Der kritischste Tag des Jahres ist angebrochen – der erste Weihnachtsfeiertag. Heute backt Anatol. Nachdem er den Rotkohl aufgesetzt hat, holt er die Backutensilien aus dem Küchenschrank und kündigt an, was wir sowieso bereits wissen – und fürchten:
„Ich backe jetzt die Springerle!“
Wir wissen nicht, woran es liegt – ist doch Anatol ansonsten ein Meisterkoch: die Springerle misslingen Anatol beharrlich. Jahr für Jahr macht er sich aufs Neue ans Springerlebacken – und jahraus jahrein muss er neue Fehlschläge einstecken. Das eine Mal bleiben die Springerle im Model kleben, das andere Mal zerbröckeln sie. In einem Jahr sind die Springerle wie aus Stahlbeton, dann wieder matschiger Krümelkram. Anatol sieht das Springerlefiasko mittlerweile als persönliche Heimsuchung – und Herausforderung – an.
„Was habe ich den Springerle nur getan“ seufzt Anatol jedes Jahr, wenn sein obligatorischer Wutausbruch vorbei ist. Elie und ich passen den Moment, in dem Anatols Wut sich springerlebedingt in der Küche entlädt, ab, um gerade dann „kurz weg“ zu sein. Hernach bauen wir den Butler mit Lob und einer Tasse Tee wieder auf. Dies wird indes jedes Jahr schwieriger.
Dieses Jahr wird – wie üblich – ein neues Rezept ausprobiert. Während Anatol in der Küche werkelt, nimmt Elie mich beiseite.
„Was tun wir, wenn seine Aniskekse wieder mal Mist sind …?“ flüstert er mir ängstlich zu. „Ich kann doch dieses Jahr nicht zu Anna rüber. Du weiss schon – Angelo ist da.“ Ich kratze mich ratlos am Kopf. „Ich weiss es nicht, Elie. Ich befürchte jedoch Schlimmstes. Vorhin habe ich mir das Rezept angesehen. Ich denke, das kann nicht gutgehen.“
Anatol hatte sich eine ganz neue Art, die Springerle zuzubereiten, ausgedacht. Händereibend hatte er in der Küche gestanden und gemeint „Diesmal muss es klappen!“
Veganer Ei-Ersatz, Puderzucker und Hirschhornsalz waren bald mit dem Mehl verknetet. Ich hatte darauf bestanden, dass diesmal ein richtiger Ei-Ersatz angeschafft wird, aber Anatol hatte das abgelehnt. „Das geht auch mit Mondamin!“ hatte er gesagt.
Ich bezweifle dies. Unser Mondamin – ein Geschenk einer sparsamen Freundin, die nichts wegwerfen kann – war bereits im Jahre 2008 abgelaufen.
Auch, wenn Maisstärke vielleicht nicht verdirbt – geschmacklich besser wird sie in der langen Zeit nicht. Anatol hatte jedoch gemeint, „das ginge noch“.
Da wir kein Weizenmehl mehr verwenden dürfen (Anatol hält das für ungesund), hat Anatol Einkorn- und Kamutmehl ins Springerlerezept gegeben. Ob das schmeckt …?
Anatol ist sich seiner Sache – wie jedes Jahr – ganz sicher. Die Springerle müssen heute gelingen. Ein erneutes Scheitern ist einfach ausgeschlossen.
Optisch sind die Springerle nicht zu beanstanden. Die Model haben ganze Arbeit geleistet, diesmal ist auch nichts kleben geblieben.
Der Ofen wird auf 140° Umluft eingestellt, und der Springerleteig 30 Minuten darin gebacken.
Als der Backofen sein fröhliches „Ping“ von sich gibt, welches das Ende der Backzeit ankündigt, schlüpft Elie zur Tür heraus. „Ich bin bei Mirko! Bis nachher!“ ruft er uns noch zu – und ist verschwunden.
Ich habe keinen Vorwand, unter dem ich mich absetzen könnte – daher greife ich zu einer Notlüge. „Anatol, ich fühle mich nicht besonders gut. Ich lege mich kurz hin!“ sage ich schnell und schleiche ins Schlafzimmer, wo ich den Wut-Urschrei des Sauriers erwarte.
Dieser unterbleibt jedoch. Ich lasse mehrere Minuten verstreichen – kein Wutgeheul erklingt.
War es möglich? Sollten die Springerle diesmal gelungen sein?
Vorsichtig verlasse ich das Schlafzimmer und höre fröhliches Pfeifen aus der Küche. Verwundert sieht Anatol mich an. „Geht es Dir schon besser?“ fragt er stirnerunzelnd.
Ich gehe auf die Frage nicht ein, denn mein Blick fällt auf etwas geradezu Unglaubliches: ein Backblech voller offensichtlich perfekt gelungener Springerle.
Diese schneidet Anatol nun mit dem großen Brotmesser aus.
So stolz habe ich den Butler lange nicht gesehen.
Hier sehen wir das Ergebnis seiner Hartnäckigkeit. Ich hätte nie gedacht, dass ich dies erleben würde: Anatol vor einem Teller schöner Springerle. Aber schmecken die Aniskekse auch …?
Im Hinblick auf die seltsamen Ingredienzien – insbesondere das prähistorische Mondamin – bin ich skeptisch.
Anatol belehrt mich, dass Springerle nicht sofort gegessen werden. Sie sollten mehrere Wochen ruhen, bevor sich die die ihnen eigene Konsistenz und ihr Geschmack ausgeformt haben.
Ungeduldig wie das Tier ist, knabbert es hingegen bald an einem Randstück, um sein Werk zu begutachten. „Hm.“ meint es. „Das nächste Mal nehmen wir eher kein Mondamin. Ich denke, ich werde mal No-Egg versuchen. Und vielleicht sollten wir doch auf Weissmehl umsteigen, zumindest auf Dinkelmehl. Aber: sie schmecken!“
Ich probiere ein Stückchen und bin verblüfft. Die Springerle schmecken wirklich gut.
Bald ist ein großer Teil des Gebäcks verschwunden – den Rest heben wir für Elie auf.
Welches Rezept hat Anatol verwendet?
Das ursprüngliche Rezept stammt von chefkoch.de; dieses hat Anatol in ein veganes Rezept umgewandelt und die Mengen halbiert:
– Anstelle eines Eis: 1 gehäufter Esslöffel Mondamin (bitte frisches verwenden und nicht wie Anatol uraltes, abgelaufenes!)
– 125g Puderzucker
– etwas Natron / Bicarbonat (ca. 1/4 TL)
– 1-2 EL Wasser (nach Gefühl)
Dies alles wird lange Zeit schaumig geschlagen. Im Rezept steht 45 Minuten, aber das haben wir nicht geschafft. Zu dem schaumigen Gemisch kommt 1 Messerspitze Hischhornsalz, welches Anatol in ca. 1/2 TL Wodka aufgelöst hat. Danach wird alles weiter gerührt.
Dazu werden dann 125g Mehl (am besten gesiebt) gegeben, und alles gut mit dem Handmixer geknetet.
Der Teig soll dann eine Nacht ruhen, aber das hat Anatol zu lang gedauert. Er hat den Teig direkt ausgerollt, die Springerleformen darauf gedrückt (gut mit Mehl bestäuben!) und dann den Teig in ein gefettetes und mit Anissamen bestreutes Blech gegeben.
Danach kam der Teig bei 140° Umluft für 30 Minuten in den Backofen.
Anatol, Elie und ich wünschen guten Appetit, raten aber zur Verwendung eines richtigen Ei-Ersatzes, z.B. No-Egg.
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