100. Kapitel – Weihnachts-vorbereitungen

Leise fluchend rumort Anatol in der Küche – er durchwühlt den Küchenschrank. Irgendetwas ist nicht nach dem Geschmack des Butlers, und ich gehe davon aus, dass er es mir bald mitteilen wird.

„Wir haben keinerlei Weihnachtsgewürze mehr! NICHTS ist mehr da – dabei solltest Du letzte Woche doch Gewürze bei Ewert bestellen! Wie soll ich nun die Weihnachtsplätzchen backen?“ schimpft der Saurier. „Du hast das vergessen – gibs zu!“

Betreten sehe ich zu Boden. Wie soll ich es erklären? Ich habe die Bestellung bei Ewert nicht vergessen – ich habe sie absichtlich nicht getätigt. Eine Gewürzbestellung bedeutet Plätzchen backen, und Plätzchen backen heisst Plätzchen essen. Dies wiederum ist gleichbedeutend mit dem häßlichen Wort „Kilogramm“.

Ich hatte mich daher heimlich entschlossen, dieses Jahr keine Gewürze zu ordern. Ohne Gewürze keine Plätzchen – und das ist gut so. Im Büro und bei Freunden wird man ja sowieso mit Weihnachtsgebäck versorgt … wozu muss dann die Versuchung auch noch daheim zugegen sein – dort, wo man ihr am hilflosesten ausgeliefert ist?

Der Butler ist außer sich vor Zorn. „Weil DU dich bei den Plätzchen nicht ein klein wenig zurückhalten kannst, sollen wir nun alle keine bekommen? Das schlägt dem Fass den Boden aus!“ zetert das Untier.

Unerwarteterweise bekomme ich Unterstützung von Elie. „Anatol, wir essen doch sowieso schon den ganzen Tag über Weihnachtssüßigkeiten. Anna backt die leckeren Bredele, und von Angelo kriegen wir diesen tollen Pannetone, den seine Eltern immer in Mailand bestellen. Meine Hose zwickt schon, und ich würde ehrlich gesagt gern wieder etwas abnehmen …“

Beleidigt knallt Anatol die Tür des Küchenschranks zu. „Dann gibt es eben dieses Jahr keine selbstgebackenen Plätzchen! Wenn die Euch sowieso nur fett machen!“ Der letzte Satz geht in einem Schluchzen unter – Anatol beginnt zu weinen. Offenbar hat ihn unsere Plätzchen-Diät tiefer getroffen, als ich das für möglich gehalten hätte.

Elie ist bestürzt. „Anatol, Deine Plätzchen sind einsame Spitzenklasse! Sie sind so gut, dass wir nicht mehr aufhören können, zu essen, wenn sie erst einmal dastehen … Wenn sie uns nicht so gut schmecken würden, müssten wir uns wohl nicht fürchten, davon zuzunehmen…“ beeilt er sich, zu erklären.

Ich pflichte Elie bei. „Die Plätzchen waren letztes Jahr unglaublich lecker. Eigentlich ist es eine Schande, darauf zu verzichten … am liebsten mag ich die Anisplätzchen – die Springerle!“

Anatol weint laut. „Die Springerle gelingen mir doch nie. Also, sie bleiben immer in der Form kleben, und gehen dann kaputt. Letztes Jahr waren sie schon wieder nur Krümelkram. Ich hatte mich so gefreut, sie dieses Jahr vielleicht mal ordentlich hinzubekommen!“

Meine Zwangsdiät hat für eine Familientragödie gesorgt. Ich möchte mich am liebsten ohrfeigen. Für eine Bestellung bei Ewert ist es nun zu spät. Oder doch nicht? Heimlich nehme ich mir vor, nachher bei Ewert anzurufen und um eine Expressbestellung zu bitten – soweit das möglich ist.

Den Butler muss ich nun irgendwie besänftigen. „Anatol, möchtest Du nachher mit nach Kehl kommen? Ich muss doch die Geschenke zur Post bringen. Wir könnten sogar bei Dreher Mittag essen – Dreher magst Du doch so gern!“

Anatol schnieft. Ich merke, dass er auf den unerwarteten Ausflug Lust hat, es aber nicht so schnell zugeben mag. Ich lasse dem Butler daher etwas Zeit. „Ich fahre um 12 Uhr los. Wenn Du magst, komm einfach mit.“

Elie ist heute mittag bei Freunden eingeladen – er wird die nächsten beiden Stunden damit verbringen, sein „Outfit“ zu perfektionieren: Anna ist ebenfalls eingeladen.

Um kurz vor 12 hüpft Anatol wortlos in meine Tasche. Er möchte also mitkommen – ein gutes Zeichen. Die Laune scheint sich deutlich aufgehellt zu haben: der Butler kann sich sogar schon wieder über Elie lustigmachen. „Vielleicht solltest Du noch etwas Eau de Cologne auflegen, Elie. Deins bemerkt man überhaupt nicht!“

Anatol spielt auf die dichte Parfumwolke an, in die Elie sich gehüllt hat – offenbar, um Anna zu beeindrucken. Ein Hausschuh verfehlt meinen Kopf nur knapp (Anatol – das Ziel des Geschosses – sitzt in meiner Handtasche, die ich bereits geschultert hatte) … schnell schlage die Haustür hinter uns zu. Unser Ausflug kann beginnen.

