhn von Frau Junge, das wir Fräulein Rottenmeier getauft haben.
Ich war später noch oft mit meiner Mutter an der Nordsee, und wir hatten dort immer viel Vergnügen. Aber in Friedrichskoog sind wir nie wieder gewesen.
Anatol schlägt vor, das vielleicht nachzuholen und unsere nächsten Ferien an der Nordsee in Friedrichskoog zu verbringen?
andreas says
… eigentlich wollte ich „nur mal kurz“ draufschaun – und blieb dann doch ein ganzes weilchen hängen. obwohl meine liebe zu stofftieren begrenzt ist und ich sicherlich auch nicht zur eigentlichen zielgruppe des sehr persönlichen blogs gehöre. tja, ist halt wirklich fein geschrieben …
schöne grüße, andreas
majorneryz says
Lieber Andreas, ich danke Dir sehr für Deinen Kommentar – und würde mich freuen, wenn Du ab und zu noch mal hier reinguckst – und wieder hängenbleibst!
Bis bald 🙂
Susanne