Eine Reiseerzählung – Teil 3: Das alte Schloss

Foto: Axel Hindemith / Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de
Stirnrunzelnd sehe ich Anatol an. „Die Bezeichnung ‚verkehrstechnisch nicht gut angebunden‘ ist für diesen Gasthof ein Euphemismus!“ schimpfe ich. „Wie soll es nun weitergehen? Ich jedenfalls sehe hier keinen Fahrradweg!“
Elie bemerkt, man könne etwas tiefer im Wald eine Art Fährte erahnen. Bei näherem Besehen stellt sich diese als ein vom Unterholz nicht gänzlich überwachsener Pfad heraus, auf den der Pfeil tatsächlich zu zeigen scheint.
Ich frage mich, wann die letzten Besucher diesen Pfad wohl genutzt haben müssen? Anatol meint, der Gasthof sei sicher noch aus anderen Richtungen zu erreichen – dies könne unmöglich der einzige Weg zum „Alten Schloß“ sein.
Leise fluchend schiebe ich das Fahrrad durchs Dickicht. Der Pfad erlaubt es an manchen Stellen tatsächlich, zu fahren – dann wieder ist das Unterholz zu dicht und wir müssen absteigen. Hier und da sind weitere Pfeilschilder „Zum alten Schloß“ angebracht, allerdings ohne eine Angabe der noch vor uns liegenden Strecke.
Die Dämmerung beginnt, sich über den Wald zu legen. Ich schreie mein Unbehagen lauthals heraus. „Wo zum Teufel sind wir hier?! Anatol, was hast Du uns eingebrockt mit dieser Reise!“
Der Saurier sitzt beschämt im Fahrradkorb und studiert die von ihm kürzlich noch so belächelte Karte. Dann lässt er die Karte sinken und gibt zu: „Ich habe keine Ahnung, wo es hier langgeht. Es tut mir so leid!“ Dann treten ihm die Tränen in die Augen.
Verzweiflung steigt in mir hoch. Wir sind kilometerweit von jeder Straße und Siedlung entfernt, das Dickicht hält uns fest umschlossen. Das Fahrrad ist kaum noch voranzubringen, der Rucksack wird schwerer und schwerer. Überflüssig zu erwähnen, dass es keinerlei Funkverbindung gibt. Die einzige positive Nachricht ist, dass es mit 25°C noch sommerlich warm ist – erfrieren werden wir also nicht.
Plötzlich ruft Elie: „Guckt mal da! Schimmert da nicht ein Licht durch die Bäume? Das ist doch bestimmt der Gasthof… oder?“
In der Tat scheint sich mehrere hundert Meter entfernt eine Art Gehöft zu befinden. Wie erlöst eilen wir auf das Gebäude zu. Schließlich stehen wir vor einem uralten Gemäuer – allein die Grundmauern und eine einzige Wand, auf der oben ein paar wegbröckelnde Zinnen stehen, sind noch vorhanden. Dies muss das „Alte Schloß“ sein. Hier lebt niemand.
Wo war das Licht, das Elie gesehen hatte? Nun erst fällt uns auf, dass etwas abseits von dem Gemäuer sich ein stattliches Anwesen mit hell erleuchtetem Eingang und hohen Sprossenfenstern befindet. Mir ist schleierhaft, dass wir es erst jetzt bemerken – der Wald im Katzenstein muss ungewöhnlich dicht sein.
Ein älterer Herr, der offenbar bis jetzt auf einer Bank vor dem Anwesen gesessen und die nun abendlich angenehmen Temperaturen bei einer Pfeife genossen hatte, kommt auf uns zu.
„Seien Sie willkommen in meinem Haus, junge Dame!“ Zuvorkommend nimmt er mir den mittlerweile unerträglich schwer gewordenen Rucksack ab. Darauf, dass ich strenggenommen keine „junge“ Dame mehr bin, weise ich den Herrn nicht hin.
„Sie haben den beschwerlichsten Weg gewählt, um zu uns zu kommen, junges Fräulein. Seit Jahrzehnten ist dort niemand mehr entlanggegangen. Unsere Besucher kommen für gewöhnlich aus dieser Richtung.“ Er zeigt auf einen gepflasterten Weg vor dem Haus, der zu einer Klippe führt, welche mindestens 30 Meter steil in die Tiefe abfällt. Eine offenbar ins Gestein eingemeißelte Treppe windet sich bis zum Fuße der Klippe hinunter. Am unteren Treppenabsatz erkennen wir eine schmale Straße, welche Reisende in kurzer Zeit bis nach Waldeck in die eine und nach Nieder-Werbe in die andere Richtung bringen dürfte. Von der Straße aus scheint der Gasthof gar nicht sichtbar zu sein – und offenbar legt man darauf auch keinen Wert: ein Hinweisschild auf die Gaststätte ist unten an der Straße nicht zu sehen.

