Ein langer, anstrengender Arbeitstag ist zuende. Müde steige ich die Treppe hoch und freue mich, gleich von meinen Butlern in Empfang genommen zu werden. Hoffentlich wartet ein schönes warmes Essen auf mich – das wäre jetzt einfach das Beste, was ich mir vorstellen kann.
Ich schließe die Tür auf. Noah, Tonio und Riri sitzen mit großen Augen da, und signalisieren mir, dass sie noch nicht gefüttert worden sind. Das ist seltsam. Normalerweise ist das nämlich die Aufgabe der Butler, wenn ich so spät nach Hause komme.
Ein Schreck durchfährt mich. Eben gucke ich ins Dino-Nestchen, wo die Schlawiner normalerweise um diese Uhrzeit sitzen und schmökern – das Essen bereits fertig auf dem Feuer, während sie auf mich warten.
Das Nestchen ist leer – und die Wohnung dunkel.
Im Wohnzimmer ist niemand, ebensowenig wie in der Küche. Es steht auch kein Essen auf dem Herd. Es ist überhaupt nichts für das Abendessen vorbereitet!
Normalerweise wäre ich jetzt verärgert. Die Butler haben schließlich ihre Aufgaben, die sie wahrnehmen sollen. Und dazu gehört eben, dass das Essen pünktlich auf dem Tisch zu stehen hat.
Heute bin ich aber nicht ärgerlich, sondern außerordentlich besorgt. Wenn meine Saurier abends ausgehen wollen, sagen sie mir das vorher. Wenn sie ausnahmsweise kein Essen kochen wollen, reservieren sie mir einen Tisch im Restaurant und geben mir bescheid.
Aber heute haben sie nichts dergleichen angekündigt und hätten also zu Hause sein müssen! Was ist passiert?
Ich betrete das Wohnzimmer. Etwas kommt mir seltsam vor – ja richtig: da steht das Laptop. Ich räume es immer weg, bevor ich das Haus verlasse – zu groß ist die Gefahr, dass die Katzen damit Schindluder treiben. Warum steht es dann auf dem Wohnzimmertisch? Ich nähere mich dem Tisch – und sehe mit Entsetzen, dass neben dem Laptop eine DVD liegt:
Es ist die DVD von „Carrie“. Brian de Palma, 1976. Ein Horrorschocker – und einer meiner Lieblingsfilme.
Mit Rücksicht auf die Butler war er hinter Büchern, CDs und unter diversen anderen DVDs versteckt gewesen. Die beiden Gangster müssen das Bücherregal durchwühlt haben und dort die DVD mit dem ausdrucksstarken Cover entdeckt haben. Der groß aufgedruckte Schriftzug „Freigegeben ab 16 Jahren gemäß §7 JÖSchG FSK“ muss sein Übriges getan haben.
Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Übeltäter aufspüre.
Da – ein Wimmern lässt mich aufhorchen. Es scheint aus dem Schlafzimmer zu kommen. Ohne mich zu sehr zu beeilen, begebe ich mich nach nebenan. Das Wimmern wird stärker – es dringt unter der Bettdecke hervor:
Die mutigen Horrorfilmfans haben sich nach der Sichtung von „Carrie“ schnurstracks ins Bett zu den Katzen geflüchtet, und weigern sich nun, diesen sicheren Ort zu verlassen.
Als ich näher komme, verkriechen sie sich sogar noch tiefer unter die Decke:
Es dauert etwas, bis ich ihnen klarmachen kann, dass ich nicht Sissy Spacek bin, die gleich nach ihnen die Hand ausstrecken wird – und schließlich gelingt es: die Butler krabbeln eilig unter der Decke hervor, um sich ganz eng an mich anzukuscheln – nein an mir festzukrallen.
Ich verstehe, dass es nun so bald kein Essen geben wird – jedenfalls nicht, wenn ich es nicht selber koche.
Resigniert gehe ich mit den zitternden Sauriern auf dem Arm in die Küche.
„Wisst Ihr, dass ich überhaupt kein Mitleid mit Euch habe?“ sage ich streng. „Wie konntet Ihr einfach ans Bücherregal gehen, die CDs und Bücher wegräumen, und hinter all dem die Carrie-DVD herauskramen? Solche Filme verstecke ich nicht ohne Grund!“
„Wir konnten doch nicht wissen, dass Du sowas Grauenvolles in Deiner DVD-Sammlung hast!“ heult Elie.
Anatol fügt sehr kleinlaut hinzu „Das ist ein Film von 1976. Ich dachte, der muss harmlos sein… Angelo hat behauptet, er hat ihn schon 3 mal gesehen, und der sei total lahm!“
Ich merke an, dass Angelo hier wohl sicher etwas durcheinander gebracht haben muss – denn „lahm“ sei der Film nun ganz gewiss nicht. Vermutlich habe er den Film von Brian de Palma mit der Comedy-Serie um „Carrie Bradshaw“ verwechselt.
Anatol und Elie nicken – nicht ohne sich genau umgesehen zu haben, ob irgendwo verdächtige Gegenstände im Raum schweben.
„Nein, er war überhaupt nicht lahm“, weint Elie. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so Angst gehabt!“
Anatol, sonst eher hartgesotten, fügt hinzu: „Ich auch nicht. Und das will was heissen. Aber Elie – Du musst zugeben, dass der Film ansonsten saugut ist. Obwohl der von 1976 ist!“
Elie will von „saugut“ nichts wissen. Er ist so aufgewühlt, dass er immer noch nicht aufhören kann, zu weinen. Das ist allerdings nur eine nervöse Reaktion. Die muss nun „raus“.
