10. Mai, 23 Uhr 15. Mein Geburtstag ist fast vorbei – und eine lange, aufreibende Nacht liegt vor uns.
Elie ist, nachdem er mit seinem Freund Mirko „Eyes wide shut“ gesehen hat – ein Film, den er laut FSK frühestens in 10 Jahren zu Gesicht bekommen dürfte – davongelaufen, um im Strasbourger Nachtleben seinen Liebeskummer zu betäuben.
Anatol und ich sind in höchster Sorge. Wie sollen wir Elie wiederfinden? Er kann im Grunde überall sein – wir müssen die einschlägigen Lokale eines nach dem anderen abklappern.
Die Polizei will ich nicht einschalten – mit dem Auge des Gesetzes haben wir, was Dinosaurierfragen angeht, keine allzuguten Erfahrungen gemacht. Wir müssen mit Bordmitteln arbeiten.
Welches Etablissement suchen wir zuerst auf? Anatol schlägt das Café des Anges vor. Dort werde Salsa getanzt – vielleicht habe Elie den Tanz lernen wollen, um Anna später damit zu beeindrucken? Wer seinerseits perfekt Salsa tanzt, brauchen wir nicht näher zu erwähnen: Angelo – Elies Erzrivale.
Innerhalb von 5 Minuten sind wir beim Café des Anges. Der Türsteher mustert mich abschätzig. Sieht man mir an, dass ich überhaupt nicht tanzen kann?
Nein, er habe keinen kleinen Plüschdinosaurier hereingelassen. Ja, da sei er sich ganz sicher. Auf weitere Nachfrage beginnt der Videur, wie man hier sagt, an seinem Handy herumzufingern. Ich halte dies für kein gutes Zeichen und ziehe es vor, mich zu verabschieden – bevor der gute Mann Verstärkung holt, um die sichtlich etwas derangierte, nicht mehr ganz so junge Dame aus dem Eingangsbereich des exquisiten Clubs zu entfernen.
Auf der Straße frage ich Anatol, ob er einen anderen Club kenne, der es Elie vielleicht angetan haben könne? Finde gar heute Nacht möglicherweise ein Kostümball in Strasbourg statt …? Das wäre sicher eine Adresse, die man aufsuchen müsse.
Anatol ist nichts dergleichen bekannt. „Lass uns noch mal im Salamandre gucken. Das ist ein Club, in den Studenten gehen. Angelo kann durchaus mal dagewesen sein – vielleicht hat er das in der Schule erzählt?“
Mir ist jeder Vorschlag recht. Auch vor diesem Etablissement steht ein Videur und kontrolliert, ob die Kleidervorschriften eingehalten werden. Allein dies deutet bereits darauf hin, dass Elie – soweit er sich nicht ganz neu eingekleidet hat! – hier im Grunde keinen Einlass gefunden haben kann. Dennoch befrage ich den Türsteher.
„So so. Sie suchen also einen Stoffdinosaurier, der Ihnen ausgebüxt ist. Warum lassen Sie ihn sich nicht mal ordentlich amüsieren?“ Der Muskelprotz bricht in ein hämisches, heiseres Lachen aus. Frostig stelle ich klar, dass mein Stoffdinosaurier heute bereits genügend Gelegenheit hatte, sich zu „amüsieren“ – und dass ich dem gnädigen Herrn außerordentlich verbunden wäre, wenn er mir die gewünschte Auskunft nun bitte erteilen würde. Der Videur durchbohrt mich mit einem stahlharten Blick, der mir Angst machen soll. Nein, da sei kein Stoffdinosaurier im Club. So etwas hätte er im Übrigen gar nicht erst hereingelassen. Bevor ich mich mit dem Gorilla darüber anlegen kann, was das „so etwas“ zu bedeuten habe, zerrt Anatol mich weg. Er flüstert wütend: „Merkst Du nicht, dass der Kerl es auf Dich abgesehen hat? Mit derlei Typen ist nicht zu spaßen!“
Verzweifelt konsultiere ich mein iPhone nach weiteren Bars und Nachtclubs. Wir können unmöglich all diese Örtlichkeiten nach Elie durchkämmen! Da hat Anatol eine Idee: Fridolin arbeite nachts in einem Club als Kellner. Den sollten wir sofort aufsuchen und fragen, ob er über seine Verbindungen Elie lokalisieren könne.
Kurze Zeit später betreten wir das berühmte „Le Trou „. Interessanterweise scheint Anatol hier nicht unbekannt zu sein – ich nehme mir vor, ihn danach später genauer zu befragen – zumindest werden wir sofort eingelassen und sehr zuvorkommend behandelt. Augenblicklich sitzen wir an einem Tisch – zwei Cocktails, deren Genuß ich Anatol sofort verbiete, vor uns. Der Servierer teilt uns mit, Fridolin sei gerade in der Pause, er werde ihn aber rufen.
Die Cocktails duften verführerisch, aber gefährlich hochprozentig. Ich lasse sie zurückgehen und bestelle Anatol einen Apfelsaft und mir ein alkoholfreies Bier. Wir müssen einen klaren Kopf bewahren.
Da setzt sich Fridolin auch schon an unseren Tisch. „Was für ein seltenes Vergnügen, Euch hier zu sehen!“ Fridolin freut sich sichtlich, zwei bekannte Gesichter begrüßen zu können. „Ihr könnt die Cocktails auch ohne Alkohol bekommen – ich bestelle sie Euch sofort. Ihr seid natürlich eingeladen – noch dazu an Deinem Geburtstag!“ Fridolin macht dem Kellner ein Zeichen.
