Verstohlen öffne ich die Wohnungstür. Ich versuche, dabei so wenig Lärm zu machen wie nur möglich. Den Schlüsselbund in der einen Hand, eine große Tüte in der anderen betrete ich die Wohnung. Auf Zehenspitzen versuche ich, das Schlafzimmer zu erreichen, um dort die verdächtige Tüte im Schrank verschwinden zu lassen.
„Du brauchst gar nicht zu schleichen!“ tönt es da aus dem Wohnzimmer. Anatol und Elie sitzen mit versteinerten Mienen am Tisch. „Wir wissen alles. Fridolin hat Dich in der Stadt gesehen – bei Somewhere. Er hat heute dort im Lager gearbeitet – sie haben die neue Kollektion eingeräumt. Ja – wir wissen, was Du getan hast. Was hast Du dazu zu sagen?“
Ich lasse die Tüte zu Boden gleiten und stelle mich dem improvisierten Sauriertribunal. Was habe ich zu sagen? Nicht viel … ich habe mein Gelübde, in diesem Jahr überhaupt keine neuen Klamotten zu kaufen, schändlich gebrochen. Ich habe meine mir selbst auferlegten Minimalismus-Anforderungen nicht eingehalten. Das ist schwach und inkonsequent. Mehr noch: es ist schlecht.
„Anatol, Elie. Ich weiss ja, dass ich das nicht mehr tun wollte. Aber nun wird es Sommer. Ich wollte so gern dieses Leinen-T-Shirt, das ich letztes Jahr nicht mehr gefunden habe, weil meine Größe ausgegangen war. Nun ist es wieder in der neuen Kollektion dabeigewesen. Deshalb habe ich es gekauft.“
„Ach so! Und weil Du ein T-Shirt haben wolltest, hast Du also zwei gekauft. Interessant!“ Anatol klingt messerscharf.
Nun muss ich mich wehren. „Ich habe ein dunkelgraues und ein hellgraues T-Shirt gekauft. Und sie waren nicht teuer! Darf ich daran erinnern, dass ICH hier das Geld verdiene und mir damit immer noch das kaufen darf, was ich möchte?“ Letzteres sage ich mit Nachdruck, um möglichen Weiterungen einen Riegel vorzuschieben.
„Und deshalb darfst Du T-Shirts bekommen – aber ich muss auf ein Tablet verzichten! Das ist so unfair!“ zetert Elie.
„Elie, bitte. Du weisst genau, dass ein T-Shirt bei weitem nicht dasselbe kostet wie ein Tablet!“
„Mit den ganzen T-Shirts, die Du Dir schon gekauft hast, könnte ich mindestens 3 Tablets bezahlen!“ erwidert Elie pikiert.
Ich setze mich zu den Butlern an den Tisch. „Es stimmt. Ich habe mein Versprechen nicht eingehalten. Ich wollte das ganze Jahr kein einziges neues Kleidungsstück kaufen, und nun hab ich es nicht geschafft. Es ärgert mich selbst! Aber ich hab mich im letzten Sommer so gegrämt, weil das schöne graue T-Shirt nicht mehr zu haben war … und deshalb wollte ich es jetzt unbedingt kaufen. Ok, dass ich dann noch den wunderschönen rosa-abricot-farbenen Foulard gekauft habe … das war nicht wirklich nötig. Aber Ihr werdet sehen – er ist phantastisch.“
Die beste Überzeugungsarbeit leistet immer noch die Sache selbst. Ich packe die T-Shirts also aus – und auch den Schal. Nun ändert sich die Tonlage! Anatol murmelt etwas wie „Sieht wirklich nicht schlecht aus“, während Elie sich den Schal schnappt. „Ist der schön!“ ruft er. „Und so weich! Das sind genau meine Farben – darf ich den morgen in den Park mitnehmen? Bitte!“
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Elie. Der Schal ist ganz leicht und fein, mit dem bleibst Du an jedem Busch hängen, und würdest ihn zerreissen. Es wäre sehr schade um den schönen Schal. Aber Du darfst ihn gerne heute Abend umnehmen, wenn Du magst.“
Damit ist Elie einverstanden.
Ich bin erleichtert. Die Butler haben sich schneller einsichtig gezeigt, als ich es gedacht hätte. Nun muss ich nur noch mit meinem eigenen Gewissen klarkommen – wegen des Bruchs meines Minimalismus-Gelöbnisses.
Muss man, wenn man minimalistisch leben möchte, wirklich auf jedes T-Shirt verzichten? Vermutlich schon. Es ist schlecht für die Umwelt, neue Klamotten zu kaufen – und oft ist der Kleiderschrank ja sowieso schon übervoll. Wozu so viel Kleidung …?
Es baut einfach auf, ab und zu mal etwas Neues zu erstehen. Vielleicht ist es mit einem gemäßigten Minimalismus zu vereinbaren, wenn man nur das Nötigste kauft – und sich nur sehr selten eine neue Klamotte gönnt. Ich hoffe das.
Denn über meine beiden T-Shirts und den wundervollen Schal freue ich mich. Minimalismus hin oder her – sie tun mir einfach gut.
Ob ich den Rest des Jahres nun kauffrei überstehe? Wir werden sehen.
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