Eine Reiseerzählung – Teil 6: Die Flucht

„Blick auf den morgendlichen Edersee vom Waldecker Ufer aus“
Photo: Jan Kuchenbecker
Lizenz: CC-by-sa 3.0/de
Bang sahen wir – Elie und ich, Anatol, der ich diese Zeilen schreibe – in die Augen der Tigerkatze. Sie war unsere einzige Hoffnung, aus unserem Gefängnis zu entkommen – hatte sie uns doch in die Bibliothek hineingeführt und uns, wenn auch ohne Worte, erklärt, mit welch mächtigen Gegenspieler wir es hier zu tun hatten.
Die Katze erklomm in Windeseile eines der Bücherregale. Fast unter der Decke der Bibliothek angekommen sah sie sich nach uns um. Wir sollten ihr nachkommen – wir kletterten daher so schnell es uns möglich war, ein Regalbrett nach dem anderen, hinan … bis wir in schwindelerregender Höhe das letzte Regalfach erreicht hatten. Nun sah ich, warum die Katze uns hierhin geführt hatte: über dem Regal führte eine winzige Luke nach außen – was bedeutet: an die Außenwand des Anwesens. Ich steckte meinen Kopf aus der Luke und wurde von Schwindel erfasst: hier ging es meterweit an einer glatten Wand in die Tiefe. Ein Abstieg war hier unmöglich.
Über der Luke indessen erspähte ich außen an der Wand eine in das Gemäuer eingelassene eiserne Halterung. Mit dem Mute der Verzweiflung ergriff ich sie und zog mich hoch. Innerlich jubilierend sah ich etwas weiter oben noch eine Halterung, gleichsam eine winzige metallene Trittleiter – an dieser zog ich mich Stück für Stück nach oben, bis ich auf einem balkonartigen Fenstervorsprung im vierten Stock angekommen war. Das Fenster war nur angelehnt – ich konnte also in das Zimmer (es erwies sich als das große Bad unter unserem Turmzimmer) hineinspringen: ich war in Sicherheit. Nein, fiel mir ein: in Sicherheit war ich erst, wenn ich das grauenhafte Spukschloss lebendig hinter mir gelassen hätte – und davon war ich weit entfernt.
Ich lief nach oben in unser Turmzimmer: alle unsere Sachen lagen dort unberührt noch am Platz. Von Hollow hatte hier offenbar nichts verändert – vielleicht war er auch nicht mehr im Turmzimmer gewesen. Der lange Schlüssel steckte im Türschloss: ich entschied, dass es den Versuch wert wäre, ihn an der Tapetentür auszuprobieren. Elie an der metallenen Räuberleiter bis in den vierten Stock klettern zu lassen erschien mir ein zu hohes Risiko – und für die Katze wäre es ganz und gar unmöglich gewesen.
Nach einem vorsichtigen Blick auf die Wendeltreppe – ich legte keinen Wert darauf, von Hollow zu begegnen! – eilte ich hinunter bis an die Tapetentür. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und versuchte, ihn zu drehen – er passte nicht. Vor Verzweiflung hätte ich am liebsten geschrieen – aber das hätte uns verraten. Voller Wut riss ich daher am Schlüssel herum – da platzte das ganze rostige Schloss, welches den kleinen Riegel hielt, ab – und die Tür sprang auf.
Elie und die Katze waren indessen von dem hohen Regal heruntergeklettert und warteten hinter der Tür. Elie wirkte gefasst, wenn auch voller Angst.
Ohne eine weitere Geste sprang die Katze die Treppe hinunter und lief durch die große Tür in den Schlosshof. Wir stürzten ihr hinterher – aber wir kamen zu spät: flugs war die Katze in die alte Buche geklettert und saß nun, sich putzend, auf ihrem Lieblingsast. Von uns nahm sie keine Notiz.