„Ich will nie wieder an diesen Film denken!“ schluchzt er. „Das ist alles so furchtbar. Wieso wurde die arme Carrie so böse behandelt? Wieso hatte sie so eine schreckliche Mutter? Ich habe immer noch solche Angst, wenn ich an die gruselige Kammer denke, in der sie eingesperrt war…“
„Elie, es ist gut, dass Du über den Film sprechen kannst. Das wird Dir helfen, die Angst zu überwinden. Als erstes musst Du Dir klarmachen, dass es nur ein Film ist. Eine ausgedachte Geschichte – damit Leute sich gruseln. Es ist nie in Wirklichkeit passiert. So etwas gibt es nämlich nicht.“
Elie guckt ungläublig. „Gibt es nicht …? Echt…?“ Anatol fasst es nicht. „Elie, Du weisst doch, dass solche Sachen nicht in Wirklichkeit existieren! Oder glaubst Du etwa noch an Gespenster?“
„Was weiss ich, ob es Gespenster gibt! Ich habe jedenfalls Angst vor ihnen! Und solange ich Angst davor habe, passe ich auf, dass ich keinem begegne!“ Elie steckt den Kopf in meine Armbeuge, um auf keinen Fall von eventuell anwesenden Geistern gesehen zu werden. Er denkt nämlich, dass ein Gespenst, das er nicht sehen kann, ihn auch nicht bemerken wird. Eine vernünftige, unkomplizierte Einstellung.
Ich merke, dass es meinem jüngeren Butler immer noch schwerfällt, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten. Er hat wirklich Angst, Carrie – oder wohl eher ihre böse Mutter – könne uns heimsuchen. Anatol hat sich einfach nur gegruselt, aber er kann den Film als nicht-real einstufen.
Es hat einen guten Grund, weshalb die FSK manche Filme nicht für 6-jährige freigibt.
Anatol bekommt daher eine ordentliche Strafarbeit aufgebrummt – er hätte den Film vielleicht heimlich allein gucken dürfen, aber niemals dem kleinen Elie zeigen dürfen. Allein hätte er sich allerdings gar nicht getraut, den Horrorschocker anzusehen.
„Anatol, ich will das Bücherregal mit den versteckten DVDs und den CDs morgen perfekt aufgeräumt, abgestaubt und ausgewischt vorfinden. Den Laptop und den DVD-Player schließe ich weg – es werden morgen keine Filme geguckt!“
Betreten willigt Anatol ein.
„Und Du versprichst mir, dass Du niemals wieder eine DVD mit Elie anguckst, ohne vorher mit mir darüber gesprochen zu haben!“
Auch hier nickt Anatol. Er ist bemerkenswert kleinlaut heute abend.
Später, als die Butler sicher im Dino-Nestchen untergebracht sind, in dem sie vor jeglichen gespensterhaften Übergriffen geschützt sind (das Dino-Nest hat mit dem magischen Kapuzenschal die Wirkung einer Tarnkappe, so dass Geister es gar nicht sehen können), sagt Elie, er finde es ungerecht, dass Carrie angeblich die Böse in dem Film sei. Die anderen Kinder und ihre Mutter seien die eigentlichen Bösen! Fast fängt er wieder an zu weinen.
„Elie, Du hast Recht“, sage ich. „Carrie ist „anders“. Sie wird gehänselt, weil sie nicht so ist wie die anderen. Dabei wäre sie so gern wie ihre Klassenkameraden. Aber es ist nicht möglich.“
„Carrie“ ist nur vordergründig ein Horrorfilm über eine Jugendliche mit telekinetischen Fähigkeiten. Es ist ein Film über das Anderssein. Über Menschen, die nicht der Norm entsprechen und die deshalb ausgestoßen, ja verteufelt werden.
Wir stoßen diese Menschen aber nicht aus, weil sie nur anders sind als wir. Wir stoßen sie aus, weil wir Angst vor ihnen haben – Angst vor dem Anderen, Fremden. Wir wollen in der Schule nicht neben ihnen sitzen und auf dem Schulhof nicht mit ihnen zusammen gesehen werden. Der „Andere“ könnte auf uns abfärben, uns in seinen Bann ziehen. Und am Ende könnten wir genauso ausgeschlossen werden wie er.
Ob es irgendwann eine Welt gibt, in der Anderssein nicht mehr mit „aussätzig sein“ gleichbedeutend ist?
magguieme says
Ich habe mich bislang nicht getraut, diesen Film zu sehen und das wird sich vermutlich nie ändern. Manchmal erspart es einiges, sich vorerst bei anderen zu informieren. FSK sagt ja nur eine Kleinigkeit über einen Film aus.
Gut, dass die beiden das jetzt wissen.
Und ich freue mich, jugendfreie und reflexive Worte über Carrie hier gefunden zu haben.
majorneryz says
Carrie ist wirklich ein richtig guter Film – nicht nur einfach ein Horrorfilm … ich kann Dir nur raten, ihn doch mal zu sehen (wenn Du in guter Gesellschaft bist z.B.). Ich habe Carrie nun schon viele Male gesehen, und jedesmal kommen mir noch andere Gedanken dazu. Ein wirkliches Meisterwerk.
Anatol und Elie passen jetzt mit DVDs zum Glück besser auf 😉