17. Kapitel – Für Judith

Die Geschichte von der Leberwurst

cropped-cropped-foto.jpgHeute habe ich Anatol und Elie zum Einkaufen in die Stadt geschickt. Gerade mit den Einkaufskünsten meiner beiden Butler bin ich sehr zufrieden: die Haus-Saurier finden sich selbst im dichtesten Getümmel der Fußgängerzone perfekt zurecht und bringen nicht nur alle Einkäufe, sondern auch das Wechselgeld wohlbehalten nach Hause. Immer ist es auf Heller und Pfennig abgerechnet – dafür sorgt Elie, der bei solchen Dingen äußerst genau ist. Ich bin sehr stolz auf die beiden. Hier sieht man sie (links Elie in beige, rechts Anatol in grün).

So sieht es gewöhnlich aus, wenn die Butler vom Einkaufen kommen: die herangeschafften Vorräte werden begutachtet und danach in Windeseile verstaut.

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Natürlich dürfen Anatol und Elie sich bei Görcke, unserem geliebten Tante-Emma-Laden gleich um die Ecke, jedesmal eine Kleinigkeit aus dem Süßigkeitenregal kaufen. Meist suchen sie sich da die leckeren Weingummischlangen für 5 Pfennig – pardon : Cents heisst es ja jetzt – aus. Für jeden gibt es eine oder zwei Gummischlangen : das ist eine angemessene Belohnung für den Einkauf, finde ich. Bis sie zu Hause sind, haben sie die Gummischlangen meist auch schon aufgefuttert.

Heute vormittag sind die beiden mit ihrem Freund, dem Schäfchen Mirko, im Park und spielen, als ich sie bitte, den Einkauf zu übernehmen.

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Mirko will natürlich auch mit in die Stadt. Er ist allerdings nicht immer so vorsichtig und besonnen, aber da Anatol und Elie ja dabei sind, kommt Mirko sicher nicht in Gefahr bei der Einkaufstour. So denke ich jedenfalls.

Sehr lang ist der Einkaufszettel heute nicht, aber es steht eine ganz wichtige Sache drauf : die gute vegane Leberwurst von Klages, dem Feinkost-Bioladen in der Theaterstraße.

Bis zu Klages ist es ein ordentlicher Fußweg. Meist gehen die beiden nebenan bei Görcke einkaufen oder auch mal bis zum Markt, der nicht weit weg ist. Die vegane Leberwurst gibt es aber nur bei Klages. Anatol und Elie zockeln also gleich los – Schäfchen Mirko im Schlepptau.

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Ich bin froh, dass sie mir den Einkauf abnehmen, denn ich habe noch viel zu tun und will eine dicke Akte, die ich von der Arbeit mit nach Hause genommen habe, endlich erledigen. Dabei freue ich mich schon auf das Mittagessen mit frischem Gersterbrot, veganer Leberwurst und Salat, das die beiden nachher servieren werden.

Ein paar Stunden verstreichen: bei der Arbeit merkt man gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht. Plötzlich ist es schon 1 Uhr mittags ! Anatol und Elie hätten längst wieder da sein müssen – ich gerate in Sorge.

Schnell werfe ich meinen Mantel über und setze mich aufs Fahrrad. Der Weg in die Stadt führt durch den Park – aber dort sehe ich weder Elie noch Anatol, noch Mirko. Ich bekomme Angst. Was, wenn jemand meine beiden Butler und Schäfchen Mirko entführt hat? Was sage ich Mirkos Familie?

Auf der anderen Seite des Parks komme ich am Rohnschen Badehaus vorbei zur Stadthalle, wo der Springbrunnen schon fleissig Wasser speit. Ich werfe einen Blick in das Becken – aber dort ist weder ein Dino noch ein Schäfchen zu sehen. Meine Befürchtung, dass hier ein Unfall hätte passiert sein können, bewahrheitet sich glücklicherweise nicht.

Ich fahre weiter. Auf dem um diese Zeit ausgestorbenen Schulhof der Albani-Schule sehe ich ebenfalls keinen Dinosaurier … also weiter hinein in die Stadt. Zunächst muss ich allerdings wieder etwas nach rechts hochfahren, um dort den Zebrastreifen zu überqueren. Und da … auf der anderen Straßenseite, auf dem Mäuerchen direkt vor dem Gesundheitsamt, sehe ich die Bande! Anatol und Mirko hocken vor einem heulenden Elie und reden auf ihn ein. Elie sitzt da wie angewurzelt und will sichtlich nicht weg. Ob er sich wehgetan hat ?

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Schnell fahre ich über den Zebrastreifen und ertappe mich dabei, wie meine erste Regung die ist, sowohl Anatol als auch Elie gewaltig auszuschimpfen, weil ich mir solche Sorgen gemacht habe. Ich unterdrücke das, denn ich bin für eine auch verbal gewaltfreie Haltung von Sauriern. Stattdessen frage ich Anatol nur mit sehr verärgerter Stimme, was das denn solle – ob er denn wisse, dass es schon fast 2 Uhr mittags sei, und dass ich mir Sorgen gemacht habe, was ihnen und Mirko hätte passiert sein könnte !