„Elie, die Katze kann uns nicht weiter helfen. Das sagt sie uns gerade. Sie hat uns bis hierher alles gezeigt, was wir brauchen, um uns aus diesem Spuk zu befreien – von jetzt an sind wir auf uns gestellt.“
Elie schluchzte leise auf. „Wir müssen doch Susanne retten! Wie tun wir das bloß?“
Ich erinnerte mich an den Reim, der in dem Märchen vom Müller und seiner Tochter gestanden hatte. Wie lautete er noch?
In Fluten muss sie untergehn
nimmermehr an Lande stehn
Wenn nicht des Buchenwaldes Meisters
verblühte Blumenpracht sie streifet.
Dies war allerdings äußerst unklar. Wer war der „Meister des Buchenwaldes“? Ein Waldgeist vielleicht? Wo fanden wir ihn? Und was sollte man sich unter einer „verblühten Blumenpracht“ vorstellen? Ratlos sahen wir uns an.
Nun kam die Katze doch von ihrer Buche herunter geklettert und gurrte uns zu. Sie sprang vom untersten Ast der Buche in das am Fuße des Baums relativ dicht wachsende Gesträuch und begann, an den Blättern des Strauchs zu knabbern.
Nun sprang Elie aufgeregt auf und ab. „Ich glaub mir fällt was ein! Wir haben das bei Frau Maier in Biologie gelernt, dass der Waldmeister – also die Pflanze, aus der das leckere Eis ist – in Buchenwäldern wächst! Es gibt sogar einen Waldmeister-Buchenwald! Der Reim sagt, wir sollen Waldmeister sammeln!“
Dann fügt er beklommen hinzu: „Aber jetzt im August blüht der Waldmeister nicht mehr. Die Blüte ist Ende Mai, spätestens im Juni vorbei. Hat uns Frau Maier extra gesagt …“
Nun fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Verblühte Blumenpracht – das ist der abgeblühte Waldmeister! Wir müssen eine Waldmeisterpflanze finden, die nicht mehr blüht, und Susanne damit übers Gesicht streichen!“
Aufgeregt gurrend und schnurrend lief nun die Tigerkatze in Richtung Wald – an dem alten Gemäuer vorbei, welches wir bei unserer Ankunft als erstes gesehen hatten und dann in das Dickicht des Waldes. Wir folgten ihr, so gut wir nur konnten. Schließlich standen wir vor einem Meer leicht aromatisch duftender halbhoher Pflanzen – es gab keinen Zweifel: dies war Waldmeister.
Elie und ich pflückten je zwei Handvoll Waldmeisterstengel mit Blättern und dem abgeblühten Blütenstand. Dann rannten wir, so schnell uns unsere Beine trugen, zum Gasthof zurück.
Es war indessen Abend geworden. Langsam breitete die sich Dämmerung über den Schlosshof, dessen bizarre Schatten uns nun mit Grauen erfüllten. Würden wir Susanne wiederfinden? Und wo? Elie meinte, wir sollten uns zur selben Zeit in den Ballsaal begeben, zu der am gestrigen Tag das Fest stattgefunden habe. Feste wie das von gestern dauerten bisweilen mehrere Tage – darauf müssten wir hoffen.
Dann kletterten wir die steile Klippe hinab bis zum Seeufer und bereiteten unser Fahrrad für eine Flucht – sollte es denn zu einer solchen kommen – vor. Ach, wenn wir doch aus diesem Spukhaus unversehrt und alle miteinander entweichen könnten!
Tatsächlich drangen, als wir uns etwas später wieder dem Schloss näherten, aus dem Ballsaal Musik und Gelächter. Vorsichtig betraten wir den Saal, der heute genau so festlich ausgestattet war wie gestern…
Wo ist Susanne? Bang lassen wir unserer Blicke durch den Saal schweifen – immer auf der Hut vor dem unheimlichen von Hollow, hinter dem wir den Wiedergänger vermuten.
