37. Kapitel – Gender Studies II

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Verschlafen sitzen Anatol, Elie und ich am Frühstückstisch. Es ist Sonntag, der 30. März 2014 und heute ist die Uhr auf die Sommerzeit umgestellt worden. Das bedeutet, dass wir eine Stunde weniger geschlafen haben, um uns an das frühere Aufstehen in den nächsten Tagen zu gewöhnen.

Ich mag die Sommerzeit. Nur das Umstellen der Uhr finde ich lästig, da es meinen Schlafrhythmus durcheinanderbringt. Könnte man nicht bei einer einzigen Zeit bleiben?

Das Telephon klingelt. Es ist 8 Uhr 30 – wer ruft denn so früh schon an? Es können eigentlich nur schlechte Nachrichten sein.

Bedrückt hebe ich ab.

Am Telephon ist der Urzeitsaurier Herr Hase: Elianes Vater. Er heisst wirklich „Herr Hase“ – so etwas kann man nicht erfinden: ein Saurier mit Namen „Hase“. Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Herr Hase hat sich leider seit gestern Nachmittag nicht beruhigt. Im Gegenteil: er scheint sich in seine Wut noch weiter hineingesteigert zu haben, denn mit zorniger, heiserer Stimme fragt er, ob mir „ein gewisser Anatol gehöre“. Ich antworte, dass Anatol in erster Linie sich selbst gehöre, und dass ich die beiden Saurier nicht als mein Eigentum ansehe. Dass Anatol aber in der Tat hier bei mir wohne. Zur Zeit frühstücke er gerade – ob denn Herr Hase nicht auch lieber gemütlich mit seiner Familie einen Morgenkaffee und ein Croissant zu sich nehmen wolle, und sich erst dann den ernsteren Dingen des Lebens zuwenden wolle…?

Herr Hase will das ganz sicher nicht. Er ist außer sich vor Zorn über meinen aufsässigen Saurier, der ihm gestern in renitenter, ja geradezu impertinenter Art und Weise Paroli geboten habe, was er als empörenden Affront empfinde und worüber er sich nun mit Nachdruck bei mir beschweren wolle.

Ich gebe Herrn Hase zu verstehen, dass Anatol und Elie mir den gestrigen Vorfall geschildert hätten. Ob Herr Hase nicht das Gefühl habe, hier doch über das Ziel hinausgeschossen zu sein, und eine Geburtstagsfeier von minderjährigen Sauriern etwas überzubewerten?

Er bewerte nichts über, ereifert sich Herr Hase. Er erwarte von meinem Stegosaurus eine Entschuldigung, sonst werde er geeignete Schritte ergreifen. Dann hängt er ein, noch bevor ich antworten kann.

Ich seufze. „Anatol, ich glaube, das ist kein Fan. Herr Hase war am Telephon. Und er will, dass Du Dich für Dein Verhalten von gestern entschuldigst.“

„Den Teufel werde ich tun.“ knurrt Anatol. „Ich stehe zu jedem einzelnen Wort, das ich gestern gesagt habe.“

Elie jubelt. „Anatol ist ein Held!“

Ich bitte um Mäßigung.

„Kinder, ich bin auf Eurer und Annas Seite. Aber wir haben nun einen ausgewachsenen Nachbarschaftsstreit, und das ist kein Spaß. Wir haben hier im Viertel immer friedlich zusammengelebt, und nun wird es Ärger geben. Davon können wir ausgehen. Wir müssen eine Lösung finden, sonst werden wir und Annas Familie hier nicht mehr froh werden, fürchte ich. Vielleicht wäre eine rein formale Entschuldigung – möglicherweise per Brief – doch das Beste?“ Manchmal nenne ich die Saurier und die Katzen „Kinder“ – obwohl sie gar keine Kinder mehr sind, bis auf Elie. Anatol ärgert das, aber heute bemerkt er es nicht einmal.

Entgeistert sieht er mich an. „Du willst doch nicht etwa, dass dieser Urzeitsaurier Recht bekommt?!“

Ich gebe zu bedenken, dass es nicht um das „Recht“ ginge – sondern um ein zukünftiges friedliches Zusammenleben der Nachbarn. Herr Hase werde möglicherweise nach einem freundlichen Brief wieder Ruhe geben?

Anatol gibt ein verächtliches Schnauben von sich. „Die Staatsräson. Ja ja. Dafür tut man ja so einiges. Aber nicht ich. Wenn ich etwas gelernt habe in den letzten Jahrmillionen, dann das: man sollte zu seinen Auffassungen stehen. Auch, wenn es Gegenwind gibt. Und damit ist das Thema für mich beendet. Es wird keine Entschuldigung geben.“

Ich bin beeindruckt. Mein Butler hat wirklich Stehvermögen. Elie jubiliert: „Der Macho-Saurier soll sich in seine Steinzeit verziehen!“

Derlei Äußerungen unterbinde ich, denn man soll über Andersdenkende nicht so sprechen – auch wenn man mit ihren Thesen überhaupt nicht einverstanden ist. Wir haben das nicht nötig, sage ich zu Elie.