Nach einem kurzen Zwischenstopp bei DM kehren wir wie geplant bei Dreher ein. Und zwar gehen wir nicht in die Filiale im neuen Einkaufszentrum „City Center“ – nein, wir begeben uns in die schöne, altmodische Konditorei mitten in der Stadt. Dort lieben wir es, an der Theke in der Nähe der Backstube zu sitzen, Tee zu trinken, und den großen Salon zu beobachten, in dem unablässig Köstlichkeiten von zahllosen Serviererinnen kredenzt werden.

IMG_3292Heute können wir jedoch keine Zeit damit vergeuden, den Teesalon zu begaffen: heisst es doch, die gesamte Weihnachtspost (oder jedenfalls einen großen Teil davon) zu verfassen, in Kuverts zu stecken und zu adressieren – um sie dann zur Post zu bringen.

Da es mir zu Hause nicht gelingt, Weihnachtskarten zu schreiben, muss dies bei Dreher stattfinden.

Eine Karte nach der anderen fülle ich, während Anatol mir elegant formulierte Sätze diktiert. So fließt uns die Weihnachtspost ganz leicht aus der Feder. IMG_3295

Nachdem alle Weihnachtskarten geschrieben sind, packe ich das große Klebeband aus. Die Päckchen müssen nun befüllt werden – zu jeder Weihnachtskarte das richtige Geschenk. Anatol überwacht diesen Vorgang mit Argusaugen, denn was wäre peinlicher, als das falsche Geschenk zur falschen Weihnachtskarte zu stecken – und an den falschen Empfänger zu versenden.

Nachdem alles im hoffentlich korrekten Päckchen sicher verpackt ist, kommen wir zum Höhepunkt des heutigen Tages: der Bestellung des Mittagessens.

Anatol sucht einen überbackenen Toast aus, der mit frischem Salat serviert wird und den ich eigentlich gar nicht essen dürfte. Da meine Diätvorstellungen aber heute bereits einmal zu Verwerfungen geführt haben, sage ich lieber nichts.

Das Festmahl wird gebracht. Anatol scheint mir die Plätzchenaffäre glücklicherweise nicht mehr übel zu nehmen – IMG_3294jedenfalls beteiligt er sich gebührend an den Toasts, die in Rekordzeit verschwinden.

Unsere Parkzeit ist abgelaufen. Eilig verlassen wir den gastlichen Ort, um noch vor dem Auge des Gesetzes am Auto einzutreffen, was auch gelingt.

Die Paketaufgabe bei der Post verläuft reibungslos, nachdem wir die neue Post in der Blumenstraße gefunden haben. Das alte, große Postgebäude ist vor kurzem abgerissen worden. Die neue Filiale ist allerdings deutlich angenehmer als die frühere Hauptpost.

Wir treffen einen freundlichen Kollegen aus dem Büro, der ebenfalls heute seine Weihnachtspäckchen verschickt. Nach einem kurzen Plausch treten wir die Heimreise an.

Müde, aber glücklich betreten wir die Wohnung. Anatol nuschelt etwas von „Mittagsschlaf“ und will in seinem Nestchen verschwinden, da vernehmen wir ein leises Wimmern.

Elie ist schon wieder zu Hause. Wollte er nicht den Nachmittag mit Anna und den Schulkameraden verbringen?

„Was ist denn los, Elie …“ frage ich bang.

„Sie will nichts von mir“ schluchzt Elie. „Sie hat es mir gesagt. Sie mag mich einfach so – „als Freund“. In Wirklichkeit ist sie immer noch in Angelo verliebt!“ Elies Stimme versagt.

Offenbar müssen sich Anna und Elie ausgesprochen haben – und dies war nicht im Sinne von Elie verlaufen. Die Geschichte zwischen den beiden war nie ganz klar gewesen … schon im letzten Sommer hatte es sich indessen abgezeichnet, dass Anna sich für den „Bad Boy“ – den schillernden, undurchschaubaren Angelo – entscheiden würde. Elie war immer schon ihr bester Freund gewesen. Dass dies viel mehr bedeutet und dass eine solche Freundschaft Jahrzehnte, ja ein ganzes Leben überdauert, kann Elie heute jedoch nicht trösten.

„Sie wird Weihnachten bei Angelo feiern!“ weint Elie. „Dabei habe ich doch so ein schönes Geschenk für sie, das ich ihr selbst überreichen wollte – und da soll Angelo NICHT dabei sein!“

Einen Trost habe ich für Elie nicht. Nur eins kann ich ihm ans Herz legen: Zeit vergehen lassen … und ein neues Kapitel seines Lebens schreiben.

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