Da! Auf der Tanzfläche erblicken wir Susanne, mit einem der jungen Herren tanzend. Wie nur kommen wir unbemerkt an sie heran – mit unserem Strauß Waldmeister in Händen? Während wir noch überlegen, entfernen sich die beiden Tänzer von der Tanzfläche – der junge Mann scheint auf eine Tür an der anderen Seite des Saals zuzusteuern, seine Tänzerin an der Hand führend …
Es ist nun keine weitere Sekunde zu verlieren. In höchster Aufregung durchqueren wir den Ballsaal und erreichen unser Tänzerpaar, kurz bevor die beiden durch die Tür nach draußen schlüpfen können. In diesem Augenblick hat uns von Hollow, der aber am anderen Ende des Saals sich befindet, entdeckt – voller Wut eilt er ebenfalls auf uns zu!
Elie ruft: „Susanne, geh nicht mit ihm mit! Susanne!!“ Anstatt ihr mit dem Waldmeisterkraut sanft übers Gesicht zu streichen, schlagen, ja peitschen wir mit den Zweigen auf sie ein. Susanne wendet sich von ihrem Tänzer ab, reibt sich das Gesicht … verwundert sieht sie uns an…“
Wie aus einem Traum erwache ich… Vor mir sehe ich den betörenden jungen Mann, der mich offenbar zum Tanz aufgefordert hatte … aus der Ferne höre ich meinen Namen rufen, immer wieder … Der junge Mann wirft mir einen wehmütigen Blick zu, dann scheint er durch die Wand hindurchzutreten – und ist verschwunden.
Nun sehe ich Anatol und Elie vor mir, Zweige in der Hand … was soll das…? Anatol ruft: „Wir müssen hier weg! Lauf!!“ und nun sehe ich einen offenbar in Rage geradezu schäumenden von Hollow auf uns zulaufen. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich keine klare Erinnerung an die letzten 24 Stunden habe und sich mir alles dreht. Drogen – man muss mich unter Drogen gesetzt haben!
Die Saurier ziehen mich mehr aus dem Saal heraus als ich selbst zu laufen vermag – die hintere Tür führt direkt zur Klippe. Der Abgrund scheint mir heute noch steiler und bedrohlicher als sonst – und plötzlich wird mir klar, warum von Hollow uns auf übereilte Abschiede gewisser Gäste hingewiesen hatte, die zu keinem guten Ende gekommen waren…
Die Treppenstufen bröckeln unter unseren Schritten weg, wir rutschen die Treppe mehr herunter als wir sie hinuntersteigen. Als wir auf der Straße angelangt sind, sehen wir von Hollow oben an der Klippe vor Wut brüllend und mit ausgebreiteten Armen wie eine riesige Fledermaus sich hinunter in die Tiefe stürzen! Einen derartigen Fall kann er nicht überleben – mein erster Reflex ist es, zum Treppenabsatz zurückzukehren und mich um den Verletzten zu kümmern.
Anatol schreit mit überschnappender Stimme: „Er ist nicht verletzt, er kommt uns holen! Lauf!!“ Wir rennen wie um unser Leben bis zum Ufer. Dort sehe ich das Fahrrad auf ein kleines Tretboot geschnallt – unser Fluchtfahrzeug? Ich verstehe nicht, was hier los ist, laufe aber durch das flache Wasser bis zum Tretboot, die Saurier im Arm haltend. Dann springe ich ins Boot, steige auf das Rad, welches wunderbarerweise mit der Kurbelmechanik des Bootes verbunden ist und trete, so fest ich kann, in die Pedalen.
In diesem Moment taucht eine dunkle Gestalt aus den Fluten vor dem Boot auf: von Hollow! Die Saurier schreien vor Angst laut auf – ich radle, was das Zeug hält. Der Geist – etwas anderes kann die Erscheinung im Wasser nicht sein! – schickt sich an, das Boot in die Tiefe zu ziehen! Mit aller Kraft versuche ich, dem teuflischen Geschöpf zu entkommen, aber der Bug des Bootes ist bereits von dem Geist unter die Wasseroberfläche gezogen.