Anatol hat den ganzen Vormittag lang recherchiert. Dies hat er gefunden:

  • Im Februar 2014 versammelte die „Manif pour tous“ nach eigenen Angaben allein in Paris mehr als eine halbe Million Demonstranten, um gegen das sogenannte „Mariage pour tous„, die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern zu protestieren. Die Demonstrationen wendeten sich dabei nicht nur gegen die Homo-Ehe, sondern auch gegen die sogenannte „Gender-Theorie“, bzw. gegen das, was die Demonstranten darunter verstanden. Die Protestaktionen griffen gezielt eine Kindererziehung an, die Kindern keine vorgegebenen Geschlechterrollen zuweist. Mädchen hätten sich als Prinzessinnen zu verkleiden, Jungen als Piraten. Nur so sei gewährleistet, dass sie als Erwachsene auch die ihnen vorbestimmten Rollen als Mann und Frau übernähmen.
  • Der Film „Tomboy„, in dem ein kleines Mädchen sich als Junge verkleidet, Fußball spielt und sich in ein anderes kleines Mädchen verliebt, wurde im Februar 2014 auf ARTE ausgestrahlt. Die extremistisch-katholische Organisation „Civitas“ hatte im Vorfeld versucht, Druck auf den Sender auszuüben, um die Absetzung des ihrer Ansicht nach schwer jugendgefährdenden Films zu erreichen – ohne Erfolg. Der Film hat mehrere internationale Preise gewonnen und ist von der FSK ab 6 freigegeben – auch für Feiertage.
  • Im März 2014 musste Sunnie, ein kleines Mädchen aus Timberlake in den USA seine Schule verlassen, da es mit seinen kurzen Haaren zu sehr wie ein Junge aussah, so die Schulleitung. Dies entspräche nicht den christlichen Werten der Schule. Im Blog der amerikanischen Pastorin Emily C. Heath schreibt diese einen offenen Unterstützungsbrief an Sunnie, in dem sie das Verhalten der Schule verurteilt und Sunnie darin bestärkt, ihre Haare weiter so zu tragen, wie es ihr am besten gefalle. Neben vielen positiv gestimmten Kommentaren erhält die Pastorin jedoch aus offenbar religiös-extremistischen Kreisen aggressive Zuschriften.
  • In Saudi-Arabien dürfen Frauen nicht einmal Fahrradfahren. Sie dürfen auch sonst fast nichts. Eine sehr mutige junge Frau aus Saudi-Arabien, Haifa al-Mansur, hat nun einen Film gedreht (obwohl Frauen auch das verboten ist), in dem ein kleines Mädchen in Arabien heimlich Fahrrad fahren lernt.  Der Film heisst „Das Mädchen Wadjda“ und Anatol kann eins nur raten: unbedingt angucken, ebenso wie Tomboy!
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  • Spielsachen werden – marketinggerecht – in immer „sexualisierterer“ Form angeboten. Für Mädchen gibt es pinke, bonbonfarbene Puppen – Jungen sollen mit pseudo-männlichem Spielzeug aufwachsen. Es gibt plötzlich Lego für Mädchen und Lego für Jungen. Warum ist das so? Es geht nicht nur um das Hineinpressen in bestimmte Rollen – es geht um den Kommerz. Das Geldverdienen damit, dass kleine Kinder sich nach vorgegebenen Geschlechterrollen entwickeln sollen. Anatol hat dazu diesen Blogartikel von Talinee gefunden. Wir empfehlen ihn ganz ausdrücklich, ebenso wie diesen Beitrag von The Belle Jar über Men´s rights movements.

Anatol warnt davor, anzunehmen, dass das Prinzip „Gleichberechtigung“ eine unverrückbare, feststehende Errungenschaft sei. Gegenläufige Tendenzen und Ansichten wie die des Urzeitsauriers Herrn Hase existierten zu Hauf. Er rät zu größter Vorsicht.

Von Herrn Hase werden erstaunlicherweise aber keine weiteren Beschwerden kommen.

Im Herbst werden Annas Eltern uns mitteilen, dass Frau Hase sich von Herrn Hase getrennt hat und ohne ihn mit Eliane hier im Viertel lebt.

Der Presse werden wir Jahre später entnehmen, dass Herr Hase einer rechtsextremis-tischen Partei beigetreten ist und für diese kandidiert.

Letzteres wird uns weniger verwundern.

 

 

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Comments

  1. says

    Begeistert lese ich, mit welchen Themen Ihr euch befasst und vor allem auch, in welcher Tonart gesprochen wird. Wenn kleine Dinos das schon lernen und so mutig dafür einstehen, dann kann noch ganz viel daraus werden.
    Danke.

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