Anatol ist der Älteste der drei und deshalb natürlich für alles verantwortlich. Aber nicht er, sondern Mirko antwortet mir : « Das tut uns wirklich sehr leid. Aber wir mussten doch bei Elie bleiben. Er will einfach nicht mehr hier weg ! »

Anatol nickt zustimmend. In der Tat sitzt Elie tränenüberströmt auf dem Mäuerchen und macht keinerlei Anstalten, aufzustehen. Er hält das Gesichtchen mit seinen Händen bedeckt, zwischen den Dino-Fingerchen laufen die Tränen hindurch. Elie ist nicht ansprechbar.

Da Mirko sichtlich der Einzige ist, der noch einigermaßen sinnvoll antworten kann (Anatol scheint auch recht mitgenommen zu sein!), wende ich mich direkt an ihn und frage, was denn mit Elie passiert sei.

Mirko äußert unumwunden, dass mit Elie gar nichts passiert sei. Schuld sei nur die falsche vegane Leberwurst. Ich gucke erstaunt – denn wie soll eine vegane Leberwurst erstens falsch und zweitens schuld am Nervenzusammenbruch eines kleinen Dinos sein ?

Mirko kann auch das erklären. Auf dem Hinweg zum Feinkostladen in der Theaterstraße sei Elie noch bester Laune gewesen. An der Wursttheke habe sich Anatol um alles gekümmert, die vegane Wurst ausgesucht, sie einpacken lassen und bezahlt. Sie hätten sich dann gleich wieder auf den Rückweg gemacht, die Theaterstraße hoch, am Theater, am Max-Planck-Gymnasium und am Museum für Völkerkunde vorbei. Anatol und er seien sogar schon an der Stadthalle gewesen, da hätten sie gemerkt, dass Elie fehlte !

Schnell seien sie zurückgelaufen – und hätten Elie auf dem Mäuerchen vor dem Gesundheitsamt sitzend – mit verdicktem Kopf (ein untrügliches Zeichen für sehr schlechte Laune bei Elie) – gefunden. Erst sei Elie nur « beleidigt » gewesen, dann habe er angefangen, bitterlich zu weinen.

Den Grund habe er ihnen sogar noch gesagt : Anatol habe die falsche Leberwurst gekauft, nämlich die feine. Elie möge nur die grobe. Eine echte Katastrophe.

Mirko habe dann vorgeschlagen, schnell zu Klages zurückzugehen und dort einfach noch etwas von der groben veganen Wurst zu holen. Elie habe sofort aufgehört zu weinen ! Jedoch habe ein ein kurzer Blick in das von Anatol verwaltete Portemonnaie gezeigt, dass das noch vorhandene Geld nicht einmal mehr für die kleinste Leberwurst ausreichte.

Daraufhin habe Elie wieder angefangen zu weinen – und seitdem nicht aufgehört.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich nun lachen oder auch weinen soll. Als erste packe ich die ganze Bande zu mir auf Fahrrad und sage Elie, zuhause sei noch ein Rest grobe Leberwurst im Kühlschrank. Den dürfe er ganz allein haben. Schlagartig wird das Weinen eingestellt.

Mirko – der mich hier wirklich sehr positiv überrascht – erklärt Elie, das ganze Drama sei doch leicht zu vermeiden gewesen, wenn er gleich im Laden gesagt hätte « Ich mag aber die feine vegane Leberwurst nicht – kauf‘ doch bitte die grobe! ». Elie nickt. Aber er habe es irgendwie nicht geschafft, das zu sagen. Erst auf dem Nachhauseweg sei ihm klar geworden, wie schlimm es für ihn sei – dass es jetzt eine ganze Woche lang nur die feine Wust geben würde, bevor neue gekauft werden könne. Und dann habe er eben angefangen zu weinen.

Damit es nicht wieder losgeht mit dem Weinen, stelle ich klar : von jetzt an wird immer sofort gesagt, wenn etwas nicht so abläuft, wie man es gerne hätte. Denn zu Anfang ist ja oft noch etwas zu ändern. Anatol, Elie und Mirko finden das eine gute Idee.

Zuhause muss ich Mirkos Verspätung bei seiner Familie entschuldigen – aber zum Glück sind wir ja wohlbehalten zurück, und so bekommen wir keine Schimpfe.

Zum Mittagessen gibt es heute Gemüsesuppe – die vegane Leberwurst wandert erst einmal in den Kühlschrank.

Anatol gibt eben zu, dass er geheult hätte, wenn die grobe Leberwurst gekauft worden wäre.

Göttingen, im Sommer 1979

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