Photo Andreas Eichler, Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International
Auf der Klippe hat man einen atemberaubenden Blick über den gesamten Edersee: das Panorama ist überwältigend. Für einen Augenblick stehe ich wie verzaubert am Abgrund und bewundere den Ausblick. Eine Bemerkung des älteren Herrn (ob es sich bei ihm wohl um Herrn von Hollow, an den wir das Geld überwiesen haben, handelt?) reisst mich aus meinen Träumereien.
„Mit dem Fahrrad – und auch ganz allgemein – ist die Treppe natürlich ein schwer zu überwindendes Hindernis. Übrigens gilt dies nicht nur für die Ankunft, sondern auch für die Abreise aus unserem Haus. Schon manche unserer Gäste sind bei der Abfahrt auf dieser Treppe zu Schaden gekommen. Sie sollten es bei Ihrer Abreise nicht zu eilig haben, junge Dame.“
Während ich mich noch frage, ob dies als freundlich gemeinte Warnung oder aber als Drohung aufzufassen sei, fährt der ältere Herr fort: „Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Heinrich von Hollow. Das Anwesen „Zum alten Schloß“ ist seit Jahrhunderten im Besitz der Familie von Hollow. Ich bemühe mich, meinen Gästen das Leben auf Gut Hollow so angenehm wie möglich zu machen – so angenehm, dass sie am liebsten gar nicht mehr abreisen würden!“
Ich stelle mich ebenfalls vor und versichere unserem Gastgeber, dass der Aufenthalt mir bereits jetzt sehr gut gefalle. Dann frage ich Herrn von Hollow, ob mein Zimmer denn schon fertig sei? Ich sei nach der langen Reise recht müde und würde mich vor dem Abendessen gern umkleiden und auch ein wenig ausruhen.
„Wie unaufmerksam von mir! Aber natürlich, Ihr Zimmer wartet bereits auf Sie. Kommen Sie, hier entlang… Ihr Fahrrad stellen wir in den alten Pferdestall; ich würde Ihnen raten, es während des Aufenthaltes gar nicht mehr zu nutzen – die steile Treppe werden wir es kaum heruntertragen können, befürchte ich – Sie würden sich in Gefahr begeben, dabei verletzt zu werden oder auf der Treppe zu stürzen.“
Ich nicke. Insgeheim behalte ich mir jedoch vor, das Fahrrad mit Hilfe der Saurier gleich morgen früh doch über die Treppe auf die unten gelegene Straße zu bugsieren und dann an der Straße an einen Baum anzuschließen. So wären wir mobiler und am Seeufer nicht darauf angewiesen, gar noch ein Fahrrad mieten zu müssen.
Dies sage ich aber Herrn von Hollow nicht, da ich nicht will, dass er sich verpflichtet fühlt, mir dabei behilflich zu sein.
„Wollten Sie nicht zwei Haustiere mitbringen?“ fragt unser Gastgeber. „Uns sind selbstverständlich auch Ihre vierbeinigen Begleiter willkommen.“
„Sie sitzen im Fahrradkorb“ kläre ich Herrn von Hollow auf. Wie auf Kommando stecken die beiden Butler ihre Köpfe aus dem Korb – so brav wie selten guckend.
„Basilisken!“ ruft Herr von Hollow bewundernd aus. „Zwei Kinder der Dunkelheit – faszinierend!“
„Was meint der denn?“ flüstert Elie verzagt. „Keine Bange,“ meine ich. „Ich glaube, der gute Mann ist ein wenig überspannt – vielleicht wird man so, wenn man lang auf einem so abgelegenen Anwesen lebt?“
Herr von Hollow ist vorgegangen; er zeigt uns erst den Stall, den er gewissenhaft verschließt, nachdem er mein Rad dort sicher untergebracht hat. Ich merke mir genau, an welchen Haken er den Schlüssel hängt, damit ich später nicht danach fragen muss.
Dann bringt Herr von Hollow uns in unser Zimmer – dies ist das sogenannte Turmzimmer, hoch über dem Anwesen und nur über eine winzige Wendeltreppe zu erreichen, die bis fast in den Himmel führt, wie uns beim Aufstieg erscheint.
