Mittagessen bei Dreher
Anatol ist langweilig. Seit heute früh quengelt er vor sich hin. „Was unternehmen wir heute?“ fragt er gerade zum fünften Mal.
„Siehst Du!“ triumphiert Elie. „So ist das, wenn man nichts geplant hat! Über kurz oder lang wird es öde! Wie gut, dass ich nachher mit Anna einen Ausflug mache.“ Neidisch schielt Anatol auf den gepackten Rucksack, den Elie schon an die Tür gestellt hat. Dann weint er los. „Und was machen wir jetzt? Du hast was von ‚großer Freiheit‘ erzählt – aber jetzt ist es einfach nur langweilig!“
Ein untauglicher Versuch, Anatol zu erklären, dass „Freiheit“ eben auch heißt, dass man nicht immer beschäftigt ist, endet im Verzweiflungsgeheul Anatols. Auch der Hinweis darauf, dass der Keller noch darauf wartet, ausgeräumt zu werden, kann ihn nicht beruhigen.
Ich entschließe mich zum Äußersten. „Dann fahren wir heute nach Kehl zu Dreher. Dabei können wir nach der Tastatur für das Tablet gucken und bei dm ein paar Sachen kaufen. Mittags essen wir bei Dreher Salat und Pflaumenkuchen.“
Auch wenn dieser Plan laut Anatol „nicht der Hit“ ist, vermag er zumindest dem lauten Geheul des Sauriers Einhalt zu bieten. Um 10 Uhr 30 begeben wir uns daher auf die Reise nach Kehl – fröhlich pfeifend auf dem Fahrrad, bei gerade noch erträglichen 26°C.
Um 11 Uhr sind wir – ob der Hitze in Auflösung begriffen – beim Computerladen in Kehl. Der freundliche Verkäufer erklärt uns, dass die von uns begehrte Tastatur für unser Tablet in weiß – wenn sie denn überhaupt noch existiert – bestellt werden müsste. Um letzteres bitten wir. Der Verkäufer verspricht, alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Tastatur zu beschaffen – versprechen könne er aber nichts. Derlei „Zubehör“ veralte schnell und könne dann kaum noch aufgetrieben werden. Dies wundert mich, scheint die Tastatur doch ein regelrechter Standardartikel zu sein. Jedoch war uns bereits in Strasbourg im Apple Store gesagt worden, dass die deutsche Tastatur, die wir benötigen, nicht bestellbar sei.
Beklommen verlassen wir das Ladenlokal. Es wäre ärgerlich, wenn es die Tastatur nicht mehr gäbe. Der Verkäufer verspricht uns, gleich anzurufen, sobald er das ersehnte Gerät fände.
Es ist zwar erst 11 Uhr 30, die Hitze ist aber schon jetzt geradezu unerträglich geworden. Wir entschließen uns, gleich bei Dreher, unserem liebsten Ausflugsziel, einzukehren und dort die schlimmste Mittagshitze abzuwarten. Der Saurier will sofort eine Cola – das kann ich ihm einfach nicht abgewöhnen. Dazu gibt es einen leckeren Salat.
Verstohlen nippt der Butler an seiner Cola. Er möchte lieber nicht gesehen werden und versteckt sich daher im Rucksack. Von dort aus beobachtet er das Lokal. Sofort hat er mit seinen scharfen Stegosaurieraugen den Pflaumenkuchen erspäht. „Du, hier gibt es den tollen Kuchen! Den will ich als Nachtisch!“ kräht er aus dem Rucksack heraus.
Die liebenswürdige Bedienung dreht sich um und sieht mich verwundert an. „Ich bring Ihnen den Kuchen gleich – Sie brauchen nicht zu schreien…“ Ich laufe dunkelrot an, murmele eine Entschuldigung und versetze dem Rucksack einen etwas festeren Schlag. „Au!“ schreit es aus dem Rucksack. Ich sehe, wie die beiden Serviererinnen miteinander tuschelnd zu mir herüberschielen. Ostentativ hole ich mein Handy hervor, schwenke es und erkläre mit fester Stimme, so dass es auch die Kellnerinnen hören „Da muss mir schon wieder jemand den Klingelton verstellt haben!“
Dann zische ich wütend in den Rucksack: „Noch einmal so ein Aufstand, und es gibt keinen Pflaumenkuchen!“ Bockig und mit verdicktem Kopf (ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Saurier schmollt) sitzt Anatol im Rucksack. Als der Pflaumenkuchen serviert wird, lehnt er ihn ab. „Ich bin Dir ja sowieso egal“ erklärt er mit erstickter Stimme. „Dann will ich auch keinen Kuchen.“
Das hatte gerade noch gefehlt. Ein heulender Anatol im Rucksack, dazu der schöne, eben servierte Pflaumenkuchen – und keine Möglichkeit, diskret das Lokal zu verlassen. Mein Zuspruch, dass ich nichts dafür könne, wenn Tiere jeglicher Art in Bäckereien und Restaurants keinen Zutritt hätten und dass nicht ich es sei, die den Saurier zur Rucksackhaft verpflichtete, hat einen Schwall von Vorwürfen zur Folge.
„Dann denk Dir irgendwas aus, damit ich hier rauskann! Ich will nicht weiter eingesperrt sein. Das schlägt aufs Gemüt!“ – „Da gibt es nichts auszudenken, Anatol. In eine Bäckerei darf man keine Haustiere mitbringen, weder Hunde noch Katzen noch Dinosaurier. So ist das nun mal. Manche Menschen haben vor Tieren Angst oder ekeln sich sogar davor. Daran kann ich nichts ändern, so leid es mir tut.“
„Ja, und ich ekele mich vor manchen Menschen! Trotzdem dürfen sie in die Bäckerei. Das ist ungerecht!“ Schmatzend macht sich der Saurier jetzt glücklicherweise daran, den Pflaumenkuchen zu vertilgen – von neugierigen Blicken abgeschirmt durch unseren Fahrradkorb.
Ich sehe ein, dass die Ferien für Anatol nun doch langweilig werden, und dass die uns bevorstehenden zwei Wochen zur Hölle werden könnten, wenn ich den Butler nicht beschäftige.
Entgeistert höre ich mich sagen „Vielleicht sollten wir einen Ausflug übers Wochenende machen… was meinst Du, Anatol?“
Anatol ist so perplex, dass er mich nur mit großen Augen und offenstehendem Mund anstarrt. Dann klatscht er seine Kuchengabel in die Schlagsahne auf dem Pflaumenkuchen, dass es nur so spritzt, und schreit: „TOLL!“
Über das, was dann folgt, breiten wir den Schleier der Barmherzigkeit.
Bei Dreher können wir uns so bald nicht wieder blicken lassen.
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