Nun besinnen sich die Saurier ihres Waldmeisters – sie zupfen Blätter von den Zweigen und werfen sie ins Wasser um unser Gefährt. Das Gespenst heult laut auf – und verschwindet in den Tiefen des Sees.
Nach Atem ringend und vor Angst zitternd gleiten wir in unserem Gefährt über den nächtlichen See. Die Flucht über das Wasser ist riskant, die Waldwege und die unbefestigte Straße am Ufer war den Sauriern indessen noch gefahrvoller erschienen. Daher hatten sie sich entschlossen, ein Boot als Fluchtfahrzeug klarzumachen.
Nach und nach erzählen sie mir atemlos, was sie in den über 24 Stunden, in denen ich bewusstlos gewesen war, erlebt hatten. Aber war ich wirklich ohne Bewusstsein gewesen? Klare Erinnerungen habe ich keine. Ein vager Eindruck von angeregten Unterhaltungen in angenehmer Gesellschaft, Champagner und Tango bleibt – nicht anders jedoch als an einen verblassenden Traum…
Als wir im Morgengrauen in Waldeck am Steg des Gasthof „Seeblick“ anlegen, fallen uns die Augen zu.
Bevor wir auf den am Strandufer für die Gäste bereitgestellten Liegestühlen einschlafen, um Kraft für den Rückweg nach Hause zu sammeln, sehen wir auf dem hölzernen Landesteg eine kleine braungetigerte Katze stehen, die uns freundlich zublinzelt.
Ende
magguieme says
Das ging ja gerade noch einmal gut.
Eine wunderbare, fesselnde und gekonnt geschriebene Urlaubsgeschichte.
Gerade bin ich froh, dass von unseren Plänen „nur noch“ Besuche bei Freunden übrig geblieben sind!
majorneryz says
Danke Dir 🙂 es war wirklich schauerlich, und wir werden es uns nun dreimal überlegen, wo wir hinfahren – WENN wir noch mal wegfahren. Erst mal sind wir von Ferienfahrten „geheilt“ 😉
magguieme says
Das kann ich mir gut vorstellen!
Fasziniert bin ich von der sprachlichen Varianz – du hast ein großes Talent!
majorneryz says
Jetzt werde ich gerade ganz rot … tausend Dank für Deine lieben Worte, gerade von Dir bedeuten sie mir sehr viel! Ich lese so gern in Deinen Blogs, denn ich liebe und bewundere Deinen Schreibstil. Ich danke Dir!
magguieme says
Hui! Das kommt nun auch unerwartet 🙂
Habe ich das richtig im Kopf, dass du an etwas Schriftlichem arbeitest? Das liegt dir jedenfalls!
majorneryz says
Im Blog arbeite ich des öfteren an einer in der Realität leider noch imaginären Novelle 🙂 Im Blog kann man ja seinen Traumvorstellungen nachgehen – das ist das Schöne dabei.
Aber vielleicht erfülle ich mir ja wirklich einmal diesen lang gehegten Wunsch …
magguieme says
Da im nächsten Urlaub nicht weggefahren wird, könntest du ihn dafür nutzen.
Ich werde mit den Dinos in diese Richtung sprechen, die haben da ja auch ein wenig Gestaltungsmöglichkeiten 🙂
Schreiben kannst du jedenfalls und ich träume auch schon von dieser Novelle!
majorneryz says
Anatol und Elie freuen sich grad schon sehr, das mit Dir abzusprechen 🙂 da wird getuschelt und gezischelt – ich soll es offenbar nicht hören, was da so alles in Planung ist ^^
magguieme says
Da hoffe ich, dass die Ideen für die Novelle in deinem Kopf (oder Herz) auch schon tuscheln und zischen – das Drumherum wird für dich geregelt 🙂
majorneryz says
🙂