„Fridolin, wir sind nicht zum Feiern da. Elie ist getürmt, und wir vermuten, dass er sich in einem Nachtclub herumtreibt.“ Anatol sieht Fridolin besorgt an.
Fridolin versteht sofort. „Es gibt da eine oder zwei Personen, die ich kontaktieren könnte. Allerdings nicht offiziell. Namen kann ich keine nennen. Vielleicht finden wir so etwas heraus … ja könnte klappen. Komme gleich wieder. Ihr trinkt jetzt Eure Cocktails – so etwas Verkrampftes wie Euch beide habe ich hier lange nicht bewirtet. Nein, keine Angst: kein Alkohol, keine Drogen.“
Er verschwindet hinter dem Tresen und flüstert dem zweiten Kellner etwas zu. Dieser nimmt den Hörer eines altertümlichen, fest an der Wand installierten Telephons mit Wählscheibe ab und wählt eine Nummer. Dann spricht er eindringlich in den Hörer. Was er sagt, hören wir nicht. Anatol leert seinen alkoholfreien Cocktail in einem Zug – ich lasse mir etwas mehr Zeit. Unter anderen Umständen hätte ich den Cocktail genossen. Heute Nacht überwiegt die Angst um Elie.
Leutselig kehrt Fridolin an unseren Tisch zurück. Er reibt sich die Hände: „Elie ist tatsächlich gesehen worden. Fragt mich bitte nicht nach meinen Quellen – die kann ich Euch nicht offenlegen. Elie muss versucht haben, zu verschiedenen Clubs Zutritt zu bekommen – im Aviateurs haben sie ihn nicht hereingelassen, im Seven ebenfalls nicht. Einen weiteren Kontakt ruft mein Kollege gerade an – allerdings hoffe ich, dass Elie dort nicht hingegangen ist.“
Der Schreck fährt mir in die Glieder. „Was wäre denn dabei so schlimm, an diesem „Lokal“…?“ frage ich besorgt.
„Es handelt sich um Die Schwarze Katze„, sagt Fridolin. „Das ist ein Club, in dem junge Leute wie Elie überhaupt nichts zu suchen haben – wenn Ihr versteht, was ich meine.“
Ich verstehe – und hoffe inständig, dass wir Elie in einem harmlosen Café bei einem Kakao oder meinetwegen auch einem alkoholfreien Cocktail auffinden mögen …
Fridolin wird nun ans Telephon gerufen. Er nimmt den Hörer, erstarrt kurz – und gestikuliert dann wild: offensichtlich wurde Elie gesichtet! Anatol und ich stürzen zu Fridolin ans Telephon.
Der Geschäftsführer der Schwarzen Katze ist am Apparat: vor etwa 10 Minuten sei ein mit einem dunklen Kapuzenschal bekleideter beigefarbener Plüschdinosaurier am Eingang erschienen, habe ein dem Türsteher gänzlich unbekanntes „Passwort“ geflüstert und um Einlass gebeten. Da dem Türsteher die Angelegenheit nicht geheuer gewesen sei, habe er das Stofftier nicht hereinlassen wollen. Da dieses aber auf Zutritt bestanden habe, habe sich der Aufpasser den Dinosaurier kurzerhand geschnappt und ihn in den Gewahrsam der Barkeeperin gegeben – um genauer zu sein, in deren Kanarienvogelkäfig gesperrt. Darin sitze er auch jetzt noch und könne abgeholt werden.
Anatol und ich umarmen Fridolin – unser Dank lässt sich nicht in Worte fassen. Im Handumdrehen sitze ich auf dem Fahrrad, Anatol in meiner Tasche, und fliege förmlich in Richtung „Schwarze Katze „.
Der dortige Türsteher ist freundlicher als seine Kollegen, die wir heute im Laufe der Nacht kennenlernen durften. Er führt uns an die Bar des in der Tat für Jugendliche nicht geeigneten Etablissements, wo ein altmodischer, gusseiserner Vogelkäfig von der Decke herabhängt – einen Stoffkanarienvogel und Elie mitsamt meinem Kapuzenschal beherbergend. Anatol wollte das unglaubliche Bild, das sich uns hier bot, photographieren – aber Photos sind in der Schwarzen Katze streng verboten.
Die Barkeeperin bietet uns sehr liebenswürdig einen Tisch an – auch Getränke stehen schon bereit. Ich will jedoch diesen – obwohl tatsächlich sehr gastfreundlichen – Ort schleunigst verlassen.
Es ist mittlerweile 3 Uhr morgens. Elie hat sich in meinen Kapuzenschal gekuschelt und war offenbar direkt nach seiner Arretierung in der Volière eingeschlafen. Von dem fröhlichen Treiben in der Schwarzen Katze hat er sichtlich nichts mitbekommen. Ich werde ihm morgen gehörig den Kopf waschen.
Auch ein ernstes Gespräch mit Mirko nehme ich mir vor.
Endlich sind wir zu Hause – Anatol schlummert nun auch in meiner Tasche.
Ich setze die Butler in ihr Nest und decke sie zu. Dann lege ich mich auf mein Bett und schlafe augenblicklich ein.