79. Kapitel – Auf der Suche

Zwei furchtbare Tage und Nächte liegen hinter uns. Anatol hat viel geweint, gewütet… dann wieder sich selbst als den Alleinschuldigen bezichtigt.  Geschlafen hat er gar nicht.

Heute Nacht – es ist bereits nach 23 Uhr – beginnt er langsam, den Diebstahl seines geliebten Fahrrads zu verarbeiten.

Elie meint, Anatol müsse aufhören, sich die Schuld an dem Unglück zu geben. Denn selbst wenn er das Rad an diesem Wochenende abgeschlossen hätte – vielleicht hätte er es in zwei Wochen doch einmal aufgeschlossen im Keller gelassen. Schuld an dem Diebstahl sei in allererster Linie der Dieb – und dann auch der hirnverbrannte Nachbar, der einfach behauptet hatte, das Fahrrad „gehöre zum Haus“ und dürfe frei entliehen werden.

Zudem gebe es möglicherweise ja doch noch Hoffnung: Anatol hatte das Rad gravieren und registrieren lassen. Gemeldet sei der Diebstahl bereits auf der Webseite von Bicycode, des Strasbourger Vereins gegen den Fahrraddiebstahl – bei der Polizei seien wir auch gewesen, um den Diebstahl anzuzeigen. Mehr könne man nicht tun – Anatol müsse nun etwas Vertrauen in die Ordnungshüter haben und diese ihre Arbeit tun lassen.

Da kennt Elie Anatol allerdings schlecht. Sich auf andere Leute zu verlassen – das entspricht dem misstrauischen Saurier gar nicht.

„Den Teufel werd ich tun!“ grummelt er. „Ich werde mein Rad natürlich suchen! Und wehe, wenn ich da jemanden drauf erwische – den mach ich zur Briefmarke!“

Elie rät, in diesem Fall lieber sofort die Polizei zu rufen. Ich kann dem nur beipflichten. Schließlich sei der Besuch im Hôtel de Police heute recht positiv verlaufen – bis auf die lange Wartezeit.

IMG_2984Anatol und ich waren heute am frühen Abend aufs Kommissariat gegangen, um dort Anzeige zu erstatten. Anatol hatte darauf bestanden, dabei anwesend zu sein – trotz der schlechten Erfahrungen, die der Butler – wenn auch selbstverschuldet – mit der Polizei bereits machen musste.

Als wir eingetroffen waren, hatten schon 10 weitere Personen darauf gewartet, irgendeine Missetat, die ihnen widerfahren war, zur Anzeige zu bringen: Nicht ein einziger Sitzplatz war mehr frei gewesen. Die diensthabende Kommissarin hatte mir freundlicherweise erlaubt, in einem Bereich hinter der Absperrung, der für Publikum normalerweise nicht gedacht ist, Platz zu nehmen. Immerhin hatten wir so nicht stehen müssen. Hier sieht man Anatol, wie er aus dem Rucksack herauslugt. Allzusehr wollte er der Kommissarin dann lieber doch nicht auffallen!IMG_2983

Nach einer schier endlos erscheinenden Wartezeit waren wir endlich in das Dienstzimmer der Kommissarin gerufen worden. Anatol hatte sich bis dahin ruhig verhalten – nun war es um seine Selbstbeherrschung geschehen! Mit einem Satz war er aus meinem Rucksack direkt auf den Schreibtisch der Kommissarin gesprungen, die erschrocken zurückgewichen war. Verärgert hatte sie mir zu verstehen gegeben, dass Haustiere auf der Polizeiwache nicht zugelassen seien!

Anatol war nicht mehr zu bändigen gewesen. Dass es sein Rad sei, um das es hier gehe, hatte er noch laut wettern können – dann war es mir mit einem geübten Handgriff gelungen, das Biest in die Tiefen meines Rucksacks zu verbannen, diesen zu schließen und dann unter die Sitzbank zu schieben.

Entsetzt hatte die Polizeibeamtin wissen wollen, was denn das für ein Tier gewesen sei? Ob es gar gefährlich sei? Ich hatte schnell gesagt, es handle sich um einen defekten Furby, der sich nicht mehr ausschalten ließe. Dies erklärte glücklicherweise auch, warum aus dem Rucksack weiter lautes Fluchen und Zetern drang.

Schnell hatte ich den Verlauf des Fahrraddiebstahls dargelegt, das Fahrrad und seine besonderen Kennzeichen beschrieben – nach nur wenigen Minuten war der Vorgang zu den Akten genommen.

Kurze Zeit später hatte ich mit Anatol auf der Straße vor dem Kommissariat gestanden – eine Ausfertigung der Anzeige in der einen, den zeternden Anatol in der anderen Hand haltend. Erst als ich Anatol versprochen hatte, nun mit ihm durch die Stadt zu fahren und überall nach seinem Fahrrad zu suchen, hatte das Geschimpfe schlagartig aufgehört. Dann hatten wir uns auf die Suche nach Anatols Fahrrad gemacht…

Nun, bald um Mitternacht, haben wir die Suche unterbrochen. Elie hat eine Kleinigkeit zu essen vorbereitet – diese verschlingen wir eben. Anatol will gleich noch einmal los, da er sich spät nachts die meisten Chancen ausmalt, sein Fahrrad wiederzufinden.

Die Fahrradsuche wird langsam aber sicher zur Obsession für den Butler.

Elie nimmt Anatol in den Arm. „Du musst loslassen, Anatol. Dein Fahrrad ist nicht mehr da, und das ist sehr traurig. Ich selbst bin auch ganz deprimiert deswegen. Aber Du kannst es nicht ändern. Vor allem kannst Du nicht erzwingen, dass das Fahrrad zurückkommt… vielleicht hast Du Glück und wir finden es zufällig wieder. Aber ich glaube nicht, dass Du es bei Deinen nächtlichen Suchaktionen wiederfinden wirst. Du kannst vor Müdigkeit schon nicht mehr aus den Augen gucken.“

Anatol laufen wieder Tränen über die Wangen. Er hatte sein Fahrrad über alles geliebt. Aber er sieht ein, dass er heute vor allem eines braucht: Schlaf.

Die Suche wird er nicht aufgeben. „Loslassen“ wird Anatol noch lernen müssen.

Ich habe indessen herausgefunden, dass die Firma Victoria nach mehreren Inhaberwechseln immer noch existiert und weiter hochwertige Fahrräder herstellt. Für morgen nehme ich mir vor, heimlich dort anzurufen und unsere Fahrrad-Misere zu schildern. Vielleicht kann man mir dort weiterhelfen.

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