Das Turmzimmer ist sehr ansprechend eingerichtet. Unter dem Fenster, in das die Äste der alten Buche, die im Schlosshof steht, fast hineinragen, steht ein gemütliches, altmodisches Kastenbett, an der Wand rechts neben dem Bett eine antike Kirschholzkommode. Links scheint eine kleine Tür zum Badezimmer zu führen. Ein hübscher Knüpfteppich taucht das Zimmer in angenehme Rottöne.
Mitten auf dem Bett liegt zusammengeringelt und wohlig schnurrend eine kleine, braungetigerte Katze.
Als ich die Hand ausstrecke, um die Katze zu streicheln, stößt Herr von Hollow einen unterdrückten Wutschrei aus. „Ist das verwünschte Untier doch wieder hereingekommen!“
Die Katze springt leichtfüssig auf die Fensterbank. Von dort aus ist sie mit einem Satz in der großen Buche. Als sie sich kurz zu uns umdreht, bevor sie im Geäst des Baumes verschwindet, blinzelt sie mir freundlich zu – dann ist sie nicht mehr zu sehen.
Ich drehe mich zu Herrn von Hollow um und versichere ihm, dass die Katze bei mir jederzeit willkommen sei. Auch meine beiden „Basilisken“ seien durchaus Katzenfreunde. Ich bäte ihn darum, die Katze nicht mehr zu verjagen.
Von Hollow geht darauf nicht ein. Plötzlich kurz angebunden teilt er uns mit, dass das Souper in einer dreiviertel Stunde unten auf uns warten würde. Alles weitere würde er uns dann erklären, so auch die „Kleiderordnung“ für das morgige Fest. Dann lässt er uns allein.
„Kleiderordnung?“ frage ich konsterniert. „Was soll denn das?“
Anatol druckst ein wenig herum, dann rückt er mit der Sprache heraus. „Auf der Webseite stand etwas von einem großen Kostümfest morgen Abend. Dafür solle man entsprechend gekleidet sein. Das Fest wird im Stil der Jahrhundertwende ausgestattet sein – man soll Mode der Jahre 1900 bis 1914 tragen. Ich habe Dein weisses Chiffonkleid und die Onyxkette eingepackt. Damit solltest Du gut angezogen sein, auch wenn es eigentlich eher den zwanziger Jahren zuzuordnen ist. Aber das ist sicher nicht so schlimm. Herren erscheinen im Ausgeh-Anzug der Epoche. Für Elie und mich habe ich daher je eine weisse Fliege vorgesehen.“
Ich bin sprachlos. Das Biest hat die Unterkunft am „Alten Schloß“ offenbar nur gebucht, weil es an einem historischen Kostümfest teilnehmen wollte – und uns deshalb über Stock und Stein durch den Wald gejagt. „Ferien am See“ sind anscheinend vollkommen nebensächlich für die Wahl des Orts gewesen!
Verschämt gibt Elie zu, dass er auch auf die Kostümparty wollte. Schließlich habe ich gesagt „Ihr dürft Euch die Ferien aussuchen, die Ihr wollt!“ – jetzt könne ich mich nicht beschweren.
Seufzend gebe ich den Sauriern Recht. Ich muss mir wohl das Kostümfest der Jahrhundertwende antun … nun, es gibt Schlimmeres.
Das Souper im sogenannten Rittersaal verläuft ohne Vorkommnisse – Herr von Hollow bedient uns mit Rücksicht auf die vorgerückte Stunde (es ist bald Mitternacht) höchstpersönlich. Die leichte Verstimmung wegen der Tigerkatze scheint vergessen. Stattdessen lobt Herr von Hollow die Ausflugsziele am See, die wir morgen aufsuchen wollen, in den höchsten Tönen. „Wenn Sie die Treppe zur Straße hinabsteigen und dann kurz links und gleich wieder geradeaus gehen, sind Sie nur 50 Meter vom Seeufer entfernt. Etwa 200 Meter weiter westlich gibt es einen Bootsverleih. Ich wünsche Ihnen morgen einen schönen Tag! Und vergessen Sie nicht unser Fest – es beginnt schon um 18 Uhr.“
Als wir die Treppe zum Turmzimmer müde erklimmen, ist es weit nach Mitternacht. In der alten Buche sitzt mit funkelnden Augen die Tigerkatze.
Bald fallen wir in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
magguieme says
Ich bin ja froh, dass ich nicht auf die Fortsetzung warten muss! Gruselige Töne, die hier klingen…